Hutter schien in dem Moment aus einem geistigen Tiefschlaf aufzuwachen. Die Gastgeberin stand auf, kurz darauf Lisa Lehmann. »Tja, dann«, sagte Hutter und erhob sich mühsam aus den Niederungen des Ledersofas, das dabei sehr missverständliche Geräusche machte. Der Weg zurück zum Ausgang führte durch einen dunkel getäferten Gang und eine ausladende Treppe nach unten. Da Hutter nicht den Anschein erweckte, sich ordentlich zu verabschieden, sprang Lisa Lehmann ein. »Also vielen Dank, Frau Winterberg. Sie haben uns sehr geholfen.«
Hutter ließ beiläufig seinen Blick über die Wände in der Eingangshalle von Conradsberg gleiten, als er kurz innehielt. »Der Mann da?« Von der Wand her verfolgte der Hausherr mit strengem Blick die Verabschiedungsszene. »Der Robert?« Christina musste schmunzeln. Nicht zum ersten Mal machte das große Porträt Eindruck auf Besucher des Schlosses.
»Das wäre dann mein Mann.«
»Ach ja. Gut, gut. Und wo finden wir den jetzt?«, fragte Hutter.
Monika Reuter, die noch immer die Türklinke in der Hand hielt, ahnte, dass die Frage nichts Gutes bedeutete. Sie schaute bevorzugt TV-Krimis und witterte Unheil.
Der König als Cowboy
Vier Tage nach dem Mord
»Ich, als Letzter am Tatort?«
»So schaut’s aus. Ich habe die Aufnahmen der Überwachungskamera gesehen«, antwortete Sebastian Hess. Der schmierige Mittfünfziger war mit allen Wassern der Paragrafenwelt gewaschen. Die Übernahme von aussichtslosen Fällen im oberen Preissegment war seine Spezialität. Seit er Winterberg bei der Bierkartell-Sache und später beim Unglücksfall »Gabriela Winterberg« vertreten hatte, war er der Anwalt der Familie.
»Ja so ein Schmarren!«
»Der Hut. Der hat dich verraten.«
»Bin ja nicht der Einzige, der im Winter mit Hut rumläuft.«
»Aber ein Stetson, ich bitte dich!«
»Ich bezahl dich, und darum hast du mich nicht zu bitten, verdammt!« Winterbergs Wutausbrüche waren berüchtigt.
Hess musterte seinen Mandanten kritisch. Hoffentlich nahm sich der Mann in entscheidenderen Momenten zusammen. »Vergiss nicht, wo du bist. Du sitzt hier in U-Haft. Erster und bislang einziger Verdächtiger in einem Mordfall. Vielleicht sollte der Cowboy mit dem auffälligen Stetson spätestens jetzt langsam von seinem hohen Ross runtersteigen.« Hess genoss den kurzen Triumph.
»Du holst mich hier raus! Hörst du?« Winterberg legte so viel Schärfe wie möglich in seine Worte.
Hess lehnte sich entspannt zurück. »Ja, ich höre. Zum Beispiel gerne die Antwort auf meine Frage, ob du vergangenen Donnerstagabend im Kunstmuseum bei Amélie Cohen warst?«
Winterberg spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. Er ballte die Faust und wollte sie diesem selbstgerechten Arschloch vis-à-vis nur zu gerne ungebremst auf die Nase schlagen.
»Also?«
»Ja.« Winterberg besann sich auf seine Optionen. »Also ja: Ich war letzten Donnerstag im Kunstmuseum. Amélie, also Frau Cohen, wollte mit mir als Hauptsponsor noch die letzten Details für die Vernissage besprechen. Wem sonst noch zu danken war, ob ich das Wort ergreifen wollte. So Kleinigkeiten halt.«
»Und dann?«
»Was und dann? Bin ich nach wenigen Minuten wieder gegangen.«
Das immerhin stimmte mit den Bildern der Überwachungskamera überein.
»Und Frau Cohen?«
»Hat noch gelebt. Was denkst du denn?«
Hess dachte an die Unbeherrschtheit seines Gegenübers, sagte aber nichts dazu.
»Was ich denke? Das, mein lieber Winterberg, ist nicht die Frage. Die Frage ist: Was denkt der Haftrichter, der über deine Situation hier entscheidet.«
Monika stößt wen von der Bettkante
Für mich als Haushälterin ist es erstaunlich, wie sich die Energie im Haus geändert hat, seit Herr Winterberg weggesperrt ist. Es fühlt sich an, als ob es hier ein Vakuum gäbe, das niemand füllen kann. Sie müssen wissen, seine Präsenz dominiert einen Raum. Er ist groß, das haben Sie ja selber gesehen, aber ich sage Ihnen: Sein Ego übersteigt seine Körpergröße noch bei Weitem. Fragen Sie mal seine Kinder. Und dem schönen Geschlecht war er nie abgeneigt. Seine Frauen, ich mein die, mit denen er verheiratet war, die arrangierten sich und schauten weg, wenn Sie wissen, was ich meine. Das bleibt jetzt aber unter uns! Nicht dass Sie denken, ich wäre so ein Tratschweib, gell!
Die Frau Winterberg, also die jetzige, die neue, versucht zwar, so gut es geht, den Schein zu wahren. Sie spielt Alltag wie immer. Aber mich führt sie nicht an der Nase rum. Die ist doch total verunsichert. Wenn Sie mich fragen, zweifelt die nämlich auch an Roberts Unschuld. Darf sich das aber nicht anmerken lassen. Eine Frau Winterberg lässt sich nie etwas anmerken. Schon gar keine Zweifel. Ich sag’s Ihnen, wie’s ist: Ein Wunder ist’s! Ein Wunder, dass das alles so lange gut ging. Der Winterberg und seine Weibergeschichten. Was ich da alles gesehen und gehört hab in all den Jahrzehnten. Das geht auf keine Kuhhaut. Keiner Versuchung konnte der widerstehen, nicht einer! Und die Frauen? Ja, ich hab da so meine Theorie: Geld und Macht scheinen immer noch eine fatale Wirkung zu haben, das lähmt den präfrontalen Cortex, wo die Vernunft hocken tät, wenn sie denn zu Hause wäre. Und so kommt das eine zum anderen, wenn Sie wissen, was ich meine.
Schauen Sie: Ich habe mir nie viel aus Männern gemacht. Damals beim Maibaum in Altötting, da wo ich herkomm’, das habe ich ja schon erzählt, gell. Da habe ich früher schon bemerkt, wie die sich um mich bemühen, die jungen Burschen. Ich sag jetzt nicht, dass ich eine alte Jungfer bin, aber ich war schon immer sehr wählerisch. Darf ich offen reden? Ich find ihn halt einfach nicht so schön: den Mann an und für sich und sein Drumherum. Da kratzt und schabt er, und dann ist er zudringlich und dafür meist zu schwer. Mir war das immer eher unangenehm. Heut’ noch mehr als damals. Soweit ich mich erinnere. Ich habe das Thema abgeschlossen. Also die Sache mit den Männern.
Meinen Sie, ich habe nicht gemerkt, wie sich der Winterberg damals an mich rangemacht hat? Natürlich habe ich das gemerkt. Da kommt die Frau Winterberg zweimal hintereinander nieder, da war dann halt zweimal einige Wochen Pause. Also zwischen den beiden. Da tut sich der Winterberg natürlich schwer damit: sein Verlangen im Hosenstall zu halten. Da war er bei mir aber an der falschen Adresse, das sag ich Ihnen. Nicht, dass ich mal hätte Nein sagen müssen, so weit kam’s zum Glück nicht. Aber eine sensible Frau wie ich spürt auch schon Vorstufen dazu. Und das war schwierig genug. Der Winterberg war also der letzte Mann, den ich sozusagen von der Bettkante gestoßen habe. Aber es gibt ja auch andere Wege, glücklich zu sein. So emotional, im weitesten Sinne, wenn Sie wissen, was ich meine. Gell, das haben Sie schon vermutet! Selbst ist die Frau.
Die Enthüllung
Drei Tage nach dem Mord
»Wir machen das R I E S I G.« Gustav Fromm war außer sich. »Das ist ein Geschenk. So was bekommt man höchstens einmal in zehn Jahren. Höchstens, sag ich dir.« Fromm war eigentlich ein Scheiß-Chefredaktor, zu Höherem geboren, glaubte er von sich selbst, als zu einem Provinzblatt am Rand der Schweiz. Seine neoliberalen Ansichten machten ihn zwar zum Liebkind der Werbekunden aus Gewerbe und Industrie. Mit seiner Redaktion lag er sich aber regelmäßig in den Haaren, nicht nur politisch, sondern auch was Arbeitsethos wie Überstunden oder Bonuszahlungen anging. Oliver Tschanz schien die Euphorie seines Chefs nicht ganz zu teilen. »Was hockst du denn jetzt da wie sieben Tage Regenwetter. Weil Sonntag ist und du arbeitest? Pack schon mal die großen Buchstaben aus.« Tschanz rührte sich nicht.
»Von wem hast du denn den Tipp bekommen?«, fragte Fromm.
»Gustav, du weißt doch: Quellenschutz. Ich möchte dich und deine Freunde nicht in Verlegenheit bringen.« Damit spielte Tschanz auf die enge Verflechtung des Chefredaktors mit der Finanz- und Wirtschaftswelt an.
»Wie du meinst. Ich bedauere dein Misstrauen. Aber schütz