Aber sie lässt den Löffel gleich wieder sinken.
»Meine Post«, sagt sie und beobachtet, wie zuerst Onkel Johann Baptist von seinem Teller aufblickt.
»Meine Post«, wiederholt sie und auch Frau Häntgens und ihr Mann schauen sie nun an. »Die is von meiner Mama.«
»Ein Wunder. Das erste Mal nach vier Jahren«, brummt Onkel Baptist. »Und?«
»Sie is in Köln. Da gibt’s nichts zu Essen. Nichts zum Heizen und sie ist ganz allein und krank. Sie sagt sie braucht mich.«
»Wie denkt sie sich das denn?« Die Stimme von Herr Häntgens klingt aufgebracht. »Erstens brauchen wir dich und zweitens gibt es gar keine Möglichkeit nach Köln zu kommen. Die Züge, die noch fahren, sind völlig überfüllt mit Soldaten. Die meisten Linien funktionieren nicht mehr.« Er schüttelt den Kopf: »Das wird nicht gehen.«
»Muss aber«, sagt Buchela bestimmt. »Wenn die Mutter ruft, muss ich hin.«
Onkel Johann Baptist kratzt sich am Kopf. »Mädchen, Mädchen, was hast du bloß für eine Mutter? Die kann doch nicht ernsthaft glauben, dass wir dich in der jetzigen Situation allein nach Köln fahren lassen? Du kannst ja fahren, aber doch nicht jetzt! Die Franzosen sind auf dem Vormarsch. Und dann noch ein Mädchen wie du allein. Das schlag dir aus dem Kopf.«
»Wenn Mama ruft, muss ich«, beharrt Buchela.
»Mädchen, nimm doch Vernunft an. Wahrscheinlich ist der Krieg bald zu Ende und wer weiß, was bis dahin noch passiert«.
Buchela legt ihren Löffel neben den Teller und geht in die Küche.
Sie wird einen Weg finden und sie wird nach Köln kommen. Wenn sie ihr nur die Papiere geben. Ohne Papiere kommt sie nicht durch.
Liebe Buchela, steht in dem Brief, den sie gestern Abend gelesen hat. Tatta habe ich nicht gesehen. Habe nie nichts gehört von ihm. Sie sagen, er ist im Krieg. Bei Frankreich.
Rafflo beim Heimatschutz. Will wie Tatta Held werden. Engelsüßchen im Ruhrgebiet bei Gelsenkirchen. Dotla sogar in Berlin.
Habe in Köln ein kaltes Zimmer. Kohle gibt’s nicht. Holz nicht. Essen auch nie nicht. Bis auf paar Steckrüben, für die ich stehen muss. Krank bin ich geworden und ganz schwach. Das weiß O Debleskri Daj.
Dass Gott mir Hilfe macht und du kommst. Komm schnell.
Deine Mama.
Buchela liest immer wieder den Anfang. Liebe Buchela, liebe Buchela, liebe Buchela. Dann steckt sie den Brief in die Schürzentasche zurück, stochert im Herdfeuer und legt noch ein Scheit Buche nach. Sie lässt die Ofenklappe offen und stiert auf die Flammen. Hier haben sie Holz. Und Mama nichts. Hier haben sie Essen und Mama nichts. Sie ist so wütend, dass ihr vor Wut die Tränen in die Augen steigen und sie sich unwirsch über die Augen fährt. Schnell schließt sie die Ofenklappe. Sie gießt aus der großen Kanne Wasser in den Topf, der auf dem Herd steht.
Die hier haben doch auch ihre Familie!
Und dann kommen ihr schon wieder die Tränen, aber dieses Mal nicht, weil sie wütend ist. »Liebe Buchela … Deine Mama«. Alle anderen Worte haben mit ihr wenig zu tun. Mama will ihre Hilfe. Aber sie hat nicht mal gefragt, wie es ihr geht. Nie fragt einer nach ihr.
Sie nimmt die Wasserkanne und geht mit festen Schritten zur Hintertür heraus. Sie tritt seitlich an die Pumpe heran, weil der Boden vorn völlig aufgeweicht ist. Im Matsch liegen grünbraune Blätter, die die Hofbuche abgeworfen hat. Buchela hängt die Kanne unter die Pumpe, reißt am Schwengel, dass das Wasser in Stößen in die Kanne fließt, bis sie am höher werdenden Klang feststellt, dass das Gefäß fast voll ist. Sie hebt die Kanne herunter, stellt sie dann aber auf dem Boden ab und läuft zur Scheune. Klackend hebt sie den Eisenriegel, zieht die Holztür auf und drückt sich in das Halbdunkel. Kurz hält sie inne, bis sich die Augen gewöhnt haben, dann steuert sie auf den Strohhaufen zu und setzt sich mitten hinein. Sie sitzt einfach da, fasst mit den Händen in das harte Stroh, als könne sie sich daran festhalten. Die Halme stechen ihr in die Handflächen.
Warum ist sie immer allein? Warum kann sie nicht das einfachste auf der Welt haben, ihre Familie?
Ein paar Spatzen haben sich einen Platz zwischen Dachbalken und Dach gesucht. Nun finden sie nicht mehr heraus und fliegen aufgeregt unter dem First hin und her. Habt euch auch verflogen, denkt Buchela. Aber gleich findet ihr irgendein Loch und seid weg und pickt das Beste, was ihr finden könnt.
Und ich auch, denkt sie. Ich finde den Weg raus. Darf mich nur nicht drücken lassen. Nie nicht darfst du glauben, dass sie dich haben, hat Tatta gesagt.
Durch die angelehnte Tür der Scheune fällt streifig das Herbstlicht in einem schmalen Strahl. Es malt eine Linie in die Luft bis zum Strohberg. Buchela steht auf und tritt in das Helle. Sie schaut an sich herunter und ist nun die Fläche, auf der das Licht seine Spur zieht. Sie geht langsam wie eine Artistin auf dem Seil auf die Tür zu. Als sie nur noch einen Schritt davon entfernt ist, wird diese aufgerissen und blendend fällt das Licht ins Dunkel. Onkel Johann Baptist läuft sie fast über den Haufen.
»Hab ich’s mir doch gedacht. Als ich die Kanne da stehen sah, hab ich’s gewusst.« Er fasst sie bei den Schultern und sieht ihr direkt in die Augen. »Hör zu Mädchen. Vielleicht gibt es einen Weg. Aber nur, wenn du versprichst, dass du vernünftig bist. Hast du gehört?«
Buchela nickt. Sie weiß, die ganze Welt besteht aus Wegen. Nur die Gadsche können das nicht sehen. Außer Onkel Johann Baptist. Der denkt immer noch ein zweites Mal nach.
15.
Feldgrau ist der Fluss, an dessen Ufer sie seit einiger Zeit entlang fahren. Ab und zu sieht Buchela beladene Schiffe, die sich bergan kämpfen oder talwärts schnelle Fahrt machen. Aber mehr als vom Fluss wird ihre Aufmerksamkeit von den Menschen gefangen, die in langen Schlangen vor irgendwelchen Geschäften stehen. Frierende Frauen vor allem, manche mit kleinen Kindern im Arm. Auch Alte, Tücher um Hals und Kopf geschlungen, Decken um die Schultern. Die Gesichter ausdruckslos grau, so grau wie die Fassaden der Häuser. Rot gefrorene Nasen. Kein Baum weit und breit. Nur diese bleierne Steinwüste.
Über das Kopfsteinpflaster rumpelt der Wagen. Hinten auf der Ladefläche haben sie Buchenholz geladen und sicherheitshalber eine Plane darüber gebreitet.
»Wo geht’s denn hier zur Hafengasse?« Der Kutscher bleibt neben den Wartenden stehen.
»Jlich rääts de Eck eröm«, sagt die angesprochene Frau. Dann fällt ihr Blick begehrlich auf den beladenen Anhänger. »Han se jätt ze verkoufe?«
Der Kutscher schüttelt den Kopf. »Alles Staatsware. Wenn ich die nicht aufs Gramm abliefere, hab ich die Polizei am Hals.«
Trotz seiner Auskunft kommen die Leute aus der Schlange nun näher heran. Da zieht der Mann die Zügel an, so dass der Gaul sich wieder in Gang setzt.
Buchela weiß, dass der Kutscher gelogen hat. Er bringt das Holz nach Marienburg zu Leuten, die es sich leisten können, unter der Hand Brennmaterial zu kaufen. Da sie an keine Kohle herankommen, verfeuern sie nun Buchenholz. Sie wendet sich noch einmal um. Die Menschen weichen zurück in die Reihe, als hätten sie Angst, ihren errungenen Platz zu verlieren.
Nach fünfzig Metern lenkt der Kutscher den Wagen um die Kurve. Onkel Johann Baptist hat ihm eingeschärft, das Mädchen direkt vor der Tür abzusetzen und nicht einmal eine Straße weiter. Ecke Buttermarkt hält er und schaut die Fassade hoch. Tristes Grau auch hier.
»Dann steig mal ab, Mädchen.« Er selbst springt auch vom Bock und schlägt die Plane ein Stück zurück. Zwischen dem Holz hat er in der Mitte einen Sack versteckt, der Buchelas Habseligkeiten enthält. Der Sack ist schwer, denn Onkel Johann Baptist hat einige Kilo Kartoffeln, ein Stück Speck und sogar Schinken dazu gepackt.
»Hör zu Mädchen«, sagt der Kutscher. »Ich muss hier bleiben. Ich kann den Wagen nicht allein lassen. Sonst hab ich hinterher nichts mehr drauf. Du musst den Sack also allein schleppen. Schaffst du das?« Buchela nickt. »Aber ich warte