Martin Oesch

Tatort Bodensee: Der Fall Winterbergs


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Familienporträts hatte Mock schon gemalt. Doch hier musste er selbst zugeben, es wäre perfekt gewesen, wenn es auch eine Mutter gegeben hätte. Stilvolle Kleidung, elegantes Ambiente, alles sehr geschmackvoll. Noch bevor der Herbst kommen würde, sollte das Bild fertig sein und Mock hätte für ein paar Monate keine finanziellen Sorgen mehr. Vielleicht ging der Krieg bald zu Ende und es ginge wieder aufwärts. Im Gegensatz zu seinem Kunden glaubte Mock nicht an den Endsieg. Er hoffte auf einen Sieg der Alliierten. Die Nazis waren ihm ein Gräuel, auch wenn sie es waren, die ihm als Porträtmaler in den vergangenen Jahren ein Einkommen garantiert hatten. Mock setzte ein paar feine Striche auf die Leinwand, blickte zu seinen Modellen, ließ ein paar Striche folgen und hätte nie daran gedacht, sein Bild könnte Jahre später bei einem grausamen Verbrechen eine entscheidende Rolle spielen.

      Ameisen im Schloss

      Sechs Tage nach dem Mord

      »Kann ich Ihnen vielleicht helfen? Wenn Sie mir verraten, was Sie suchen. Ich weiß alles über diesen Haushalt. Sagen Sie mir einfach, was, und ich finde es.« Bei Monika Reuter waren sich die Beamten der Kapo Thurgau nicht sicher, ob es wahre Hilfsbereitschaft oder abgrundtiefer Sarkasmus war. »Aber bitte, wenn die Herren lieber selber …«, meinte sie beleidigt, als sie keine Antwort auf ihr Angebot bekam, und wandte sich wieder dem Abwasch zu.

      Eine Etage höher war Christina Winterberg deutlich weniger entspannt als ihre Haushälterin, nachdem sie am frühen Morgen ungebetenen Besuch erhalten hatte. »Verdammt noch mal, nimm ab!«, murrte sie in ihr Handy. Seit Hutter ihr den Durchsuchungsbefehl unter die Nase gehalten hatte, versuchte sie vergeblich, Sebastian Hess zu erreichen. »Wo ist das Arschloch, wenn man es mal wirklich braucht?« Sie saß hilflos im viel zu großen Sessel im Eingangsbereich des Schlosses und schaute den Beamten bei ihrem Treiben zu. Wie Ameisen verschwanden sie in alle Richtungen. Was gesucht werde, könne er leider aus ermittlungstaktischen Gründen nicht verraten, aber sie würden versuchen, die Umstände so überschaubar wie möglich zu halten, erklärte ihr Hutter ungewohnt wortreich.

      »Ich bitte Sie: Erst nehmen Sie mir meinen Mann, nun meine Privatsphäre. Was haben wir verbrochen?«

      »Genau das wollen wir herausfinden.«

      »Und wie lange dauert das hier?«

      »In Anbetracht der Größe des Anwesens …«

      »Ja?«

      »… rechne ich mit dem ganzen Tag.«

      Christina Winterberg drückte die Taste für die Wahlwiederholung. Aber Hess reagierte weiterhin nicht. Hutter sah das Gespräch als beendet an und machte sich auf die Suche nach seinem SpuSi-Einsatzleiter. Immerhin wussten sie genau, was sie suchten: Das Team hatte sich den Gegenstand – 65,1 x 11,3 x 21 cm, Bronze – beim morgendlichen Briefing eingeprägt. »Einfach ein Metallstück also, okay?«, fasste Einsatzleiter Helfenberger den Auftrag wenig sensibel zusammen. »Kann ja nicht so schwierig sein.«

      Tiefer Fall

      Oktober 2009

      Das Bild brannte sich in Roberts Erinnerung. Nie würde er vergessen können, wie Gabriela mit verdrehten Gliedmaßen auf diesen kalten grauen Steinen lag. Vom Altmann drang der letzte Schrei seiner Frau als Echo in sein Mark. Dann war es still, unerträglich still. Nur das Krächzen einiger Alpendohlen war zu hören und ein »Hilfe«. Robert Winterberg kniete an der Kante des Felsens, über den seine Frau in den Tod gestürzt war. »Hilfe«, schrie er noch einmal, doch für seine Frau kam jede Hilfe zu spät. Das bestätigte der Rega-Arzt, der mit dem Helikopter eingeflogen worden war. »Genickbruch«, analysierte er und hatte das Gefühl, es würde Robert Winterberg helfen, wenn er ihm versicherte, seine Frau hätte nicht leiden müssen, sie sei sofort tot gewesen.

      Die Wanderung vom Restaurant Alten Säntis, wo sie die Nacht verbracht und ein ausgiebiges Frühstück genossen hatten, über den Lisengrat zum Rotsteinpass galt als gefährlich. Der scharfkantige Weg glich mehr einem Drahtseilakt als einer gemütlichen Wanderung. Links und rechts neben dem schmalen Weg fiel der Fels mehrere Hundert Meter senkrecht ab. Teilweise überwanden Leitern oder in den Felsen geschlagene Stufen fast senkrechte Passagen. An vielen Stellen sicherten Stahlseile die Königsetappe im Alpstein auf dem Balanceakt zwischen Alpstein und Toggenburg. Den Berggängern bot sich ein atemberaubender Blick, verlangte aber einiges an Kühnheit und unbedingte Schwindelfreiheit. Über beides verfügten die Winterbergs, die regelmäßig ausgedehnte Touren in anspruchsvollem Gelände unternahmen. Sicher, der ohnehin schwierige Weg war noch etwas gefährlicher als sonst. Unter dem wolkenlosen Himmel ließ die bitterkalte Nacht den Tau gefrieren.

      »Die Rega fliegt Ihre Frau jetzt hinunter zur Schwägalp«, sagte der Leiter der Rettungskolonne. »Dort wird der Amtsarzt formell den Tod feststellen.« Der Gedanke kam Winterberg absurd vor. Wenn man etwas nicht mehr feststellen musste, dann den Tod seiner Frau. Er ließ sich erklären, dies sei nötig, um zu entscheiden, ob das Unglück als Unfall oder allenfalls als »Verschulden einer Drittperson« eingestuft werden sollte. »Mord?«, fragte Winterberg entsetzt. »Ich war alleine mit meiner Frau! Sie wollen mir unterstellen, ich hätte meine Frau …«

      »Ich unterstelle Ihnen gar nichts! Reine Routine.«

      »Sie ist gefallen, einfach so. Ausgerutscht! Gestolpert!«

      »Das klären wir später.« Väterlich legte der Mann Winterberg die Hand auf die Schulter. »Sind Sie fähig, zu Fuß zurück zum Säntis zu gehen und mit der Bahn hinunterzufahren? Ich begleite Sie. Wir bringen Sie nach Hause.« Winterberg stand unter Schock, ging aber gleich los. Vorsichtig, mit kleinen Schritten. Der Rettungsleiter wich nicht von seiner Seite.

      Im Polizeibericht stand später, Gabriela Winterberg sei bei einem Bergunfall ums Leben gekommen. Offensichtliche Beweise für ein Dritteinwirken wurden nicht gefunden. Dies verhinderte nicht das Aufkommen von Gerüchten, Robert Winterberg hätte sich seiner Frau entledigt. Natürlich flammten diese noch einmal auf, als dieser, nur knapp zwei Jahre später, seine zweite Frau heiratete, das viel jüngere ehemalige Fotomodell Cristina Forte.

      Cristinas Abend in St. Moritz

      Februar 2011

      Natürlich werde ich immer wieder gefragt: Wie habt ihr zwei euch eigentlich kennengelernt? Ich versuch’s meist mit der Wahrheit, zumindest was die Fakten angeht. Und das sind folgende: Ich war im Winter 2011 in St. Moritz bei einem Fotoshooting. Meine besten Modeljahre auf dem Laufsteg waren zwar vorbei, aber immer wieder kamen einzelne kleinere Aufträge: mal da Bademode in der Karibik oder eben mal dort Skimode in den Alpen. Ich war nicht mehr so dünn und angesagt wie die jungen Mädels, aber ich verkörperte immerhin den Typ Frau, der sich die sündhaft teuren Stückchen Stoff leisten konnte.

      Nach dem letzten Shooting und zum Abschluss der Arbeit im Engadin gingen meine Kollegin Vanessa und ich ausnahmsweise noch auf einen Absacker. Glauben Sie mir, das war wirklich eine Ausnahme. Ein Shooting ist nämlich harte Arbeit, vor allem im Winter: stundenlang rumstehen, frieren und dabei trotzdem gut aussehen. Wir waren froh, hatten wir den Job ohne Frostbeulen überstanden und gönnten uns auf dem Heimweg in unser sehr durchschnittliches und wenig mondänes Dreisternehotel einige Drinks in der Bar des Fünfsternehauses Palace St. Moritz. Im Ausgang wurden wir meist nach kurzer Zeit von Herren angesprochen und zu den Getränken eingeladen. Ja, da staunen Sie: So waren wir damals. Wir ließen uns einladen und gaben den Männern dafür einen Hauch von einem Flirt. An jenem Abend war nicht viel los in der Bar. Vanessa und ich rechneten schon mit dem Schlimmsten und zählten unsere Franken zusammen, in der Hoffnung, die beiden letzten Bloody Marys würden nicht den Rahmen unserer Barschaft sprengen. Da trat endlich ein älterer, aber durchaus gut aussehender Mann zu uns an die Theke.

      Vanessa und ich ergänzten uns optisch perfekt. Darum wurden wir beide auch für diesen Job gebucht. Sie kam aus Norddeutschland, hatte lange, glatte blonde Haare und eine Oberweite, die sämtlichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten zu trotzen schien. Ich hatte meine dunklen schwarzen Locken kunstvoll hochgesteckt und zeigte statt Dekolleté Bein. Da war für jeden Geschmack etwas dabei. »Hätten die Damen noch ein Plätzchen frei?« Der Mann versuchte gar nicht erst, originell zu sein. Kommentarlos rückten wir unsere Hocker etwas auseinander