Monika Littau

Die sehende Sintiza


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Graupensuppe zu Mittag. Buchela wünscht sich, sie hätte schon die Strafe des Essensentzugs bekommen. Jeder Löffel ist eine Qual. Die Ochsenhufe rutschen nur schwer die Kehle herunter. Der Teller wird nicht leer. Aber das muss er. Ihr Hals ist eng und tut weh bei jedem Schlucken.

      Unkonzentriert macht sie die Hausaufgaben, wartet darauf, dass gleich ihr Name gerufen wird. »Margaretha, du sollst zur Oberin kommen!«

      Dann die Arbeit. Heute keine Pantoffeln, die ausgestopft werden sollen. Die Mädchen formen Tierfiguren aus Kerzenwachs. Was wie Kinderspiel aussieht, muss ordentlich und nach den ausgegebenen Vorbildern einer Kuh, eines Schafs, einer Ziege, eines Hundes ausgeführt werden. Und während die Kinder ihre Figuren modellieren, liest Schwester Benedicta aus den Legenden des Heiligen Wendelin vor, der ein guter Hirte gewesen ist und viele Menschen zum Glauben gebracht hat. Und weil er die Tiere besonders schützt, sagen die Bauern: »Sankt Wendelin, verlass’uns nie/schirm unsern Stall, schütz unser Vieh.«

      In der kommenden Woche begeht man den Todestag des Heiligen. Dann kommen viele Menschen in die Stadt. Sie kaufen auf dem Markt, ehe sie zur Quelle wallfahrten, kleine Wachs­tiere, die sie später in den Wendelsbrunnen tauchen und zu Hause im Stall zu den Tieren stellen, damit ihr Vieh gesund bleibt.

      Buchela formt ein Pferd. Sie denkt an den Braunen, den ihr Vater zuletzt vor den Wagen gespannt hat, ein ruhiges gutmütiges Tier. Nur wenn sie in größeren Orten mit viel Verkehr gewesen sind, hat er vor Aufregung öfter als gewöhnlich den Schwanz angehoben und seine Äpfel auf das Pflaster platschen lassen. Der Vater hat gelacht und Buchela auch. Geschieht ihnen recht, dass er ihnen auf die Straße scheißt, hat sie gedacht. Sie fährt mit dem Fingernagel über den Schwanz des Wachstieres und versucht die Haarsträhnen anzudeuten. Sie ist so vertieft, dass sie aufschreckt, als Schwester Benedicta sie ruft. Also doch. Buchela stellt ihr Pferd vorsichtig auf den Tisch und geht mit hängendem Kopf nach vorn.

      »Margaretha. Du wirst in Zukunft nachmittags nicht mehr hier bei den Mädchen im Arbeitssaal sein können«, sagt die Schwester.

      »Du bekommst neue Aufgaben.« Muss sie jetzt täglich den Kuhstall ausmisten? Muss sie nur noch schrubben? Was soll sie tun?

      »Du weißt, dass wir einen Säugling bekommen haben«, sagt Schwester Benedicta. »Wir werden noch einen zweiten kriegen. Irgendjemand muss sich darum kümmern.«

      Buchela nickt. Sie wartet darauf, dass nun die Strafe kommt.

      »Schwester Fidelis hat mir berichtet, dass du in der Nacht das Baby beruhigt hast. Deshalb habe ich entschieden, dass wir es mit dir in der Kinderpflege versuchen werden. Ganz einfach wird das nicht sein.«

      »Welche Strafe?«

      »Was meinst du?«, fragt Benedicta.

      »Schwester Fidelis …«

      »Schwester Fidelis ist ganz meiner Meinung, dass die Kleinkindversorgung uns überfordert. Liefere deine Tiere ab und geh dann an deine neue Arbeit.«

      Buchela läuft eilig zu ihrem Platz. Sie holt ihre zwei Pferde und stellt sie auf den Tisch neben Schwester Benedicta.

      Als sie an der Tür ist, wendet sie sich noch einmal um und sieht die Schwester an. Gern möchte sie sich bedanken. Aber die Schwester kommt ihr zuvor. »Beeil dich«, fährt sie das Mädchen an.

      Buchela findet den Säugling in einem mit Tüchern zugehängten Bettchen. Er wimmert, sein wütendes Geschrei vom Vortag ist in eine matte Klage übergegangen. Das Mädchen beugt sich über den Rand des Bettes: »Sch, sch«, murmelt es. Auf dem Tisch am Fenster findet sie ein paar Baumwolltücher, die offensichtlich als Windeln gedacht sind. Was soll sie dem Kind zu trinken geben?

      Da öffnet Schwester Fidelis die Tür.

      »Hier hast du verdünnte Milch.« Sie drückt Buchela eine Flasche in die Hand. »Du wirst dir in Zukunft die Milch selbst aus der Küche holen. Man muss sie mit Wasser versetzen, sonst verträgt ein Säugling sie nicht. Sie darf nur mäßig warm sein. Du bist auch für das Reinigen der Flaschen zuständig. Die Windeln leerst du am Abort und spülst sie danach aus. Du sammelst sie in einem Eimer und dann kochst du sie alle paar Tage aus, hängst sie auf im Garten.« Beim Herausgehen wendet sie sich noch einmal um.

      »Lass die Tücher über dem Bett hängen. Das Kind weint, weil es zu viele Außenreize hat. Das muss aufhören. Dann ist es irgendwann still.«

      Kaum hat Schwester Fidelis den Raum verlassen, beugt sich Buchela über das Bettchen und nimmt den Säugling auf. Sie schaukelt ihn auf ihrem Arm, hält sein Köpfchen gestützt und spricht leise auf das Baby ein, als könne es sie verstehen. Sie setzt sich auf den Stuhl, legt das Kind in die Armbeuge und führt die Flasche an den Mund. Das Kind saugt. Ein gutes Zeichen.

      Es trinkt hastig, als hätte es schon lange nichts mehr bekommen. Dabei sieht es Buchela unentwegt mit seinen blauen Augen an. Der Blick hält Buchela fest.

      Das Sauggeräusch wird lauter, weil das Kind nun den Rest der Milch mit der Luft einsaugt. Ein schnorchelnder Ton, der sich verstärkt. Der Säugling legt seine Stirn in Falten und verzieht den Mund. Seine Beine sind angewinkelt wie bei einem Frosch. »Bist noch nicht satt.« Buchela hebt den Säugling hoch. Sie klopft dem Kind auf den Rücken und schaukelt es auf der Hüfte.

      Dann legt sie den Säugling auf den Tisch. Als sie die Windel löst, beginnt das Kind wieder zu schreien. Buchelas Blick fällt auf den verschorften Bauchnabel. Die Windel ist grün von dünnen Exkrementen. Ein süßlicher Geruch steigt ihr in die Nase. Rot entzündet die Haut. Das Kind schreit und zieht die Beine und Arme zusammen. »Mein Fröschchen. Mein Froschla.« Als sie das Kind an den Beinen anhebt, sieht sie weitere rote Stellen. Das Kind schreit. Dann übergibt es sich mit einem großen Schwall der gerade getrunkenen Milch. Sie säubert das Kind, wickelt es, trägt das wimmernde Wesen leise summend und wippend durch den Raum.

      »Du sollst Ursula nicht so viel auf dem Arm tragen!«

      Zu spät hat Buchela die schnellen Schritte auf dem Flur gehört. Sie beeilt sich, Froschla ins Bett zu legen und nimmt Schwester Fidelis das neue Bündel ab, das sie auf dem Arm trägt. »Ich hoffe, wir bekommen nicht noch mehr Schreihälse!«, sagt die Nonne, obwohl das Neue sich völlig still verhält. Schon an der Tür, dreht sie sich noch einmal um. »Das Kind heißt übrigens Hildegard. Merk dir das.«

      Buchela nickt. Sie betrachtet das Gesicht des Kindes. Es hat große Augen und sieht sie erstaunt an. Auf seinem Kopf kräuseln sich braune Locken. Die Glocke vom Kirchturm schlägt dreimal an. Noch zweimal erklingt die große Glocke der Kirche mit drei Schlägen. Buchela fasst das Kind unter die Achseln und hebt es vor sich in die Höhe. Es kann den Kopf schon gut halten. Der Körper hängt wie ein kleiner Sack herunter. Als nun das helle Angelusläuten einsetzt, beginnt sie das Kind beim Klang der Glocken hin und her zu bewegen. Der Säugling staunt Buchela an, dann verzieht sich sein Mund zu einem kleinen Lächeln. Da nennt Buchela das Kind Bimbam.

      9.

      Am nächsten Morgen schleicht sich Buchela schon um vier aus dem Schlafsaal, bereitet die Milch in der Küche, tritt im Säuglingszimmer zunächst an das Bett von Bimbam und hält die Petroleum-Lampe, die sie für ihre Arbeit bekommen hat, darüber. Sie betrachtet das Kind im schwachen Licht. Es schläft und lächelt unbewusst im Traum. Mit den Engeln, denkt Buchela. Sie reibt sich ihre eiskalten Hände, damit sie etwas warm werden. Trotzdem zuckt Bimbam bei der ersten Berührung zusammen.

      Als die Kinder getrunken haben und gewickelt sind, hört Buchela die Schritte der Mädchen, die zum Waschraum gehen. Trotzdem setzt sie sich noch eine Minute. Diese Sekunden gehören ihr. Gamli Daj3 sei Dank.

      In der Schule folgt Buchela mit Mühe dem Unterricht. Ihre größte Angst ist, dass sie einschlafen könnte. Als der Morgen überstanden ist, freut sie sich, zurück ins Waisenhaus zu kommen. Es wartet jemand auf sie nach dem Mittagessen.

      Aber zunächst muss die Brotsuppe gelöffelt werden. Es nutzt nichts, sich zu beeilen. Erst wenn alle Teller leer sind und das Nachtischgebet gesprochen, darf sie den Raum verlassen.

      Kaum hat sie jedoch begonnen, Bimbam zu füttern, poltert schon wieder Schwester Fidelis herein. »Du musst helfen, Waren