spürte das leise Rütteln und vernahm ein schnurrendes Geräusch. Es begann also. Seine letzten Minuten brachen an. Seine Atmung ging flach. Er mühte sich ab, so wenig Energie wie möglich zu verbrauchen. Wieso war er so grenzenlos dumm gewesen, ihr zu vertrauen? Das hatte er nun davon. Seine eigene Gutmütigkeit war der einzige Grund für seine missliche Lage. Er trug selbst die Schuld daran. Das machte es nicht leichter für ihn.
»Norbert?« Edelgard griff entschlossen nach der Hand ihres Mannes. »Weshalb bist du so still? Du sagst gar nichts.« Sie tätschelte seinen Arm. »Du hättest besser Julians Geschenk annehmen sollen.«
»Was?«, klang es gepresst aus der Kehle ihres Mannes.
»Diesen Kurs gegen Flugangst. Julian wollte dir einen schenken! Aufgedrängt hat er ihn dir regelrecht. Meine Güte, wie einem kranken Gaul hat er dir zugeredet. Aber du wolltest ja nicht. Stur wie ein alter Esel. Du bist blass, mein Lieber. Möchtest du etwas zu trinken?«
Norbert schüttelte den Kopf.
»Guck, jetzt sind wir schon auf der Startbahn. Meine Güte, zu Beginn ist es immer ein wenig wie Busfahren. Aber das legt sich rasch.«
»Aus einem Bus kann ich jederzeit aussteigen. Aus diesem Ding hier nicht.«
»Jetzt übertreibst du aber, Norbert. Der Busfahrer lässt dich nur an den festgelegten Haltestellen aussteigen. Dazwischen sitzt du genauso fest wie in einem Flugzeug.«
»Aber …« Norbert brach ab. Er wusste aus Erfahrung, Edelgard würde nicht damit aufhören, die Vorzüge einer Flugreise zu preisen. Im Gegensatz zu ihm war sie allerdings völlig frei von Flugangst, die ihm jedoch im Moment das Leben ziemlich vermieste.
»Stell dir bloß vor, wir wären erst mit dem Zug an die Ostsee gefahren, um die Fähre weiter nach Stockholm zu nehmen. Weißt du, wie lange wir da unterwegs wären? Dieser Flug hier«, sie drückte seine Hand, »dauert lediglich zwei Stunden. Norbert, bis wir unsere Flughöhe erreicht haben, gehen wir bald schon wieder in den Sinkflug.«
Norberts Gesichtsfarbe, bis dahin leidlich rosa, hellte sich auf. Er wirkte ziemlich käsig, mit einer leichten Tendenz zu grün.
Edelgard riss beherzt eine Tüte aus dickem Papier aus dem Netz, das an der Rücklehne des Sitzes vor ihr angebracht war, und drückte sie ihrem Mann in die Hand. »Für alle Fälle.«
Für den Rest des Fluges schwieg Norbert, sosehr Edelgard sich auch bemühte, ihm ein weiteres Wort zu entlocken. Als er nach der Landung endlich den für ihn sehr engen Gurt lösen und aufstehen durfte, zerrte er vom Gang aus sein Gepäckstück aus dem Klappfach über ihren Sitzen. Dass die Passagiere hinter ihm warten mussten, weil es nicht auf Anhieb klappte, brachte ihn nicht aus der Ruhe. Heute würde ihn überhaupt nichts mehr dazu veranlassen, seine Fassung zu verlieren. Er hatte soeben diesen Todesflug überstanden und war heil davongekommen. Schlimmeres als die beiden letzten Stunden, in denen er aus Angst sein Hemd komplett durchgeschwitzt hatte, konnte ihm nicht passieren.
*
Sie liebte das Blau des Wassers, das es während klarer Tage annahm, besonders. Die Sonne schien im Juni schon in den frühen Morgenstunden mit einer Intensität, die sie in Mitteleuropa höchstens um die Mittagszeit erreichte, bevor sie am späten Nachmittag bereits wieder schwächelte. In Schweden jedoch war das Licht während der Sommerhälfte von einer Klarheit, die alles durchdrang. Das Wasser in den Schären war von einer ganz eigenen Farbe, wie sie es sonst nirgendwo anders erlebt hatte. Sie fühlte sich mit jeder Faser ihres Körpers hier zu Hause. Der Platz, an den sie eindeutig gehörte. Nirgendwo sonst auf der Welt hatte sie dieses Gefühl. Die Luft, die sie einsog, durchströmte ihre Lunge und drang vor bis in die Spitzen der Bronchien, von wo aus der Sauerstoff ihren Körper mit dem lebenswichtigen Stoff versorgte. Es fühlte sich für sie an, als würde sie bis in die Zehenspitzen hinein atmen. Obwohl sie natürlich wusste, dass dies physikalisch nicht möglich war. Alles war so lebendig, hier im Einssein mit der Natur. Nichts in der Welt brachte sie von hier weg. Kein verlockendes Jobangebot, auch kein Liebhaber, der sie zum Umzug in eine andere Stadt bewegen wollte.
Wie von Riesenhand zerstreut lagen die mehreren Tausend Inseln unterschiedlicher Größe vor Stockholm. Die Ostsee umspülte die steinernen Gebilde. Wenn nicht viel los war, kamen sogar Seehunde. Die größeren Inseln waren beliebte Ausflugsziele für Feierlustige. Mit Schrecken dachte sie an Mittsommer. Dann schwärmten wieder alle aus. Einige legten sogar an Privatinseln an. Sie wollte keinen Besuch auf ihrer Insel. Erst recht keinen ungebetenen.
Ihre Insel hatte bereits dem Großvater gehört, der sie irgendwann einmal gekauft hatte. Er war es gewesen, der das kleine rote Holzhaus mit den weißen Fensterrahmen errichten ließ. Soweit sie ihre Erinnerungen zurückverfolgen konnte, hatte sie während ihrer Kindheit dort die meisten Wochenenden und die Urlaubszeit des Vaters verbracht. Im Sommer hatten sie alle gemeinsam mit angepackt, das Haus zusammen neu angestrichen und nötige Renovierungsarbeiten durchgeführt. Ihre Mutter hatte das Haus nicht gemocht, da es ohne Strom und nur mit Holz zu beheizen war. Irgendwann war die Mutter nicht mehr mitgefahren und an den Wochenenden in der Stadt geblieben, wo es für sie bequemer war. Vielleicht lag es ein wenig daran, dass sie Gustav nicht mochte. Vaters große schwarze Dogge, die sich auf der Insel frei bewegen durfte. Gustav liebte es, sich, wenn jemand irgendwo saß, von hinten anzuschleichen und plötzlich seinen Kopf über dessen Schulter zu recken. Des Öfteren war die Mutter dabei fürchterlich erschrocken und hatte sich über das Tier beschwert. Ihr Mann lachte nur dazu und tätschelte Gustav den Nacken.
Wer hätte es dem Vater verübeln wollen, sich eine Geliebte zu nehmen? Eine, die mit ihm auf seine Insel fuhr? Nach dem Ableben des Großvaters war die Insel wie selbstverständlich in seinen Besitz übergegangen. Seine Schwester, die in New York lebte, zeigte kein Interesse daran. Wie sie überhaupt kaum mehr nach Stockholm reiste. Der letzte Besuch ihrer kinderlosen Tante lag viele Jahre zurück. Der Kontakt zu ihr war lose.
Wenn der Vater eines Tages nicht mehr da war, dann ging das Eiland in ihr Eigentum über. Das hatte sie ihm in die Hand hinein versprochen. Ihm lag viel daran. Galt es doch, das Geheimnis der Insel zu wahren. Ein Geheimnis, das die beiden teilten und welches sie miteinander verband. Um das sie niemand, der davon in Kenntnis gelangen sollte, beneiden würde. Es war besser, nur sie beide wussten davon. Und sie setzte alles daran, dass dies so blieb. Wirklich alles. War sie denn nicht immer Vaters kleines Mädchen gewesen? Der Vater hatte ihr immer näher gestanden als ihre Mutter. Weitaus näher.
Sie erhob sich von dem großen runden Stein, auf dem sie gegessen hatte, und ging zum Haus zurück.
*
Nachdem Norbert sich beruhigt hatte und er und Edelgard endlich im Besitz ihres vollständigen Gepäcks waren, suchte er mitsamt seinem Koffer eine der Flughafentoiletten auf. Als er wieder herauskam, trug er ein frisches Hemd.
»Du hast nicht viele Hemden dabei«, empörte sich Edelgard. »Sollen wir gleich zu Beginn einen Waschsalon aufsuchen?« Sie selbst trug eine leichte Baumwollhose und eine Bluse aus Leinen, die perfekt mit ihrer Haarfarbe harmonierte. Unmittelbar vor ihrer Reise war sie bei ihrer Friseurin gewesen und hatte sich einen neuen Haarschnitt gegönnt. Ihr kinnlanges Haar war frisch durchgestuft, was ihm deutlich mehr Fülle verlieh. Die leichten Strähnchen, die je nach Lichteinfall farblich changierten, waren ein Vorschlag von Sandra gewesen, der sie seit Jahren in diesen Dingen bedingungslos vertraute. Ein frisches Make-up, abgestimmt auf die Bedürfnisse nicht mehr ganz junger Haut, komplettierte ihren Auftritt.
»Julian wird ja wohl eine Waschmaschine haben.«
»Lieber Himmel! Wir wollen dem Bub nicht zur Last fallen.«
»Weshalb dem Bub? Du wirst sie doch auch einschalten können. Oder hast du das verlernt?«
»Papperlapapp. Ich habe Urlaub! Schon vergessen? Wo ist Julian überhaupt? Er will uns doch hier in Arlanda abholen.«
»Ich hätte nichts gegen frische Luft einzuwenden. Lass uns nach draußen gehen. Womöglich wartet er dort auf uns.« Norberts Blick verweilte trotzdem kurz an der einladenden Theke eines Fastfood-Restaurants, das auf einem großen Plakat einen Bio-Burger anpries. »Guck, die Burger sehen richtig gut aus.«
»Mom!