Kritik am Siedlungsbau in Israel prinzipiell legitim sei, solange dabei keine antisemitischen Vorurteile ins Spiel gebracht werden. Auch Produkte aus den Siedlungen zu boykottieren, stellt Schuster jedem Einzelnen frei, sofern daraus keine Kampagne zum Boykott Gesamtisraels gemacht wird. (ebenda)
In diesem Zusammenhang steht auch, dass die deutsche Bundesregierung eine Rüge des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte zurückgewiesen hat. Sie zielte auf den Beschluss des Bundestags vom Oktober 2019 gegen die antiisraelische BDS-Bewegung (Boykott-Desinvestition-Sanktion). Hierbei ginge es nicht, wie unterstellt, um eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern darum, dass die Bundesregierung „jeden Aufruf zum Boykott Israels entschieden ablehnt und jede Form von Antisemitismus kategorisch verurteilt“. (ebenda 11/07.03.2020)
Hierzu passt auch die Feststellung Angela Merkels, dass Israels Sicherheit zur deutschen Staatsraison gehört […] Was nicht bedeutet, dass wir mit allem einverstanden sind, was die israelische Regierung macht. „Allerdings werde sich die Bundesregierung immer zu Wort melden, wenn Israels Existenzrecht infrage gestellt werde.“ (ebenda)
Was habe ich bisher im Spiegel gesehen? Die Gesellschaft? Mich, als Judenfreund? Ich denke an eine Aussage von Franklin Foers, „wonach Philosemiten Antisemiten sind, die Juden mögen.“ (D. Lipstadt, S. 63)
Stattdessen bin ich gegen Menschenhass und damit solidarisch gegen Judenhass.
Woher kommt dieser „längste Hass“?
Nach Delphine Horvilleur hätte die Israelfrage nicht diese Brisanz entwickelt, wenn „die Bezeichnung Jude mit all ihren geschichtlichen Konnotationen nichts damit zu tun hätte“. (S. 113) Dabei ergibt sich ein seltsames Paradoxon: Nach dem Holocaust zunächst legitime Zufluchtsstätte für die geschundenen Überlebenden wird Israel von vielen „als eine unterdrückerische und kolonisatorische Militärmacht“ betrachtet. Damit erscheint ihnen der Zionismus „als System kolonialer Unterdrückung und Unterwerfung der Schwächeren.“ (ebenda)
Wenn man einräumt, dass der Staat Israel mit seinen politischen Entscheidungen zu diesem Meinungsbild beigetragen hat, dann stellt sich damit im vergleichbaren Fall nirgendwo auf der Welt sogleich die staatliche Existenzfrage. Es geht folglich vielmehr um politische Lösungen und nicht um die Frage nach Sein oder Nichtsein, wie sie von antisemitischen Antizionisten in ihrem Judenhass verfochten wird.
Nach einer Meinungsumfrage der Europäischen Kommission für Menschenrechte von 2003 stellt Israel die Nation dar, die vor dem Iran, dem Irak und Nordkorea „die größte Gefahr für den Weltfrieden“ darstelle. (ebenda S. 111) Dieses „Umfrageergebnis“ kann natürlich nur das wiedergeben, was andere über Israel denken, d. h. das was Israel bei den Befragten auslöst, und nicht was es tatsächlich ist.
Aber wie auch immer, wiederum sind es in den Augen der Kritiker die Juden, die die Welt daran hindern, „eins zu sein und sich zu einer befriedeten Gesamtheit zu fügen […] Damit die Welt in Frieden leben kann, muss sie das von den Juden verkörperte Trennende loswerden.“ (ebenda)
Davon waren Rom, die christliche Welt und das Dritte Reich überzeugt, und dies ist auch die Überzeugung eines Teils der arabischen Welt. Der Hass auf Israel speist sich somit aus dem uralten Hass gegen die Juden.
Als Rabbinerin versucht Horvilleur anhand der Exegese des Alten Testaments dem Ursprung dieses Hasses auf die Spur zu kommen. Im Buch Ester findet sie einen Konflikt, in dem der Hass Einzug hält mit den „im Verlauf der Geschichte gegen die Juden erhobenen Anklagen: ein Volk, zugleich verstreut und abgesondert, das mitten unter anderen lebt, ohne sich mit ihnen vermischen zu wollen; das weder genau zu unterscheiden noch integrierbar ist.“ (ebenda S. 27)
Der Vorwurf lautet hier, dass die Juden eine Nicht-Identität leben, die sich von anderen distanziert. Sie partizipieren einerseits am Ganzen, sondern sich jedoch gleichzeitig ab. Dabei bringen sie das Ganze um seinen Anteil. Sie verhindern, dass das Ganze ein intaktes, heiles Ganzes ist.
„Mit andern Worten: Solange die Juden abgeteilt leben, bringen sie uns um unseren Anteil. Solange sie sich dem Gemeinsamen entziehen, nehmen sie uns die Möglichkeit, ganz wir selbst zu sein, im Einklang mit der Nation oder unserer Identität zu leben.“ (ebenda S. 42)
Horvilleur stellt fest, dass der Jude demnach stets den „Seinsmangel“ verkörpert. Weil die Juden das Reich, die Nation oder die Familie daran hindern, „eins“ im Sinne der Gesamtheit zu werden, fügen sie dem Kollektiv eine Schwachstelle zu, die es darin beeinträchtigt, zu expandieren. (ebenda S. 64)
Hierin sieht Jean-Luc Nancy den entscheidenden Punkt, in dem sich der Antisemitismus von jedem Rassismus unterscheidet: Der Jude stellt den Inbegriff aller „Hindernisse für das Anwachsen von Herrschaft“ dar. Die antisemitische Feindseligkeit „rührt weniger von einem Verhältnis zwischen Gruppen her als von dem Selbstverständnis einer Macht, die allen Gruppen überlegen sein will.“ (ebenda S. 63)
Die Machtfrage ist somit Ausgangspunkt der im Buch Ester erzählten Geschichte, die den ältesten Text zum Thema Antisemitismus enthält. Nach neueren Forschungen wurde das Buch im 2. Jahrhundert v. Chr. verfasst und enthält in Kapitel 3 Vers 9 eine Passage, die erstmals auf die Vernichtung des Judentums zielte:
Haman, ein Nachkomme des Amalekiter-Königs Agag war von dem in Susa regierenden Perserkönig Ahasveros alias Artaxerxes (um 472 v. Chr.) zum Großwesir ernannt worden. Als der Jude Mardochai ihm die Proskynese, d. h. den huldigenden Kniefall verweigerte, intrigierte Haman beim König:
„Da ist ein einzigartiges Volk, das unter den Völkern in allen Provinzen deines Reiches zerstreut und abgesondert lebt und dessen Gesetze von denen aller anderen Völker abweichen; da sie sich nun aber nach den Gesetzen des Königs nicht richten, so ist es für den König nicht geziemend, sie ruhig gewähren zu lassen. Wenn es dem König genehm ist, so möge ihre Ausrottung durch schriftlichen Erlass verfügt werden; ich werde dann auch zehntausend Talente Silber (aus dem Besitz der Juden) in die Hände der Schatzmeister geben können, damit diese sie in die Königliche Schatzkammer abführen.“ (Lutherübersetzung)
Hier ging es also um mehr als um bloße Judenfeindschaft. Ausgelöst wurde der Vernichtungswille offenbar dadurch, dass die Juden ihre eigenen überkommenen Gesetze über die ihres Gastlandes stellten. Damit erheben sie sich über „den Konsens, den die Menschheit im Interesse eines zivilisierten Zusammenlebens eingegangen ist. Dies bedeute in letzter Konsequenz, dass sie sich eines Verbrechens gegen die Menschheit und Menschlichkeit schuldig machten, das nicht durch individuelle Strafen abgegolten werden könne. Die einzige angemessene Antwort sei die Vernichtung aller Juden, einschließlich ihrer Frauen und Kinder“ (P. Schäfer S. 25)
Schäfer erscheint der noch in der vorchristlichen Antike verfasste Text wie ein „Modell der monstreusen Einstellung“, die das Schicksal der Juden bis zum Holocaust bestimmte. Schon in der damaligen Zeit wurden die hier angeführten antisemitischen Argumente zur Blaupause für die Einstellung der Griechen und Römer zu den Juden.
Da eine außerbiblische Bestätigung des betreffenden Vernichtungsplans fehlt, geht man davon aus, dass hier die späteren tatsächlichen Angriffe des Seleukiden Antiochius IV. auf die Juden in die Perserzeit zurückprojiziert wurden. Dann würde der Bericht eine persischen Feinseligkeit gegen das Judentum in Gefolge der makkabäischen Aufstände spiegeln.
Unter theologischen Aspekt macht das Buch den Juden in der Situation des drohenden Verlustes ihrer religiösen und kulturellen Identität unter Antiochius IV. Mut zu kämpfen. Dazu erzählt es von der mutigen Jüdin Ester, die einen früheren Versuch scheitern ließ, das Judentum zu vernichten. Die zentrale theologische Aussage hierzu findet sich im Kapitel 4, Verse 13-14: Gott setzt seinen (Rettungs-)Plan durch, auch wenn der Mensch versagt.
„Die Wiege des Phänomens, das wir als Antisemitismus bezeichnen, stand im hellenistischen Ägypten“ des 3. Jahrhunderts v. Chr. (ebenda S. 28) Bei dem griechischen Historiker Diodorus Siculus aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. findet sich eine Begründung für „das fundamentale Anderssein der Juden mit ihrer tiefverwurzelten ,Menschenfeindlichkeit‘ und ,Fremdenfeindlichkeit‘“: Nach der Ankunft in dem Gebiet des heutigen Judäa