und genauen Beobachtung. Pepito ist klug und geschickt und hat die Gabe, gute Geschäfte zu machen.
Am Ende des Tages liegen in ihrem Sack Barmer Spitzen, eine Leinen- und eine Damasttischdecke, schwarzes und weißes Nähgarn, Nähnadeln, 50 Wäsche- und 50 Perlmuttknöpfe. Das ist ein Anfang.
Sie passieren die Rheinuferstraße und kommen an dem Laden vorbei, wo tags zuvor die lange Schlange stand. Der Gehsteig ist wie leer gefegt. Die Tür scheint verschlossen. Da fällt Buchela ein, dass sie noch keine Milch auf ihren Schein besorgt hat. »Kriegst jetzt kein Milch mehr«, sagt Pepito. »Alles fott. Die Jeschäfte sind leer. Muss deine Mama eben bis morjen warten!«
Zufrieden breitet Buchela ihre Schätze vor der Mutter aus. »Schau Mama. Siehst du wie schön die Spitze ist. Gute Klöppelware. Und die weiße Tischdecke. Reiner Damast!«
Die Mutter fährt mit der Hand über den glänzenden Stoff. Sie lässt die Knöpfe durch die Finger gleiten, als zähle sie Geld ab. Sie hält die Garnrollen vor ihre Augen und scheint zufrieden. Dann steht sie auf und geht zur einzigen Kommode, die sich im Raum befindet. Sie öffnet sie und holt ein Körbchen heraus.
»Für dich.« Buchela nimmt den Korb entgegen und fährt mit der Hand über die geflochtenen Weidenzweige. Plötzlich wird das Gesicht der Mutter wieder ernst. »Hast du die Milch, Mädchen?« Buchela schüttelt den Kopf. »Da war nichts mehr, Mama. Morgen bring ich Milch. Bestimmt. Und wenn ich den ganzen Tag stehn muss.« Die Mutter schnauft, sagt aber nichts weiter.
Buchela wendet sich ab und schaut aus dem Fenster. Im Dunkeln sieht sie hinter den Scheiben gegenüber schwaches Licht.
17.
Der Körper ist so müde. Aber der Geist kommt nicht zur Ruhe. Er gaukelt ihr allerlei Verrücktheiten vor. Sie sieht Schwester Lucinda mit ihrem Exengesicht, das sich über einen Soldaten beugt. Sie tupft ihm den Schweiß von der Stirn, hebt seinen Kopf an und gibt ihm zu trinken. Ein Mann, der die Nacht nicht mehr überleben wird. Das neue Schulgebäude ist Bett an Bett gefüllt mit Soldaten. Einer, dem sie das Bein amputiert haben, schreit immerzu.
»Du träumst«, sagt Buchela sich. Sie hört, wie die Mutter an der gegenüberliegenden Wand schnarcht. Buchela steht leise von ihrem Lager auf dem Boden auf und tritt ans Fenster. Sie schiebt die Gardine zur Seite.
Es muss Vollmond sein. Sie kann ihn nicht sehen, weil das Stückchen Himmel, das sie hier aus dem dritten Stock erblickt, nur ein schmaler Streifen über dem gegenüberliegenden Haus ist. Mehr nicht. Trotzdem ist die Straße so hell, als käme von irgendwoher Licht. Deshalb schläfst du schlecht, sagt sie sich.
Aber nicht nur ihr scheint es so zu gehen. Im gegenüberliegenden Haus brennt im zweiten Stock eine Lampe. Buchela sieht eine Frau am Tisch sitzen. An der Wand erkennt sie die Umrisse einer Pfanne, von Töpfen und Tellern im Wandregal. Die Frau sitzt also in der Küche und ist allein wie sie.
Buchela blickt ihr schräg auf den Kopf, auf den Scheitel, auf die bereits gelösten Haare, die ihr auf die Schultern fallen. Die Frau trägt ein Nachthemd und hat eine Decke über die Schulter gelegt. Aber sie scheint trotzdem zu zittern und zu frieren. In den Händen hält sie einen kleinen Gegenstand, der ganz von den Handflächen eingeschlossen wird, als wolle sie ihn wärmen. Dann wieder nimmt sie eine Hand von der anderen und betrachtet das Ding genauer. Buchela denkt, dass es sie nichts angeht, was mit der Frau ist. Sie sollte wieder ins Bett, denn auch ihr ist kalt. Aber sie ist gefangen von dem Bild, das sich ihr bietet. Und während sie weiter starr hinüber blickt, hat sie das Gefühl, sie könne verstehen, was in der Frau vorgeht.
Unsinn, sagt sie sich und streicht sich über die Augen. Trotzdem starrt sie weiter hinüber. Es muss eine Taschenuhr sein, denn eine Kette reicht von der Hand, die sie hält, bis auf den Tisch.
Das einzige, was ich noch von ihm habe. Und das einzige, was er von seinem Vater hatte, nachdem der nach Amerika ist. So ein Junge hängt an seinem Vater. Besonders, wenn er auf Nachricht wartet, dass er gerufen wird. Dass er auch nach Amerika kommen soll. Aber da kam nichts. Heinrich hat so am Vater gehangen, dass es ihm egal war, wenn die anderen aus der Textilfabrik meinten, er wäre ein Schnösel, der was Besseres sein wollte. Dabei hing er doch nur am Vater und deshalb an der Uhr. Trug sie auch bei der Arbeit, aus Verbundenheit.
Die Frau dreht die Savonette auf die Rückseite, so dass sie die schöne Gravur betrachten kann. Ein großes geschwungenes H in einer Fläche voller runder Ornamente. Das H scheint daraus hervorzuwachsen, wird festgehalten von den Schlingpflanzen.
Dann wendet sie das Ührchen noch einmal und lässt den Deckel aufspringen.
Er hat so an der Uhr gehangen, wie ich jetzt. Wie er sie mir zum ersten Mal gezeigt hat, am See im Stadtpark, mitten auf der Wiese zwischen Osterglocken und Krokussen.
Du musst noch nicht nach Hause, hat er gesagt. Du hast Zeit. Schau, die Uhr vom Vater geht immer richtig. Darauf kannst du dich verlassen.
Die Uhr hatte ihm die Tage vorgezählt, die der Vater weg war. Irgendwo in Amerika. Vielleicht nie angekommen auf der anderen Seite des Ozeans. Ein Leben im Vatertakt.
Die Frau betrachtet das Zifferblatt.
Buchela friert stärker. Sie sollte sich endlich einen Ruck geben und ins Bett gehen. Aber die Gedanken der Frau sind stärker.
Diese filigranen verzierten Zeiger. Die schnörkellosen Zahlen von 1 bis 12, kerzengerade. Dazwischen die kleinen Minutenstriche. Und unten das Blatt des Sekundenzeigers, der ständig um seine eigene Achse saust. Wie gern habe ich es gesehen, wenn Heinrich seine Uhr aus der Hosentasche zog. Diese Sorgfalt, mit der er das tat. Fast liebevoll. Die Finger eines feinen Menschen. Gar nicht gemacht für das Grobe. Für große Maschinen in der Fabrik. Erst recht nicht für den Krieg.
Jetzt steht die Frau auf und tritt näher an das Fenster. Buchela weicht unwillkürlich zurück. Sie möchte nicht gesehen werden. Aber in ihrem Fenster ist kein Licht. Die Frau wird sie nicht entdecken.
Die Uhr jagt um die Mitte. Wie oft der Zeiger schon an dieselben Punkte gekommen ist. Und ich? Mir geht es so wie Heinrich. Warte auf ein Zeichen. Warte darauf, dass endlich wieder Post kommt. Ich möchte so gern sehen, wie Heinrich wieder die Uhr aus der Tasche zieht, sie sorgfältig aufzieht. Er wollte sie hier lassen, unbedingt. Wahrscheinlich hat er Angst gehabt, dass sie ihm gestohlen wird. Oder er wollte, dass ich etwas von ihm bei mir trage. Da kann ich die Uhr doch nicht verhökern!
Die Frau dreht sich abrupt um und steuert auf den Küchenschrank zu.
Das geht nicht. Da kann die Mutter sagen, was sie will. Das kann sie nicht verlangen. Die Uhr wird nicht verkauft. Nicht für ein paar Kartoffeln oder ein Stückchen Butter.
Die Frau zieht alle Schubladen auf und sucht einen Platz, wo sie die Uhr sicher verstecken kann. Schließlich schiebt sie sie mit größter Sorgfalt unter irgendwelche Papiere, eine Geste, als wolle sie die Uhr schlafen legen. Sorgfältig schiebt sie alle Fächer des Schrankes wieder zu. Dann kehrt sie noch einmal zum Fenster zurück.
Es wird die Helligkeit sein, warum ich nicht schlafen kann. Vollmond. Da steht er über dem Haus gegenüber. Nur die Hälfte zu sehen, der Rest verdeckt vom Dach. Es wird der Vollmond sein. Morgen kommt vielleicht Post. Soll die Mutter doch böse sein. Aber die Uhr versetze ich nicht. Kommt gar nicht in Frage.
Genug, denkt Buchela. Morgen muss sie früh los. Sie wendet sich ab, beugt sich zu ihren Decken, schlägt sie zurück und schlüpft darunter. Sie zieht sie ganz nah an den Körper, damit es schneller warm wird. Dann liegt sie mit offenen Augen da und ist sich auf einmal sicher, dass der Heinrich dieser Frau von gegenüber die Uhr nicht mehr braucht. Warum, fragt sie sich, warum bin ich mir so sicher? Sie kann es nicht sagen. Aber es ist wahr. Und die Frau weiß es auch.
18.
Buchela ist froh, als sie am nächsten Morgen das Haus verlässt. Sie hat die ganze Nacht geträumt. Jetzt will sie an die frische Luft und an die Arbeit. Schnee ist gefallen, der matschig auf der Straße liegt. Sie hat eine Strickjacke über ihr Kleid gezogen und einen Schal um Kopf und Schultern