du die Wohnung gefunden hast. Und dann kommst du noch mal und holst ihn dir. Aber beeil dich. Ich kann nicht ewig hier stehen bleiben. Ein Schupo, der mich genauer kontrolliert, und ich habe Theater.«
Buchela schiebt die abgeblätterte Holztür auf und betritt den dunklen Flur. Drinnen ist es genauso kalt wie draußen. Aber hier mischen sich allerhand Gerüche in der Luft, die sie nicht richtig unterscheiden kann. Vielleicht Kohl. Vielleicht der Geruch von den Klohäuschen, die sie durch die offen stehende Tür zum Hinterhof sieht. Sie bleibt vor den Postkästen stehen und betrachtet die Namensschilder. Schmitz, Schmitz und noch mal Schmitz. Lamers, von der Ahe. Jede Menge Namen, aber der richtige ist nicht dabei. Deshalb geht sie weiter zu den ersten Wohnungstüren und sieht sich die Namensschilder an. Dann erklimmt sie die ausgetretene Holztreppe und überprüft nun Stockwerk für Stockwerk die Klingeln. Aber als sie im obersten Stockwerk angekommen ist, hat sie den Namen der Mutter immer noch nicht entdeckt. Sie schaut sich suchend um, bleibt unschlüssig auf dem obersten Absatz stehen. Dann fasst sie sich ein Herz und tritt zu einer der beiden Türen, dreht die Klingel, die mitten darauf sitzt und einen unangenehmen, unvermittelt abreißenden Ton gibt.
Durch das Milchglas sieht sie eine Gestalt näher kommen. Die Tür wird von einem alten Mann, dessen Hosenträger sich über dem Bauch spannen, geöffnet. Ein Sinto, denkt Buchela erleichtert und sucht in der Erinnerung, ob sie diesen Mann jemals zuvor gesehen hat. »Wat willste?«, fragt der unwirsch.
Buchela weicht einen Schritt zurück. »Meine Mutter«, stammelt sie. »Josephine Meerstein.«
Der Mann kratzt sich den Bart und lässt sich Zeit. Dabei mustert er das Mädchen von oben bis unten. »Und du willst die Pen sein, ja? Komm mal näher.«
»Bestimmt bin ich die Tochter«, nickt Buchela und geht auf den Mann zu. »Die Älteste. Buchela«.
»Da kommen immer wieder welche«, sagt der Mann.
»Ävver wenn du Buchela bis.« Er weicht einen Schritt zurück, so dass der Blick in den Flur sich öffnet. »Dann komm ens heren, die letzte Tür rechts«, brummelt er.
Buchela tritt in den dunklen Flur und steuert auf die Tür zu. Sie bleibt davor stehen, klopft dann. Drinnen scheint sich nichts zu rühren.
Sie klopft noch einmal etwas lauter.
Der Mann beobachtet, wie sie unschlüssig ausharrt.
»Geh schon rein, auf was wartest du? Die ist da! Das weiß ich.« Vorsichtig drückt das Mädchen die Klinke, blickt in den Raum, in den durch die vorgezogenen Gardinen nur spärlich Licht fällt. Sie sieht nicht viel mehr als einen unförmigen Haufen auf dem Boden. Ein Berg aus Decken, unter dem sich die Mutter befinden muss. Sie tritt ein, schließt die Tür hinter sich, nähert sich den Decken und beugt sich herunter.
»Mama«, sagt sie.
»Mama, ich bin’s Buchela.«
Der Deckenberg bewegt sich. Die Frau dreht ihr Gesicht, das sie der Wand zugewendet hat, nach oben.
»Buchela!«
Sie stützt sich auf den Unterarmen ab und kommt zum Sitzen.
»Buchela. Dachte schon, du kommst nie nicht mehr. Keine Liebe mehr zur Mama. So lange musste ich warten auf dich.«
Das Mädchen weicht innerlich zurück. Sie hat alles getan, schnell zu ihrer Mutter zu kommen. Warum macht die ihr Vorwürfe?
Und jetzt muss sie sofort zum Kutscher, damit er ihr nicht mit dem Sack davonfährt! »Mama, bin gleich wieder da!«, sagt sie und jagt zur Tür hinaus durch den Flur und die Treppe herunter. Als sie das Fuhrwerk auf der Straße stehen sieht, atmet sie erleichtert auf.
16.
Der erste Tag in Köln ist ein Fest. Buchela bereitet gemeinsam mit der Mutter Bratkartoffeln mit Speck zu. Schließlich sitzen alle in der Küche um den Tisch: Pepito, der Sinto, der ihr die Tür geöffnet hat und Besitzer dieser Wohnung, seine Frau Josepha und deren Töchter. Mamas Gesicht rötet sich vor Freude. »Hab ich’s nicht gesagt. Meine Buchela kommt, wenn ich ruf!« Mama verbrennt sich fast den Mund an den heißen Kartoffeln, die sie gierig herunterschlingt. »Pepito iss! Weißt nicht, wann du wieder so was bekommst«, ermuntert sie den Sinto. Dann wendet sie sich Buchela zu. »Und warum kennst du Pepito nicht? Pepito ist mein Cousin. Schon immer. Du hast ihn gesehen, als du klein warst.« Vorwurfsvoll blickt sie Buchela an. »Große Familie ist immer gut. Hilft weiter. Was Pepito!« Sie schlägt Pepito auf die Schulter. Dann fasst sie selbst beim Essen nach.
Buchela hält sich bei der Mahlzeit zurück. Hat sie nicht die ganze Zeit gut gegessen bei den Häntgens? Sie besitzt zwar kein Gramm zu viel auf den Rippen. Aber sie ist jung und gesund und zäh. Und außerdem betrachtet sie mit Sorge ihren Sack, dessen oberes Ende bereits schlaff auf die restlichen Lebensmittel sinkt.
Tags drauf erwischt sie Mama, wie sie sich heimlich ein Stück Schinken abschneidet. Da weiß Buchela, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Sie muss möglichst schnell und möglichst gewinnbringend die Lebensmittel verkaufen. Der Sack von Onkel Baptist soll ihr Einstieg in das Hausiergeschäft werden. Wenn ihr Startkapital in Mamas Magen landet oder in den Mägen von Pepitos Familie, hat sie nichts mehr, womit sie einen Handel beginnen kann.
Den Schinken, das Wertvollste, was sie besitzt, wickelt sie in ein Tuch. Dann leert sie den Sack soweit, dass sie ihn leicht tragen kann.
»Was machst Du?«
Die Mutter schält sich aus ihren Decken und beobachtet Buchela, wie sie sich den Sack über die Schulter wirft.
»Mama, ich muss das verkaufen.«
»Du kannst deine Mama nie nicht verhungern lassen.«
Die Mutter steht mühsam auf und fasst sie an den Schultern.
»Mama, sonst kommen wir nicht ins Geschäft. Hier hast du Kartoffeln für dich.« Sie zählt der Mutter drei in die Hand. »Und auf die Lebensmittelmarken bekommst du Milch im Laden. Wenn ich um sechs noch nicht wieder zurück bin, dann mach dir zu essen.«
»Aber das kannst du nicht.« Die Mutter blickt ungläubig auf die Kartoffeln in ihrer Hand und schüttelt dann energisch den Kopf.
»Nein!«
»Mama, dass ist unsere einzige Möglichkeit! Sei vernünftig!«
»Kennst das hier nie nicht«, lamentiert die Mutter. »Überall wird gehandelt. Aber das machen Männer. Die gehen zum Schleichmarkt. Die handeln schwarz. Mädchen hauen die übers Ohr.«
»Mama, ich bin kein Kind. Bin schon immer hausieren gegangen.«
»Ich erlaube es nicht!« Die Mutter sieht sie wütend an.
Da wird auch Buchela laut. »Und wie stellst du dir vor, dass wir leben? Paar Tage und der Sack ist leer!«
Die Mutter wendet sich ab und lässt sich erneut auf die Matratze sinken. Sie blickt auf ihre Hände im Schoß, schmutzig von den Kartoffeln. Dann schaut sie auf und Buchela ins Gesicht.
»Frag Pepito, ob er die Sachen tauscht gegen andere Ware. Gegen Spitzen, gegen Knöpfe, gegen Nähgarn, gegen Deckchen. Alles, was er bekommen kann. Die Reichen haben noch Geld, um sich was zu kaufen. Geh zu Pepito. Ohne Pepito wäre ich nie nicht mehr am Leben. Und du, du hast genug zu tun, wenn du dich um die Marken kümmerst, dich anstellst in den Reihen, damit wir auf Schein Milch kriegen.«
Buchela gibt noch nicht auf. Wer weiß schon, was Pepito mit den Kartoffeln und dem Schinken macht? Ob er auch alles verkauft und die beiden Frauen nicht übers Ohr haut. Ein Zweifel bohrt. »Mama, lass mich wenigstens mit Pepito mitgehen. Kann ich was lernen. Weiß ich beim nächsten Mal Bescheid. Mama bitte! Und danach steh ich für die Milch an. Versprochen.«
»Wenn er dich mitnimmt, sag ich ja. Sonst nicht.«
Buchela weiß, sie wird es schaffen den Sinto zu überreden. Und wenn sie ihm zwei Pfund Kartoffeln anbietet.
Als sie schließlich mit Pepito auf dem Weg zum Schwarzmarkt ist, geht sie leicht neben ihm her, weil er ihr den Sack abgenommen hat. Das ist gut. Aber vielleicht ist es