mich mitgenommen. WM-Endspiel 1990.«
Ich verschlucke mich an meinem neuen Bier. »Echt jetzt?« Die wievielte Flasche ist das eigentlich? »Scheiße. Du warst im Stadion in Rom?! 8. Juli 1990. 1:0 gegen Argentinien. Littbarski, Klinsmann, Brehme – und Diego Maradona! Das fass ich jetzt nicht.«
Schröter ist sichtlich stolz, und ich denke mir nur: Mein langweiliger Kollege war beim WM-Finale. Der ist offensichtlich völlig ahnungslos, was das bedeutet. Er stammt doch aus einer ganz anderen Welt. Schröter trägt Hemd und Krawatte, immer. Zugegeben, es steht ihm. Aber die Grundsätzlichkeit stört mich. Ich könnte ihn zu einem Grillabend einladen, und er käme mit Krawatte. Sollte ich gelegentlich austesten. Und seine spießige Grundhaltung, zu der so altbackene Regeln gehören wie »Don’t fuck in the Factory« oder »Appetit holen okay, gegessen wird zu Hause«, geht auch gar nicht. Das passt doch überhaupt nicht mehr in unsere gefräßige und oberflächliche McDonald’s- und Tinder-Kultur.
»Mein Vater ist wie ich kein Fußball-Interessierter. Aber WM, klar. Wenn das ganze Land mitfiebert …«
»… dann wird auch aus dem Chefarzt und Anzug-Golfer ein Fachmann.«
»So ungefähr. Wir verfolgten die Spiele der Deutschen zu Hause, und als es im Raum stand, dass wir ins Finale einziehen, konnte er das über seine Beziehungen organisieren.«
Ich weiß nicht, ob er ahnt, wie neidisch ich bin. In Italien, Endspiel gegen Argentinien. Ich würde meine letzten zehn One-Night-Stands dafür geben. Okay, nicht den einen vor zwei Jahren. Ich brauche noch ein Bier.
»Also. Choreografie.«
Genau das meine ich mit Spießigkeit. Nun möchte ich mal was Persönliches erfahren, und mein Piefke kehrt sofort wieder zurück zu den Fakten. Mann! »Die Performances in der Fankurve, bei den echten Fans, nicht beim Klatschpublikum, sind genau durchchoreografiert. Man erfindet immer neue, feilt daran. Und Katrin war darin superkreativ, entschied mit, wie wir uns präsentieren. Stimmte sich ab mit den Fanatico Boys.«
»Und du glaubst, das könnte uns weiterbringen?«
»Weiß nicht. In unsere Überlegungen zu einem Motiv sollten wir ihre Stellung bei den Societas und in der Kurve jedenfalls einbeziehen. Sie war zu 110 Prozent bei der Sache. Eine Fanatikerin. Ist oft angeeckt. Bei den Gegnern, natürlich in Aalen, Ulm, Sandhausen, manchmal bei den eigenen Leuten. Oder beim Vorstand. Weil sie sich nichts vorschreiben ließ. Gar nichts. Auch nicht von einer ein wenig älteren Societas-Schwester.«
»Du bist älter als sie?«
»Aufpassen, Schröter.«
Sex mit dem Ex
Keiner kommt hier lebend raus. So ist das mit der großen Stadionuhr. Das Spiel läuft bis zum Abpfiff. Für jeden von uns. Auch wenn du nicht weißt, wann es für dich zu Ende geht. Ob du vielleicht schon vor dem Schlusspfiff rausgenommen wirst oder vom Platz getragen. Deshalb gilt es, jede Sekunde zu nutzen. Eine vergebene Torchance ist für immer verloren. Wir sollten jeden Augenblick genießen, das Leben auskosten, wo es nur geht. Lieben, hassen, emotional sein, uns begeistern. Musik machen. Das ist so einfach gesagt. Aber die Uhr tickt und jeder weiß es.
Es ist noch früh am Morgen, zu früh. Ich sitze in einem Café mit meinem Exmann, Leonhard, dem Frühaufsteher. Wir waren fünf Jahre verheiratet. Acht zusammen. Gute Zeit. Meistens jedenfalls. Wann ist eine Zeit gut? Wenn sie schnell vergeht. Aber dann kriegt man es eben auch gar nicht so mit. Trotzdem.
»Wie läuft es mit der Neuen?«
»Gut. Julia ist großartig.«
»Gut? Das ist gut. Julia. Großartig.«
Er sieht mich an. Noch immer sind wir gut darin, wir zwei, gemeinsam Zeit vergehen zu lassen. Es fühlt sich nicht komisch an wie mit manch anderen.
»Hör damit auf, Nina.«
»Was?«
»Das bringt doch nichts.«
Vielleicht doch nicht so gut. Ich weiß, dass es nichts bringt. Und wenn schon! Wir haben längst getrennte Leben geführt, als wir noch zusammenlebten. Zum Schluss. Heute hängt sein Wohlbefinden von einer anderen ab. Von Julia. Na und? Meins hängt ausschließlich von mir ab.
»Was gibt es denn?«
»Nichts.«
Er lehnt sich zurück und zieht die Augenbrauen hoch. »Du wolltest mich sehen.«
»Ja.«
»Und?«
Konnte ihm noch nie etwas vormachen.
»Sonst bin ich es, der um ein Treffen bittet.«
»Wir haben einen Leichenfund auf dem Schlossberg.«
Jetzt guckt er blöd. Kann ihn noch immer steuern.
»Einen Leichenfund?«
»Es ist Cat.«
»Scheiße. Wirklich?!« Es macht ihn echt betroffen. Offensichtlich. Leo mochte Katrin sehr. Damals. Als er noch nicht alles scheiße fand, was mit mir zu tun hat.
»Mord?«
Ich nicke.
»Das tut mir so leid, Schätzchen.« Wie bei Benzelers zu Hause. Mord. So eine Nachricht über einen Menschen, den man gut kannte, besitzt ziemliche Durchschlagskraft. Da steckt Wucht dahinter. Und es entwickelt sich sofort eine Eigendynamik.
»Bist du mit der Untersuchung beauftragt?«
»Sonst würde ich dich kaum deswegen treffen.«
»Ist bestimmt schwer für dich.«
Muss er das jetzt noch extra herausstellen?
Ja. Wir vier – Katrin, ihr Freund Jo Lederer, Leo und ich –, zusammen mit einigen weiteren von den Ultras, wir waren fanatische Fans und Anhänger. Verschworen. Er zwar weniger, gemäßigter, schon allein deshalb, weil er kein Fußballer ist, sondern Leichtathlet. Aber auch, weil er ein anderer Typ Mensch ist. Er ist immer so, wie soll ich sagen, edel. So weise, so gemäßigt eben. Maßvoll, sagt man wohl. Immer hat er ein Gefühl dafür, wann etwas genug ist. Wann man nicht übertreiben sollte. Das Mittelmaß in Person eben. Wie in unserer Beziehung auch. Er wusste immer, wann ich es übertreibe, ich über das Ziel hinausschieße. Und musste es dann auch sagen. Auch im Streit. Das war so ätzend. Man kann überhaupt nicht provozieren, weil es gleich als unfair entlarvt wird. Und was hat ein Streit überhaupt für einen Sinn, wenn man es nicht übertreiben darf? Das macht einen Streit doch überhaupt erst aus. Wie wenn auf dem Spielfeld einer umgemäht wird und seine Kameraden auf den Foulspieler einstürmen. Es gibt eine Rangelei, der Schiedsrichter geht dazwischen, wird weggeschubst, verliert kurz die Kontrolle, verteilt wenig später gelbe Karten oder gar rote. Das ist doch das Salz in der Suppe. Das pralle Leben. Im Fanblock genauso. Wenn es wild zugeht, die Emotionen lodern. Ein wenig Eskalation und Kontrollverlust machen das Leben erst richtig spürbar.
Aber Leo, Leo wusste immer genau, wann es genug war. Auch als er sich von mir trennte. Als er mir sagte, dass er sich scheiden lässt. Wie ich es hasse. Vernünftig zu sein, immer alles im Griff zu haben. Auch sich selbst. Zum Kotzen.
»Und was willst du jetzt von mir?«
»Wir tappen noch im Dunkeln. Klar, wir arbeiten erst seit gestern daran. Die erste Frage ist natürlich, was könnte es für Motive geben.«
Er nickt. In seiner sachlichen Art. Und hat sich schon wieder im Griff. Ich komme niemals dorthin, wo er sich nach wenigen Minuten bereits befindet: auf dieser Insel von Gelassenheit, auch bei überraschenden Nachrichten oder gar schlechten, wenn’s einmal richtig mies läuft. Deshalb war er früher auch so leistungsfähig bei Wettkämpfen. »Oh, da ist jemand ziemlich gut. Der kann mir gefährlich werden. Da muss ich mir was einfallen lassen.« So macht er das. Mit einer unmenschlichen Coolness nimmt er alles, wie es kommt. Sieht sich die Situation in Ruhe an, analysiert sie, und dann findet er einen Kniff. Und dabei ist er kein Zahlen-, Daten- und Faktenmensch. Eher im Gegenteil, verdammt einfühlsam. Das habe