»Und ich soll dir nun ein Motiv liefern? Oder mit dir überlegen, wer es getan haben könnte?«
»Nachdenken kann ich selbst, Leo. Du bist doch als Beiratsmitglied des Gesamtvereins darüber informiert, wie das Verhältnis zu den Ultras aktuell ist. Gibt es irgendwelche Querelen, schlechte Stimmung oder so?«
Sein Unterkiefer verschiebt sich. Manche Gesichtsausdrücke kommen einem selbst nach Jahren so bekannt vor. So vertraut. »Nicht, dass ich wüsste. Glaubst du nicht eher an Rivalitäten unter den Ultras? Es ging ziemlich zur Sache beim letzten Spiel.«
Eigentlich glaube ich bisher an gar nichts. Ich stochere im Trüben. Zu Beginn einer Ermittlung steckt immer ein gewisser Widerspruch in der Zeitwahrnehmung unserer Arbeit. Die ersten 48 Stunden nach einer Tat sind enorm wichtig, weil die Beweise frisch sind, der Täter seine Deckung noch nicht geordnet hat, womöglich besonders nervös ist. Auf der anderen Seite muss man selbst zuerst ein Gefühl entwickeln für einen Fall. Man kann nicht gedankenlos drauflosstürmen, sondern muss zuerst das Spielfeld abstecken, sondieren und sehen, wie der Gegner aufgestellt ist. Abtasten, langsam ins Spiel finden.
»Die Aalener Fans waren natürlich alle wütend am Sonntag nach dem Spiel«, sage ich zu Leo. »Stehen oben auf meiner Agenda. Aber ein privates Motiv ist ebenso denkbar.«
»Privat?«
Ich sehe ihm lange in seine hübschen grünen Augen. Bemerke irgendwann, dass es zu lange war. »Das mit Hannes war ja schon länger vorbei«, sage ich.
Er nickt. »Ja, sie hat ihm eine böse Abfuhr erteilt. Es gab ein paar, die ihn dafür aufgezogen haben im Verein. Eine Zeit lang hat er darauf ziemlich wütend reagiert. Aber irgendwann war das Thema durch. Auch für die anderen.«
Das Thema war durch. Ist es das je? Meine Berufserfahrung sagt mir etwas anderes. Wenn ich überlege, wie manche Morde zustande kommen, welche Motive in Menschen schlummern und erst nach Jahren urplötzlich herausbrechen wie eine Naturgewalt, die nur darauf wartete, dass es einen kleinen Riss in der Oberfläche gibt. Einen Anlass. Ich sehe meinen Exmann an. Nein, durch ist man mit dem Thema nie. »Weißt du, woran genau es gescheitert ist?«
»Ja, nein. Das mit ihren kleinen Affären und so, das war es nicht. Aber sie hat seinen Antrag abgelehnt. Und sie hat ihm klipp und klar gesagt, dass sie sich keine Kinder wünscht. Er wollte aber welche, und dann entschied er sich irgendwann dazu, einen Schlussstrich zu ziehen.«
Klipp und klar. Einen Schlussstrich ziehen. So ist das im Leben. Manchmal dreht man sich um und geht. Die Frage ist immer, was man dabei mitnimmt.
»Weißt du, ob sie einen neuen festen Freund hatte?«, erkundige ich mich.
»Was verstehst du unter festem Freund?«
Ich weiß. Cat war ein flatterhaftes Ding. Blöder Ausdruck. Könnte von meiner Großmutter stammen. »Wir haben uns schon lange nicht mehr richtig gesehen«, erklärt mir Leo. »Cat und ich. Trafen uns im Stadion ab und zu, umarmten uns, tauschten ein paar Sätze aus.«
»Verstehe.« Immerhin mehr als bei Cat und mir. So ist das. Manchmal zieht man nicht bewusst einen Schlussstrich, sondern verliert sich aus den Augen. »Und unter den Ultras, im Block? Gab es Machtkämpfe?«
Wieder ein Kiefermalmen. »Nicht, dass ich wüsste. Der Capo ist noch recht frisch, seit es Bruno nicht mehr macht. Aber da musst du vor allem die Sozialpädagogen des Fanprojekts fragen.«
»Hm. In Ordnung. Hältst du die Augen und Ohren offen?«
Leo sieht mich an, traurig, und nickt.
Wir sollten jetzt aufstehen. Gezahlt ist bereits. Aber irgendwie tut es keiner von uns beiden.
»Ich war vorgestern bei deinem Vater auf dem Friedhof.«
Ich nicke. »Lass uns in Kontakt bleiben. Und hör dich bitte mal um. Wenn du was mitkriegst, sag mir Bescheid.« Habe ich das nicht gerade schon gesagt?
»Klar.«
Er starrt auf meinen beschädigten kleinen Finger, sieht langsam zu mir auf. Mitleid liegt in seinem Blick. Diesen Gesichtsausdruck habe ich immer an ihm gehasst. Nach meinem Unfall hat er mich eigentlich nur noch so angesehen. Ich kann nicht aufstehen. Warum nicht, verdammt? Irgendwas hält mich zurück.
»Was ist noch?«, frage ich ihn.
»Nina«, er blickt mich todesgütig an, wie Paule, das FCH-Maskottchen. Dann kommt es: »Julia ist schwanger.«
Bääämmm. Das saß.
Blutgrätsche.
Verdammte Kacke. Das musste irgendwann ja kommen. Ich lasse mir nichts anmerken. Leichtathletische Gelassenheit. »Schön. Das freut mich für dich.«
»Nina, ich weiß, das ist merkwürdig, aber…«
»Was? Nein. War ja klar. Hab mir schon gedacht, dass ihr in drei Jahren vielleicht auch mal Beischlaf haben könntet.«
»Nina.«
»Alles gut. Oder ich weiß es nicht, ob es so gut ist wie unser Sex. Aber tun werdet ihr es natürlich. Und das kommt dann dabei raus, wenn man’s richtig macht, oder?«
Sex mit meinem Ex. Bilder in meinem Kopf. Wie das damals war, als wir zwei uns noch miteinander ausbrannten. Körpervollkontakt, so läuft das Spiel. Ohne Schutz und Schienbeinschoner. Wir haben eine nicht unerhebliche Zeit miteinander geteilt, Heim und Herd, Schweiß und Tränen, das Bett auch. Und Lebenslinien. Gemeinsam Vergangenheit und Erinnerungen angesammelt und dann gingen die Linien wieder auseinander. Aber bis zu dem Punkt haben wir viel Gemeinsames im Rucksack. Und gerade blicke ich in meinen hinein, und da liegt noch ziemlich viel Leo oben auf. Bei ihm vermutlich weniger. Weil dort nun so viel Neues drinsteckt. Mit Julia.
»Ja. Wir sind jetzt an einem Punkt in unserer Beziehung, wo …«
»Wann heiratet ihr?«, frage ich – nicht weil ich es wissen will, sondern weil ich nicht die Scheiße darüber hören will, wie toll sein Leben ohne mich ist.
»Haben wir noch nicht darüber geredet.«
Ich krampfe mir ein Lächeln heraus.
Die wird sicher weniger Schmerzen dabei empfinden, das Balg herauszupressen, als es mir wehtut, diesen dämlichen Gesichtsausdruck zu produzieren. So ein Mist!
Dann stehe ich auf, ein bisschen zu schnell. »Alles klar. Leo. Also. Wir sehen uns.« Unverbindlichkeit. Professionalität bitte, Nina.
»Wenn du etwas brauchst …«
»Bis dann, Leo. Wir bleiben in Kontakt«, sage ich, zeige tatsächlich mit dem Finger auf ihn und zwinkere ihm dabei zu wie einem Kollegen. »Wegen der Sache, meine ich.« Er will noch etwas sagen, aber ich bin schon weg.
Weit weg.
Scheiße, Scheiße, Scheiße. Endgültigkeit!
Ich hasse Endgültigkeit.
Es gibt Tage, da denkt man: Das Leben könnte so einfach sein, wenn man tot wäre. Aber das wäre ja auch wieder endgültig.
Theorien kloppen
»Wie war’s mit deinem Exmann?«
»Gut.«
»Gut?«, fragt Berti, grinst. Schröter auch.
Sag mal: Wollen die mich alle verarschen?
Mir ist übel von gestern Abend. Aber den Besprechungsraum fand ich schon immer ätzend. Weil er in der Regel bedeutet, dass der Fatzke auftaucht. Flöhnrieser. Doktor Flöhnrieser. Wie kann man nur so heißen? Ich weiß gar nicht, woher der Name ursprünglich stammt. Spielt auch keine Rolle. Fatzke ist Fatzke, das reicht.
Es klopft, förmlich. Mit dieser falschen Höflichkeit, wie es nur Staatsanwälten möglich ist. Und schon schneit er herein, der Fatzke. Jung und dynamisch, strahlend wie Jürgen Klopp.
»Komme ich zu spät?« Fatzke sieht auf die Uhr. Er weiß genau, dass er auf die