setzt sie sich ins Gras unter die einzige Buche, die in einigem Abstand vom Ufer auf der Wiese steht. Sie lockt den Hund, der sich neben sie legt und streichelt sein weißes Fell. »Bist mein Bester«, murmelt sie und krault den Hals des Tieres und den weißen Fellbauch. Sie lehnt sich an den glatten Stamm und schaut in die dichte Krone des Baumes, in das Flirren und Rauschen der frischgrünen Blätter. Und wenn der Baum ihr Bucheckern auf das Kleid wirft, freut sie sich, sammelt sie auf und legt sie in die kleine Blechkiste, die unter ihrem Bett steht. Buchen gibt es überall. Und wo Buchen wachsen, ist sie zu Hause.
Ihr sonntäglicher Ausgang führt Buchela meistens, schon wegen des ungeliebten Kleides, für das sie sich schämt, nur bis zum Nebenhaus und zum Onkel, den sie immer mit einem Buch in der Hand in seinem Wohnzimmersessel sitzend findet. Er ist über seiner Lektüre eingeschlafen. Der Kopf liegt vornüber gefallen mit dem Kinn auf der Brust und ein Spuckefaden läuft manchmal aus seinem Mund. Um ihn nicht merken zu lassen, dass sie ihn beim Schlafen beobachtet hat, geht Buchela noch einmal zur Tür heraus. Sie klopft so laut, dass es einen Toten aufwecken könnte. Dann erst tritt sie wieder in die Stube. »Möchten Sie einen Kaffee, Onkel Johann Baptist?«, fragt sie dann. Und ohne das Nicken abzuwarten, geht sie in die Küche, setzt das Wasser auf, füllt die Kaffeemühle mit Gerstenkörnern, kippt Zichorie und Gerstenpulver in die Emaillekanne und gießt schließlich das kochende Wasser darüber. Sie holt aus dem Schrank zwei Sammeltassen mit Goldrand. Und sobald es aus den Tassen mit blauen Vergissmeinnicht dampft, bekommt auch der Sonntag einen Goldrand wie das Porzellan.
Zuerst hat Buchela den Onkel Johann Baptist immer gefragt, ob er ihr etwas vorliest aus seinem Buch. Aber dann ist ihr das langweilig geworden. Die meisten frommen Geschichten hat sie schon im Waisenhaus gehört. Das reicht für ihr ganzes Leben. Und ans Waisenhaus will sie jetzt auch nicht mehr erinnert werden. Lieber als diese Sachen von Cretschumo-Jesus Christus, Gamli Daj – der Mutter Gottes oder Obengt, dem Teufel, will sie ein bisschen Spaß haben. Sie hat im Wohnzimmerschrank von Onkel Johann Baptist beim Herausnehmen der Tassen eine Kiste entdeckt. Und seitdem sie den Inhalt dieser Kiste betrachten durfte, bettelt sie, dass Onkel Johann Baptist mit ihr sonntagnachmittags spielt.
»Warum muss alles immer so ernst sein? Lasst uns ein bisschen spielen. Das Ernste kommt von ganz allein!«, versucht sie den Alten zu überzeugen. »Na gut«, brummelt der. Und obwohl das so klingt, als täte er das nur ihr zuliebe, hört Buchela seiner Stimme an, dass er selbst auch Lust dazu hat, es aber nicht so recht zugeben möchte.
Sie lässt die Hand über die Gegenstände in der Kiste gleiten, das Gaigelspiel, Lügen und Betrügen, Schwarzer Peter, Roulette.
»Roulette«, sagt sie. Sie entnimmt der Kiste ein rundes Holzbrett. Wie bei einer Uhr sind am Rand die Zahlen 1 bis 12 aufgemalt und hinter den Zahlen erbsengroße Vertiefungen ins Holz gefräst. Sie teilt die schwarzen und weißen Kugeln auf und schiebt dem Onkel seinen Anteil herüber. Dann legt sie ihm einen Holzkreisel dazu und behält für sich selbst auch einen.
»Faites vos jeux«, sagt sie dann mit tiefer Stimme. Ein paar Sprachbrocken hat sie als kleines Kind von der französischen Sippe gelernt und behalten und spielt nun die Rolle eines weltgewandten Croupiers mit deutschem Akzent.
»Ich setz mal auf 7 und auf die 12«, sagt der Alte. Buchela markiert die 3 und die 9. »Rien ne va plus! Drehen Sie, verehrter Onkel Johann Baptist!« Der Alte legt eine schwarze Kugel in die Mitte und dreht seinen Kreisel auf dem Brett an. Der saust über das Holz. Gespannt beobachten beide, wie der Kreisel eine eiernde Bahn zieht, bis er die schwarze Holzkugel erfasst, die auf den Außenrand zurollt und in der Vertiefung mit der 9 hängen bleibt.
»Schon wieder geht das los. Du gewinnst wohl immer Grete. Hast du das bei den Zigeunern gelernt?« Buchela schüttelt den Kopf. »So was spielen wir nie nicht«, sagt sie. »Bei uns gibt es Tarot und das machen nur Frauen.« Sie grinst kokett. »Ich hab einfach nur Glück im Leben.« Sie hat Glück und sie hat Pech, denkt sie. Man muss einfach an sein Glück glauben.
»5 und 10«, sagt sie. »11 und 3«, sagt der Onkel an. »Rien ne va plus.«
»Jetzt bete, Grete. Ich gewinne!«
Buchela dreht die Spitze des Kreisels zwischen den Fingerkuppen. Einmal, zweimal. Dann lässt sie los. Er berührt bereits in der ersten Runde die Kugel, die ins Fach mit der 5 fällt.
Wenn sie zehn Mal hintereinander gewonnen hat, geht der Onkel Johann Baptist an den Schrank und holt einen Schuhkarton heraus. Darin liegen bunte Banderolen, die er gesammelt hat. Täglich raucht er am Abend eine Zigarre, ehe er zu Bett geht und in all den Jahren hat sich ein großer Haufen glänzender Papierschnipsel angesammelt. Sie kommen aus Kuba und Ecuador, aus Brasilien und den USA. Am schönsten findet Buchela eine Abbildung von Frauen, die auf einem spanischen Balkon sitzend, rechts den Fächer in der Hand, links eine Zigarre halten und mächtige Rauchwolken in die Luft blasen. Das erinnert sie an Mama und die Tanten, die manchmal zusammen saßen und rauchten. Aber diese Banderole hat sie schon. Sie stochert mit dem Finger zwischen den Schildchen. Es gibt Bilder von Schiffen und schöne Männerköpfe, Wappen und Fabeltiere, Pflanzen und irgendwelche Zeichen, die sie nicht lesen kann. Sie zieht einen schönen Mann heraus. Bolívar steht auf dem Schildchen.
»Kommt in meine Blechdose«, sagt sie.
»Und was machst du dann damit?«
»Manchmal abends such ich mir ein Bildchen raus. Das schau ich mir an. Und dann kann ich alles sehen. Das Meer und die Berge und die Menschen.« Sie fährt mit dem Finger über das Gesicht des schönen Mannes, der eine Uniform trägt mit dicken Quasten auf den Schultern.
»Der ist ein Guter«, sagt sie. »Der hat den Menschen Glück gebracht.«
»Hast du nicht morgen Geburtstag?«, fragt Johann Baptist nun.
Buchela nickt.
»Und wenn du dir was wünschen dürftest zum Geburtstag?«
Buchela schüttelt den Kopf.
Sie hat nur einen Wunsch und den kann der Onkel Johann Baptist ihr nicht erfüllen.
»Ans Glück muss man glauben. Hast du das nicht gesagt.«
Buchela nickt. »Tue ich auch«, sagt sie. »Schon lange«, fügt sie dann leiser hinzu.
14.
Die Woche beginnt mit dem Waschtag wie jeden Montag. Buchela hat sich ein Kopftuch um die Haare gebunden. Sie steht im Dampf der Waschküche und rührt im Kochtopf. Der Schweiß läuft ihr von der Stirn. »Grete!« Im Dampf kann sie die Frau nur schemenhaft sehen. Sie steht in der Tür und hält irgendetwas in der Hand. »Grete. Post für dich.« Das Mädchen lässt den Holzstab, mit dem sie die Wäsche rührt, sinken und reibt sich die Hände an der Schürze trocken. Zögernd geht sie auf die Frau zu und nimmt ihr den Brief aus der Hand. Margarethe Meerstein. Die Schrift kennt sie nicht.
»Willst du nicht aufmachen?«
Das Mädchen schüttelt den Kopf und steckt den Brief in ihre Schürzentasche. Dann macht sie sich wieder an ihre Arbeit.
Etwas so Kostbares wie einen Brief, den man bekommt, kann man doch nicht gleich öffnen. Man muss die Erwartung genießen. Man kann sich alles Mögliche vorstellen, was darin steht. So lange hat sie auf ein Zeichen gewartet. Da kommt es auf einen halben Tag auch nicht mehr an.
Abends bürstet sich das Mädchen die Haare. Es sieht prüfend in sein Gesicht, dessen leicht verzerrtes Bild im Spiegel reflektiert wird. Er hat Flecken und ist zur Hälfte blind, so dass sie den Kopf hin und her wendet, um sich sehen zu können.
Wie Mama, denkt sie.
Eine kleine Frau bin ich im Gesicht.
Nicht wie Mama, korrigiert sie sich. Seh ich nicht glücklich aus?
Sie zieht die Haare, die in der Bürste hängen geblieben sind, heraus, wickelt daraus ein Knäuel und schiebt es in einen kleinen Beutel. Alles sammeln sie: Haare, Obstkerne und manchmal sogar Bucheckern.
Dann setzt sie sich auf ihr Bett, zieht den Brief aus der Schürzentasche und reißt ihn mit dem Zeigefinger auf.
Zum Frühstück hat sie dünnen Haferschleim