scheinbar ziellos ein neues Versteck suchten. »Ich glaube, unser guter Hausgeist war hier schon lange nicht mehr«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihrem Gast.
»Sie erlauben?« Amélie Cohen zupfte ein paar weiße Handschuhe aus ihrer Handtasche, schlüpfte mit ihren schlanken Fingern hinein und machte sich wortlos an die Durchsicht der Gemälde. Eine Prozedur, die mehrere Minuten dauerte. Ein Bild betrachtete sie dabei deutlich länger als die anderen. Etwas schien sie zu faszinieren. Vorsichtig fuhr sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die Oberfläche, hielt einen Moment inne und wiederholte die Bewegung. Fasziniert betrachtete Christina Winterberg ihren Gast, der ganz versunken schien. Sie wünschte sich insgeheim eine ähnliche Passion für sich selbst. Schließlich meinte Amélie Cohen bestimmt: »Ja, ich glaube, da haben wir ein Werk, das ganz wunderbar in die Ausstellung passt.«
Tödliche Kunst
Am Tag nach dem Mord: 11. Januar 2019
»Die Familie Winterberg 1944«, sagte Niedermann und deutete auf den leeren Rahmen. »Jemand hat das Bild aus dem Rahmen geschnitten. Sehr grob!« Der Direktor schien körperliche Qualen zu leiden beim Gedanken, dass der Täter mit einem Messer die Leinwand verletzt hatte.
»Ein Kunstraub also?« Hutter kannte sich nur mit Bildern von Tatorten aus und nicht mit solchen, die an Wänden hingen. »Käumlich«, entgegnete der Fachmann mit Blick auf den goldenen Rahmen, der ohne Bild jämmerlich protzig aussah. »Stammt aus Privatbesitz. Die Familie Winterberg. Sie verstehen?« Hutter verstand. Robert Winterberg war eine der schillerndsten Figuren auf der Schweizer Seite des Bodensees: Besitzer der gleichnamigen Brauerei, Präsident und großzügiger Sponsor des FC Kreuzlingen, der dank Winterbergs Zuschüssen knapp vor dem Aufstieg in die zweithöchste Fußball-Liga stand. Zusätzlichen Glanz verlieh ihm Christina Winterberg, seine zweite Frau, ein ehemaliges Fotomodell, die mehr aus Langeweile denn aus Überzeugung seit Jahren als Mäzenin verschiedener karitativer Einrichtungen wirkte. Ansonsten, wie es in ihrer alten Heimat hieß: Bella Figura.
»Eigentlich völlig wertlos, außer für die Familie selber, aus sentimentalen Gründen«, erklärte Niedermann.
»Ja aber warum stiehlt denn einer so was?« Hutter kratzte sich an der freien Stelle am Hinterkopf, deren Ausbreitung auch diverse Haarwuchsmittel nicht aufhalten konnten.
Darauf hatte der Museumsdirektor eine kreative Antwort: »Bestimmt nicht wegen des Werts des Bildes. Aber vielleicht als Packmaterial? Denn das zweite Exponat, das fehlt, ist ungleich wertvoller, um nicht zu sagen unbezahlbar.« Hutter fragte nicht nach. Er wartete, bis Niedermann von sich aus mit der Sprache rausrückte. »Ein Giacometti!« Der Museumsdirektor war sichtlich fassungslos: »Ein Riesenschaden. Unermesslich.«
Hutter tippte umständlich den Namen in sein iPad. Block und Bleistift waren ihm eigentlich sympathischer, aber er wollte vor den jungen Kollegen nicht als Ewiggestriger dastehen. »Vorname?«
»Ueli.«
»U-e-l-i G-i-a-c-o-m-e-t-t-i«, haute Hutter im Ein-Finger-System grob die Buchstaben ins Gerät.
»Neinein. Alberto! Alberto Giacometti«, korrigierte Niedermann. »Ich heiße Ueli.«
Hutter murrte vor sich hin. »Also Alberto. War der Italiener? Irgendwas mit Jesuskind?«
Niedermann blieb einen Moment sprachlos in Anbetracht von so viel Kunstignoranz. »Der war Schweizer, Herr Kommissar! Bündner, um genau zu sein. Ein Giacometti ist Millionen wert. Mindestens.« Niedermann riss die Augen weit auf, um die Aussage zusätzlich zu illustrieren. »Das Exponat hier war eine Büste aus Bronze.« Bronze? Gibt’s doch für einen dritten Platz, dachte Hutter, behielt es aber klugerweise für sich. »Also wurde das wertvolle Stück Metall möglicherweise in die Leinwand eingewickelt, um es beim Abtransport nicht zu beschädigen«, sagte der Direktor.
»Hmm. Das klingt logisch«, sagte Hutter, der seinen Sinn für Ordnung befriedigt sah.
Während die beiden Männer vor dem leeren Sockel und dem leeren Bilderrahmen standen, wurde die Leiche von Amélie Cohen fachmännisch entfernt. Niedermann wechselte deshalb das Thema: »Weiß man schon, wie? Weshalb?« Hutter schien mit den Gedanken wieder ganz woanders zu sein. »Die Frau Cohen! Amélie …«
»Ach so. Erschlagen, so wie’s aussieht. Von hinten auf den Kopf. Mit etwas Hartem. Vermutlich einem Stück Metall.« Nun wich die letzte Farbe aus Niedermanns Gesicht. Er schwankte zu einer der Bänke, die für Besucher bereitstanden, und setzte sich. Die Vorstellung war definitiv zu viel für ihn. »Ein Giacometti als Mordwaffe?«
Hier regiert der König
Acht Monate zuvor: 11. Mai 2018
Sanft schlugen die Wellen ans Ufer des Bodensees. Amélie Cohen und Robert Winterberg saßen in der Abendsonne auf der Terrasse des Restaurants Seehof. Beide stocherten lustlos im Fisch-Risotto. »Und wenn ich nicht bezahle?« Winterberg ließ seinen Blick unverfänglich über den See wandern.
»Das wäre sehr, sehr schade, aber kein Weltuntergang.« Amélie Cohen schaute Winterberg bestimmt in die Augen. »Dann sagen wir es ab. Dann muss der Niedermann halt was improvisieren.«
»Wie wär’s mit: ›Sonnenuntergänge im Wandel der Zeit‹?« Winterberg pickte die Fischstückchen heraus, Cohen schien es eher auf einzelne Reiskörner abgesehen zu haben. »Das ist viel Geld, auch für mich.« Nun fixierte Winterberg den Blick seines Gegenübers.
»Ich bitte Sie, Herr Winterberg.« Amélie versuchte ein Lächeln.
»Robert. Bitte! So weit waren wir doch schon einmal.«
»Also Robert …«
»Weißt du«, fiel er ihr ins Wort, »ich setze mein Geld gerne ein. Aber ich möchte einen gewissen Return on Investment sehen. Also mehr Geld. Oder meinen Spaß haben beim Ausgeben. Fällt dir dazu was ein?«
»Wozu?«
»Zu eins von beidem!« Winterberg tupfte sich die Lippen mit der weißen Stoffserviette ab und ließ seinen Blick erneut über die Weite des Sees schweifen.
Amélie Cohen tat so, als müsste sie nachdenken. »Return on Investment, R O I, Roi: wie König auf Französisch. Was will denn der König des Bodensees zurück? Gehört ihm nicht schon alles?«
Tatsächlich gehörte ihm auch der Seehof, wo sie zu Gast waren. Eines der besten Lokale weit und breit. Gebaut wurde das Haus am See kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Dann zerfiel es langsam, nach einer Reihe von schnellen Wirtewechseln, in den 1980er-Jahren. Knapp ein Jahr stand es sogar leer, bevor Winterberg es kaufte und für einen zweistelligen Millionenbetrag renovieren ließ. Dann suchte er sich einen der damals angesagtesten Spitzenköche. Seither florierte der Seehof. Es war ohne Zweifel ein kulinarisches wie auch wirtschaftliches Husarenstück.
Winterberg griff, um etwas Zeit zu gewinnen, zum Amarone, die Flasche zu 120 Franken, um nachzuschenken. Cohen hielt schnell die Hand über ihr fast leeres Glas. Winterberg schaute sie an. »Siehst du, liebe Amélie. Genau das meine ich.« Er hielt ihren Blick, bis sie langsam die Hand vom Glas nahm und Winterberg nachschenken durfte. Der ließ das süffige Rot provokativ langsam ins Glas laufen. Amélie Cohen schwieg und fixierte ihrerseits einen imaginären Punkt am Horizont. Winterberg genoss den Moment. »Meine Liebe: Ich denke, wir werden uns einig!«
Der König sitzt ein
Sechs Tage nach dem Mord
Ich staune: Wie klein meine Welt geworden ist. Ein Schritt geradeaus, eine Drehung um 90 Grad nach links, vier Schritte geradeaus, wieder im rechten Winkel nach links, ein Schritt, die Drehung und nochmals vier Schritte. Zurück zum Ausgangspunkt. Willkommen in meiner neuen Welt. Ja, lachen Sie ruhig. Der große Winterberg so klein. Spüren Sie sogar etwas Schadenfreude? Kein Problem, ich kann Sie verstehen.
Das ist mein neues Zuhause. Für 23 Stunden am Tag. Eine Zelle, wenige Quadratmeter groß. Eine Pritsche mit einer harten Matratze in der einen, eine Kloschüssel und ein kleines Lavabo in der anderen Ecke. Der Spiegel aus Blech, damit man sich nicht verletzen kann. Ein