Jürgen Neff

Blutgrätsche


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ich sie.

      »Gestern, vor dem Spiel. Die sind auf dem Schlossberg aufmarschiert, wie immer: Treffen in der Clubhalle des Fanprojekts unten in der Stadt und geschlossen hoch vors Stadion. Und dann kam sie rüber, und wir haben ein bisschen geredet. Sie war gut drauf. Und der Vater kritisierte sie wieder, weil sie so ausstaffiert war.«

      »Ich wollt doch nur, dass sie sich was Ordentliches anzieht«, wimmert Vater Benzeler. »Muss doch bei der Kälte nicht in kurzen Hosen rumlaufen.«

      »Das geht uns nichts mehr an, Alfred.«

      »Ich sagte ihr immer, Ultra sein ist doch nichts für ’ne Frau. Die Nina hat das hingekriegt. Haben wir ihr immer gesagt.«

      Ich muss innerlich lachen. Das hat sie sicher richtig gern gehört. Die fahnenflüchtige Verräterin als Vorbild.

      »Und die Kerle. Hast du gesehen, wie die Kerle sie angrinsten?«, jammert er weiter.

      »Die grinsen nicht, weil sie Ultra ist, sondern weil sie scharf auf sie sind«, fährt Anne ihn an, und Alfred fällt wieder winselnd in sich zusammen.

      »Anne, weißt du, ob sie in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte?«

      Katrins Mutter schüttelt den Kopf. »Wir wussten wenig in letzter Zeit. ›Warst seit Wochen nicht mehr da‹, hab ich ihr gestern noch vorgeworfen.« Sie heult, leise, unauffällig, in sich hinein. »Wann hast du sie denn zuletzt gesehen?«

      »Vor einem Dreivierteljahr sind wir einmal in der Stadt beinahe zusammengestoßen. Sie war auf dem Weg zur Arbeit, und ich meinte, ich käme die Tage einmal in ihrem Copy-Shop vorbei. Aber dann kam etwas dazwischen und …« Scheiße.

      »Sie hat immer von dir geschwärmt, Nina«, sagt Anne. »Hat jeden Artikel über dich ausgeschnitten. Das Bild von dir bei der Polizeiprüfung und dann, als du im Heidenheimer Blatt warst als Kripobeamtin.«

      Ich nicke. Was soll ich auch sonst tun?

      »Hatte sie einen Freund? Von Johannes hat sie sich ja getrennt.« Weiß gar nicht, woher mir das bekannt ist.

      Anne schüttelt den Kopf. »Nicht sie hat sich getrennt, er.«

      »Ach. Okay.«

      Ihre Schultern fallen noch tiefer hinab. »Guck doch mal, dass du endlich ’nen gescheiten Mann kriegst, Nina.«

      »Wie bitte?«, frage ich.

      »Das war das Letzte, was ich meiner Katrin gesagt hab.« Sie sieht mich an, die Tränen rinnen ihr über das Gesicht, und sie wiederholt es. »›Guck doch mal, dass du endlich ’nen gescheiten Mann kriegst.‹ Sie lachte nur und meinte: ›Och Mama. Ich bin doch noch jung.‹ Dabei wird sie bald 33.«

      Pause. Lange Pause; und noch immer kein Schnaps. Realisiere, dass ich schon wieder an meinem Fingerstummel spiele.

      »Und mit der Bande war alles gut, den Societas? Gab es da Probleme? Machtkämpfe?«

      Katrins Mutter schüttelt den Kopf. »Sie hat darüber nicht viel erzählt. Weil sie wusste, der Vater mag es nicht hören. Erfuhren immer mehr von den Nachbarn oder so. Aber soweit ich weiß, waren die in letzter Zeit richtig angesehen bei den Fans. Integriert in alles. Es lief ja gut. Bei der Mannschaft und bei den Fans.«

      »Weißt du, warum Johannes sich von ihr trennte?«

      »Weil er sie aufgegeben hat!«, brüllt Vater Benzeler, fällt aber sofort wieder zurück in Lethargie.

      Anne schüttelt den Kopf. »Er hat ihr vor zwei Jahren einen Antrag gemacht. Aber Katrin hat ihn abgelehnt.«

      »Echt?« Ich kann es kaum glauben: Der einst wichtigste Spieler der Mannschaft macht ihr einen Antrag, und sie lässt ihn abblitzen. Aua.

      »Hab ich ihr auch gesagt: Der Johannes hat eine Zukunft. Aber sie konnte sich nie gut entscheiden. War immer ihr Problem. Wollte sich nicht festlegen.«

      »Es gab aber keinen anderen?«

      Mutter Benzeler blickt mich an, ihre Augen sind rot und ertrinken. »Nina. Sie hat dich immer vermisst, weißt du.«

      Ich starre sie an. Ich kann nicht wegsehen.

      »Das hat sie oft zu mir gesagt: Es sei einfach nicht mehr dasselbe ohne dich.«

      Dann stehen wir irgendwann draußen. Rauchend glotze ich die Alles-in-Ordnung-Allee hinab. »Ich sollte hierbleiben. Sollte ihnen …« Aber ich kann nicht, spiele mit meinem Therapie-Gummiband am Handgelenk, will meine Atmung beruhigen. Und mein Hirn.

      Schröter versucht zu retten, was zu retten ist. »Den Schnaps hättest du rein nach Vorschrift nicht trinken dürfen.«

      Habe ich?! Anscheinend. Ich weiß echt nichts mehr. »Ich brauch ein Bier.«

      »Wir müssen in ihre Wohnung.«

      »Ich habe keinen Bock!«

      Er zieht die Augenbrauen nach oben wie mein Religionslehrer damals.

      Ich bin hier die Vorgesetzte, verdammt! Auf Professionalität darf nur ich mich berufen.

      »Verstehe, wer das Opfer war, und du erkennst, wie dein Täter ist.«

      »Wo du immer diesen Mist hernimmst, Schröter.«

      Kontrolliertes Chaos

      Einsam liegt ein einziger Füßling auf dem Teppich in der Mitte des Wohnzimmers. Wie Katrins Leiche oben auf dem Schlossberg.

      Kleine Wohnung, 60 Quadratmeter, schätze ich. Eckcouch, ein bisschen zerschlissen. Fernseher. Esstisch für vier Personen. Klamotten hier und Schuhe da, alles ziemlich chaotisch. Als sei sie gestern noch hier gewesen. War sie ja auch. Aber unter der Schlamperei – bei mir sieht’s um einiges schlimmer aus – alles auch irgendwie adrett, um nicht zu sagen spießig. Und in jedem Zimmer mindestens fünf Kätzchenabbildungen oder süße Katzenfigürchen. Frage mich, warum sie sich keine angeschafft hat. An der Wand ein Bild der aktuellen FCH-Mannschaft, bestimmt zwei auf einen Meter.

      »Wären die vielen Miezen nicht, könnte es die Wohnung eines Junggesellen sein«, meint Schröter.

      »Und der da.« Ich zeige mit der Nasenspitze auf das Söckchen.

      Intimschnüffelei. So gar nicht mein Ding. Ich fühle mich immer schlecht, wenn wir in Wohnungen fremder Leute herumschleichen, mit Gummihandschuhen Gegenstände befummeln, zu denen die Eigentümer eine ganz persönliche Beziehung hatten, die nur sie kannten. Für uns sind es einfach Dinge, für die Personen Geschichten. Reliquien ihres Lebens.

      Es ist wie mit den Leichen auch: Sie sind Arbeitsmaterial. Wie für den Tatort-Paparazzo heute Morgen. Zurückhaltung ist da fehl am Platz. Es geht darum, Beweise zu sichern, und nicht darum, dem Opfer gegenüber Abstand und Anstand zu wahren. Oder bei einem Verdächtigen. Oder Angehörigen. Wir schnüffeln in alle Winkel und Ritzen eines Lebens hinein, graben die liebevoll gehegten Geheimnisse einer Person ebenso aus wie die hässlichen, zerren sie ans Tageslicht. Das ist unser Job. Pietätlosigkeit mit Lupe und hochauflösender Kamera.

      Arbeitszimmer mit Stapeln von Akten. Kleiner Schreibtisch, Notebook. »Das nehmen wir mit«, bestimme ich.

      »Sollen wir die Spurensicherung reinschicken?«, fragt Schröter, und ich zucke mit den Schultern.

      Schlafzimmer. Zerknülltes Laken. Hübsche Farbe. Handschellen mit Plüschbezug am Gitterrost.

      Dann entdecke ich das Bild an der Wand: Cat, Arm in Arm mit ihrem Ex Johannes und einer Frau, die aussieht wie ich, nur jünger, und mit meinem Leo. Meinem Ex-Leo. Alle in den Farben der Osttribüne, der Heimat der FCH-Ultras, lachend. Bier in der Hand. Das Opfer und eine Person, die ich nicht mehr bin. Das ist fast zehn Jahre her, ich hatte weniger Falten und definitiv viel, viel weniger Ringe unter den Augen. War ich wirklich einmal so? Was für ein Weg führt von dieser Frau da zu der Person, die ich heute bin?

      Schröters Handy klingelt im Nebenraum, und er geht ran. Klingt nach der Forensik.

      Ich komme nicht los von dem Bild.