kennst sie?«
»Ich kannte sie.«
»Schon klar, Nina«, meint Schröter, der sich ebenso krampfhaft an seinem Kaffeebecher festhält wie ich. Mein ultrakorrektes Arztsöhnchen aus Norddeutschland ist kein Morgenmuffel. Aber diese Zeit scheint selbst für meinen neuen Partner Frederick Schröter zu früh.
»Nein. Ich meine: Es ist schon Jahre her, dass wir uns kannten. Damals war ich noch jeden Sonntag auf dem Platz. Hier oben in der Voith-Arena oder beim Auswärtsspiel.«
»Verstehe.«
In meinem Kopf türmen sich Bilder, matt, wie hinter schmutzigem Glas. Brüllende Menschen in bunten Trikots, brennende Leidenschaft und bengalische Schlachtrufe. Mein Gott. Ferne Zeiten völlig nah.
»Sie gehört zu den Societas. Den weiblichen Ultras. Wir haben sie Cat genannt.«
»Ultras«, wiederholt Schröter, der, das weiß ich schon, von Fußball so viel Ahnung hat wie ich vom Wäschewaschen.
»Daran gewöhnt man sich nie, oder?«, meint der weiße Tatort-Paparazzo, der näher zu uns getreten ist und sich hinkniet, um ein Foto von Cats rechtem Fuß zu schießen. Fällt mir schwer, sie bei ihrem Spitznamen zu nennen. Ich möchte sie zudecken, ihr Schutz geben. Ein bisschen Abstand schenken von fremden Leuten. Cat … Katrin wenigstens das bisschen Würde schenken, welches sie verdient hätte, das doch jedem Menschen zustehen sollte, wenn er seinen letzten Weg angetreten hat. Stattdessen lichtet der Paparazzo ihren zerschundenen Leichnam ab. Zentimeter für Zentimeter. Hochauflösend. Das Stück menschliches Fleisch, in dem meine Cat einmal drinsteckte. Und ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt. »Brutalstfoul«, meint er. Das macht es nicht besser. Jetzt möchte ich ihm tatsächlich die Fresse polieren. Scheiße, Katrin!
»Guten Morgen, Frau Schätzle«, sagt in diesem Moment eine bekannte Stimme hinter mir.
»Du sollst mich nicht so nennen, Berti«, erwidere ich Robert Heinzel. Er ist der Leiter der Spurensicherung. Der Ton verrutscht mir. Bei normalen Leichenfunden geht mir das Herz auf, wenn ich Berti sehe. Mein SpuSi, wie ich ihn für mich gerne nenne. Jetzt aber … Berti blickt auf Katrin hinab, lange, dann sieht er zu mir auf. »Haben sie entsetzlich zugerichtet, unsere Cat.«
Ich weiche seinem Blick aus. Warum spricht er im Plural?
Ihr Gesicht hat kräftige Blessuren, der Körper ein paar blaue Flecken. Aber ich benötige keinen Fachmann, um die Todesursache zu erkennen. Es wurde mehrfach auf sie eingestochen. Ich spiele mit meinem Fingerstummel. Mir fehlt an der linken Hand das letzte Glied des kleinen Fingers. Wenn die Leute fragen, sage ich immer, es war ein Unfall. War es ja auch irgendwie. Ist eine längere Geschichte. Jedenfalls knete ich oft auf ihm herum, wenn ich ins Grübeln komme. Als »stummeln« bezeichne ich es gern.
»War das Staging genau so?«
»Wie bitte, was?«, kommt mir Berti zuvor.
»Wurde sie genau so gefunden?«, korrigiert sich Schröter, und ich bin dankbar dafür, dass mein junger Kollege die Führung übernimmt. Auch wenn es eindeutig noch zu früh ist für die geschwollene Ausdrucksweise meines norddeutschen Partners. Ich muss das erst mal verarbeiten.
»Nicht ganz«, erklärt mein SpuSi. »Der Schal war ausgebreitet über ihr Gesicht gelegt.«
Schröter nickt nachdenklich, bekommt diesen Blick, den ich schon von ihm kenne. Sein Tatortscanner beginnt zu arbeiten. Versuch dich zu konzentrieren, Nina!
»Also gut, Schröter. Beeindruck mich mit deiner Weisheit«, taste ich mich ungelenk an einen normalen Tonfall heran. Er reagiert nicht. In ihm läuft bereits sein Programm. Er ist gerade mal 35, noch nicht lange bei der Kripo, und ich weiß nicht, woher er das hat, aber er ist extrem gut im Lesen eines Tatorts. Nur wirft er dann immer mit solchen Fremdwörtern wie »Staging« um sich, was irgendwann anstrengend wird. Besonders um diese Uhrzeit. Ganz besonders bei dieser Toten.
»Frage dich, wie der Täter den Leichnam ansah«, doziert er grübelnd. Das meine ich: Er gibt schlaue Sprüche von sich, die fast philosophisch klingen. Kämen sie aus dem Mund eines alten Mannes mit weißem Bart, würde ich jedes Mal zu Boden sinken vor Demut. Aber sie stammen eben von Schröter.
»Und?«
»Jedenfalls wurde die Szene nachträglich verändert. Er hat das Gesicht des Opfers verdeckt. Das könnte darauf hindeuten, dass er es kannte. Könnte eine Art emotionale Wiedergutmachung sein. Er will es ungeschehen machen. Darauf deutet auch die schlafende Haltung hin. So lag sie sicher nicht unmittelbar nach der Tat da.«
»Klingt einleuchtend.«
»Wurde sie vergewaltigt?«
Ein Stich fährt mir durch den Hinterkopf.
»Bisher deutet nichts darauf hin«, antwortet Berti in bitterem Ton. Vermutlich schmerzt sein Kopf ebenso wie meiner.
Schröter glotzt wie eine Kuh auf dem Felde, brütet über der Szene wie Günter Netzer über der Spielanalyse. »Sieht das für euch nach einem geplanten Verbrechen aus?«
Wir blicken uns an, keiner sagt etwas. Ich bin noch nicht da. Definitiv.
»Ich glaube eher, es ist aus einer emotionalen Notlage heraus entstanden und wurde danach so für uns arrangiert.«
Emotionale Notlage. Ist es das nicht immer? »Vermutlich hast du recht«, antworte ich dem Tatortphilosophen trotzdem. »Mehrere Messerstiche. Er war wütend und ist danach selbst über seine Tat erschrocken. Dann hat er das Gesicht der Leiche verdeckt, um ihr nicht mehr in die Augen sehen zu müssen.«
Schröter nickt. »Könnte aber auch eine Anonymisierung sein. Vielleicht ging es gar nicht um sie als Person, sondern darum, eine beliebige Frau zu töten oder einen zufälligen Fan.«
»Du meinst eine symbolische Tat: einen Heidenheim-Fan.«
»Genau. War gestern ein Spiel hier?«, fragt Schröter, und ich und Berti glotzen ihn ungläubig an.
»Ist nicht dein Ernst, oder?«, schnarre ich. »Gestern war DFB-Pokal, gegen Aalen.«
Schröter sieht mich an, als hätte ich Nostradamus zitiert. »Und?«
Ich wende mich flehend an Berti, und er springt für mich ein. »Wir haben die Aalener 4:1 verdroschen.«
Danke. Aber Schröter kapiert noch immer nicht.
»Die Aalener und Heidenheimer sind sich spinnefeind. Zwischen denen gibt es von jeher böses Blut. Und wenn die hier 4:1 untergehen, dann kochen die Emotionen hoch.«
Jetzt lichtet sich der Nebel bei Schröter. »Ach so. Okay.«
»Na endlich«, rutscht es mir heraus, und Schröters Gesicht verzieht sich.
»Benimm dich, Nina«, meint Berti mit einer Tüte in der Hand. »Ihr Handy. Zertrümmert.«
»Todeszeitpunkt?«, frage ich ihn.
»Muss kurz nach dem Spiel gewesen sein.«
Wäre kaum drauf gekommen. Manchmal kann ich mich einfach nicht beherrschen.
»Moment mal«, sagt Berti und kniet sich neben Katrin. »Da steckt etwas.« Er beugt sich über ihr Gesicht, nimmt seine Pinzette und zieht ein Stück festen Stoff aus ihrem halb geöffneten Mund. »Ein Heidekopf-Emblem.«
Wieder der Gedanke: so viel Nähe zu einem toten Menschen, der geliebt wurde. Das ist einfach nicht richtig. Wenngleich es sich bei Berti anders verhält. Er kannte Cat und mochte sie sehr. Das macht es ein wenig besser.
Er lässt das Emblem in eine Plastiktüte fallen. »Vermutlich von ihrer Kleidung abgerissen.«
»Das klingt fast wie eine symbolische Degradierung«, brütet Schröter. »Auch wenn in dem Abreißen irgendwie Wut steckt.«
Ich mustere ihn. »Du siehst echt zu viele amerikanische Serien, Schröter.« Er antwortet mir nicht, und ich frage in die Runde: »Wer war gestern hier?« Drei Streifenpolizisten heben den Arm. »Wer nicht dienstlich, sondern im Block?« Alle