in ihrem Ohr.
Hortense machte sich von ihrem Freund los und rannte über den Sand. »Hey, da bist du ja!« Sie hatte keine Schuhe an und die Fransen an ihrem schwarzen Mini-Kleid, das nach Tildas Meinung übertrieben kurz für diesen kühlen Märzabend war, flogen um ihre nackten Schenkel. Die dunkelhaarige Hortense mit den kohlenschwarz umrandeten Augen hauchte ein Küsschen in die Luft. Eigentlich kannten sich die beiden Frauen kaum: Hortense studierte in Kiel irgendwas mit Frisistik und hatte in ihren Semesterferien an Tildas Sarg-Selbstbaukursus teilgenommen.
Den Kursus bot sie erst seit Kurzem an. Es war eine Möglichkeit, sich über Wasser zu halten – Konrads Unterhalt kam nicht immer pünktlich. Zunächst hatte sie nur Vogelhäuser mit den Touristen gebaut. Doch dann brachte ein Teilnehmer sie auf die Idee mit den Särgen. Im Netz fand sie schnell diverse Anleitungen für den DIY-Sarg aus Kiefernholz. Keine zwei Wochen später ging es los: Der Clou ihres Kurses war, dass sie vorher mit den Teilnehmern Treibholz für die Deko sammelte. »Sargbau inklusive Erlebniswanderung und Probeliegen«, schrieb sie auf die Flugblätter, die sie überall in Hohwacht aushängte.
Hortense machte anfangs einen verschlossenen, düsteren Eindruck. Beim Werkeln unter Tildas Terrassenvordach hörte sie über ihr Handy komische Schrammelmusik, was die anderen Teilnehmer nervte. Tilda schaffte es, die morbiden Eigenheiten Hortenses in kreatives Schaffen umzulenken. Und als Hortenses Kiste »bezugsfertig« war, zeigte sie sogar ein wenig Begeisterung und wollte unbedingt mit Tilda eine Flasche Sekt köpfen – am Meer.
Tilda hatte sich schließlich zu dem Treffen am Hohwachter Strand überreden lassen. Vielleicht, weil sie keine Lust hatte, einen weiteren Abend allein zu verbringen. Vielleicht aber auch, weil sie hören wollte, warum Hortense glaubte, mit einem selbstgebauten Sarg »viel beziehungsfähiger« zu sein.
Wie beziehungsfähig die junge Frau war, war nicht zu übersehen. Hortense lehnte am Strandkorb und es machte ihr offenbar überhaupt nichts aus, von dem Kerl mit dem rostroten Haar abgeschleckt zu werden, als wäre er eine Schwarzbunte und sie der Salzstein.
So kurz nach ihrer Scheidung von Konrad war Tilda nicht sonderlich scharf darauf, mit einem liebestollen, noch dazu mindestens zehn Jahre jüngeren Pärchen am Strand abzuhängen. Schließlich hatte sie nicht gewusst, dass Hortenses Boyfriend mitkommen würde. Normalerweise, erfuhr sie von der nun doch etwas schuldbewusst dreinblickenden Hortense, arbeitete Gerrit in Kiel. Weil er ausgerechnet heute hatte freinehmen müssen – in seiner Firma sei die ganze Urlaubsplanung für die Tonne –, sei er mal eben nach Hohwacht gekommen, um sie zu sehen. »Und jetzt, wo er schon mal da ist, habe ich ihn mitgebracht. Das ist doch okay für dich, oder?«
Was sollte sie sagen? Dass sie sich überflüssig wie ein Kropf fühlte und sie sich obendrein den Hintern abfror? Wer kam auf die Idee, im März eine abendliche Strandparty zu veranstalten? Fröstelnd griff sie nach dem Plastikbecher, den Hortense ihr hinhielt. Die DIY-Sargbauerin goss ihrer Kursleiterin großzügig Sekt ein. »Nö, überhaupt kein Problem«, log Tilda und leerte den Becher in einem Zug. Der Sekt schmeckte ihr nicht. Das Zeug war zu süß.
Nur um irgendwas zu sagen, fragte sie Gerrit nach seinem Beruf. »Ich bin Lebensmittelchemiker in einem Honiglabor«, berichtete er und langte in die Plastikschale mit Erdbeeren, die Hortense gerade aus ihrem Picknickkorb befördert hatte. Gerrit steckte sich die Frucht zwischen die aufgeplatzten Lippen. Wahrscheinlich wundgeküsst, dachte sie frustriert. Dann beobachtete sie, wie er Hortense mit vorgestrecktem Kinn aufforderte, ihm die Erdbeere aus dem Mund zu stibitzen. Tilda hätte kotzen können.
»Ach, was ’n Zufall! Hat Hortense erzählt, dass ich Imkerin bin?« Er schüttelte den Kopf. Blöd von ihr. Sie sah ja, dass die beiden Wichtigeres zu tun hatten, als sich zu unterhalten, so verknallt, wie die waren. Wie hatte sie überhaupt annehmen können, dass Hortense ihrem Freund etwas über sie erzählte?
Die Wellen sorgten für leises Hintergrundrauschen und sie konzentrierte sich einen Moment auf ihr Getränk. Die nächste halbe Stunde verbrachte Tilda fröstelnd als fünftes Rad am Wagen. Das Gespräch wollte bei der Küsserei der beiden nicht recht in Gang kommen.
Irgendwann kamen sie doch auf Gerrits Job im Labor zu sprechen.
Wenn man diesem Rotschopf Glauben schenken wollte, waren die meisten Imker kriminell. »Erzähl keinen Quatsch!« Sie beobachtete, wie Gerrit in der Plastikschale nach weiteren Erdbeeren fingerte. Sein Haar leuchtete in dem Abendlicht in einem unglaublichen Farbton, der sie an Ahornblätter im Oktober denken ließ.
»Doch, doch.« Er schien mittlerweile ein wenig Interesse für sie aufzubringen. Vielleicht lag das an ihren langen blonden Haaren, die sie frisch mit einer Packung aus dem Drogeriemarkt gefärbt hatte, und an den regelmäßigen Honig-Quark-Packungen, dank derer sie noch ziemlich glatt aussah.
»Wieso denn?« Sie hatten sich auf ihre Jacken auf den feuchten Sand gesetzt. Die Strandkörbe dienten zugleich als Rückenlehnen und Windschutz. Während sie gespannt auf die Antwort wartete, mümmelte Hortense wortlos einen Muffin. Na ja, die imkerte auch nicht.
»Viele panschen. Es gibt schlicht zu wenig Honig in Deutschland, in der Welt, deshalb ist es so lukrativ, den Honig zu strecken.«
Tilda konnte das nicht glauben: »Ist ja irre. Wie machen die das denn? Ich meine, was genau geben die da rein?«
Der rothaarige Mann mit den vielen Sommersprossen auf der Nase nahm eine Erdbeere zwischen Daumen und Zeigefinger, betrachtete diese gedankenverloren und meinte: »Das ist kein großes Geheimnis. Die meisten mischen billigen Sirup unter den Honig. Ein gewinnbringendes Rezept.«
»Wie dreist …«, staunte Tilda. Sie selbst hatte nie etwas Unrechtes getan, wenn man von der roten Ampel absah, die sie letztes Jahr übersehen hatte.
Gerrit genoss ihre Aufmerksamkeit und Tilda stellte fest, dass sein Blick einen Tick zu lang auf dem Ausschnitt ihrer Strickjacke ruhte. Sie wusste nicht, wie sie das finden sollte.
»Wirklich dreist. Aber wir kriegen es raus. In unserem Labor, meine ich.« Er nuckelte an der Erdbeere, als wäre sie ein Schnuller oder ein weibliches Körperteil. Tildas Nackenhaare sträubten sich bei dem Gedanken.
»Also könnte es sein, dass der Honig, den ich im Supermarkt kaufe, gepanscht ist?«, fragte sie und versuchte, sämtliche sexuell gearteten Bilder aus ihrer Vorstellung zu verbannen. Er schüttelte den Kopf: »Eher nicht. Inzwischen lassen alle ihre Honige prüfen. Wir kriegen um die 800 Proben pro Tag zugeschickt. Die Exporteure wollen es genau wissen, die Importeure und die Supermärkte oft auch. Weil es so viele Honigwäscher gibt, haben alle Angst, an einen zu geraten. Honig ist heutzutage ein Milliardengeschäft.«
Tildas Blick ging in die Ferne, wo die Ostsee hinter dem menschenleeren Strand lag. Ruhig und dunkel, als wartete sie auf etwas.
»Unglaublich«, murmelte sie. Wie gern würde sie auch mal richtig Geld verdienen. Seit der Scheidung musste sie den größten Teil ihres Unterhalts mit den Kreativkursen und dem Honigverkauf bestreiten. Das funktionierte mehr schlecht als recht. Das Geld kam nur kleckerweise. Reich konnte man mit dem Bau von Särgen und dem Verkauf von Honig leider nicht werden.
Kalter Wind strich ihr über das Gesicht. Doch sie fror nicht mehr so sehr, der Sekt hatte sie innerlich aufgewärmt. Tilda beugte sich vor, streifte die geblümten Gummistiefel und die dünnen Socken von den Füßen. Mit den nackten Zehen im eiskalten Sand herumzuwühlen, gab ihr ein Gefühl von Freiheit. Genau, sie hatte kein Geld, aber sie durfte sich frei fühlen. »Yippie!«, rief sie ironisch. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Bisher hatte sie mehr gelassen als getan. Hortense und Gerrit sahen sie nicht mal an, sondern knutschten wieder.
Den Kopf an die Rückwand des Strandkorbs gelehnt, die Augen geschlossen, lauschte sie den kurzen Wellen, die sich an den Steinwällen brachen.
Dann kam ihr Gerrits Schmatzen erneut zu Bewusstsein. Eklig. Mussten die beiden die ganze Zeit so feucht küssen?
Sie hielt es nicht aus, einen ganzen Abend lang unfreiwilliger Beobachter ihrer Zärtlichkeiten zu sein, und versuchte, das Gespräch wieder in Gang zu bringen: »Und ihr findet es immer heraus, wenn jemand schummelt?«
Gerrit ließ widerwillig von Hortense