einen Schritt, vier Schritte.
Man hat mir alles genommen. Alles, was mir lieb und teuer war: mein Ansehen, meinen Reichtum, meine Familie und vor allem meine Freiheit. Sagen Sie ruhig: Recht geschieht ihm. Aber ich sage Ihnen: Ich war’s nicht! Mein Anwalt meint, es sehe ernst aus. Die Polizei behauptet, die Beweislast sei erdrückend. Was die Medien berichten, weiß ich nicht, und was meine Freunde denken, ebenso wenig. Vielleicht ist das ein Vorteil in meiner Situation. Wenn es auch der einzige ist.
Darf ich mich Ihnen kurz vorstellen? Gestatten: Mein Name ist Winterberg. Bei den männlichen Lesern dürfte der Name sofort einen Reflex auslösen: »Noch ein Winterberger!« Genau. Das bin ich. Der Bierkönig. Die Brauerei kaufte mein Vater, Conrad Winterberg, vor 82 Jahren. Aber zur wahren Blüte kam das Geschäft erst, als ich es nach dem Tod von Vater übernahm. 30 Jahre ist das her.
Ein Schritt, vier Schritte, ein Schritt, vier Schritte. Das ist manchmal auch Glück, so eine Zelle. Da staunen Sie. Denn ein solches Leben bedeutet viel Zeit zum Nachdenken. Eigentlich ein Luxus. Einen, den ich trotz allem Reichtum nie hatte. Ich, ein Mann der Tat. Sie fragen sich sicher, wie ich in diese missliche Situation geraten bin. Nun, man verdächtigt mich, eine Frau erschlagen zu haben. Ein Vorwurf, der ernst zu nehmen ist, sagt mein Anwalt. Er muss es wissen, denn immer, wenn er mir gegenübersitzt, macht er ein besorgtes Gesicht. An seinem Honorar kann es nicht liegen.
Ich gestehe: Ich kannte diese Frau. Alle Welt weiß das, darum gibt es keinen Grund, es zu leugnen, sagt auch mein Anwalt. Sebastian Hess heißt er übrigens. Und teuer ist er. Aber das Beste, was man sich in meinem Fall leisten kann, leisten sollte, meint er.
Amélie Cohen ist der Name der Toten. Der Vorname wie aus dem französischen Film, den meine Frau so gerne sieht. Und der Nachname wie der kanadische Musiker, den ich sehr verehre. Übrigens: Ist der nicht auch gestorben? Schlechte Zeiten für Cohens.
Amélie und ich waren Geschäftspartner. Geschäftsfreunde sogar. Kein Wunder kannten wir uns, die Tote und ich. Sie war häufig zu Gast bei uns auf dem Conradsberg, dem Anwesen, das nach meinem Vater benannt wurde. Ich soll sie erschlagen haben, behauptet die Polizei. Deshalb sitze ich hier, liege viel und denke nach. Und manchmal gehe ich: einen Schritt zur Seite, vier Schritte nach vorn, einen Schritt nach links, vier Schritte zurück.
Giacometti schlägt zu
Am Tag nach dem Mord: 11. Januar
Uwe Drechsler hatte schlechte Laune. Das hatte er meist, seit er hier am See lebte. Das halbe Jahr Nebel, das andere halbe Jahr Touristen, die zum Einkaufen oder Flanieren kamen und ihm den Platz für das Bier an der Abendsonne streitig machten. Da fehlte ihm eine frische Leiche am Freitagnachmittag grad noch. Verlängertes Wochenende futsch, Ski-Ausflug in die Berge futsch. Dabei war die Nähe zu den Bergen, außer dem Zahltag in Schweizer Franken, etwas vom wenigen, was er als Ostdeutscher hier im Süden schätzte.
»Amélie Cohen, 38 Jahre, 1.79 Meter groß, 60 Kilo.« Eine attraktive Frau zu Lebzeiten, dachte er. »Getötet mit einem Schlag auf den Hinterkopf, mit etwas Hartem, einem Hammer vielleicht, einer Eisenstange, so was in der Art.« Lustlos rapportierte Drechsler weiter. »Keine weiteren Verletzungen, kein Geschlechtsverkehr in den letzten 24 Stunden, soweit ich das auf den ersten Blick feststellen kann. Außerdem scheint es keinen Kampf gegeben zu haben, Fingernägel sind frei von Stofffasern oder Hautabschürfungen. Ansonsten tipptopp manikürt. Nagellack ist purpurrot«, ergänzte er zufrieden.
Hutter warf Drechsler einen irritierten Blick zu. Er bezweifelte, dass die Medien heute Abend an Werbung für Frau Cohens Nagelstudio interessiert waren. Hutter brauchte dringend Informationen. Für 19 Uhr war eine Medienkonferenz im Foyer des Museums angesagt. Die Vernissage, die eigentlich für diesen Zeitpunkt geplant gewesen wäre, wurde offiziell, mit einem nebulösen Hinweis auf betriebliche Probleme, kurzfristig abgesagt. Und nachdem die Eltern der Kinder, die Cohens Leiche entdeckt hatten, erstaunlicherweise auch dichtgehalten hatten, war das Ableben der Kuratorin bis zur Stunde tatsächlich geheim geblieben.
»Todeszeitpunkt?«
»Das ist einfach: Zum Glück herrscht in einem Museum Tag und Nacht die gleiche Temperatur, zur Schonung der Exponate«, erklärte Drechsler mit einem süffisanten Lächeln. »Der tödliche Schlag jedenfalls, nur ein einziger, wurde am Donnerstagabend zwischen 20 und 22 Uhr ausgeführt. So weit leg ich mich fest. Genaueres gibt es Anfang Woche. Wenn mich jetzt der Herr Kommissar bitte entschuldigt.«
»Moment, können wir schnell … Läuft Ihr PC noch?«
Umständlich klaubte Hutter das iPad aus der Manteltasche und tippte die Notiz von dort in die Suchmaske des Computers. Da ploppte das Gewünschte auf. Eine 3-D-Aufnahme von Giacomettis Figur mit dem unaussprechlichen französischen Namen.
»Was ist denn das?«, fragte Drechsler.
»So eine Art Kunst«, antwortete Hutter unbeholfen.
Aufmerksam betrachtete der Gerichtsmediziner den Kopf der Figur, nahm Maß und verglich Größe und Form noch einmal mit den Aufnahmen der Wunde am Hinterkopf von Amélie Cohen. »Also, wenn Sie mich fragen …« Das tu ich doch schon die ganze Zeit, dachte Hutter ungehalten. »… das passt wie Arsch auf Eimer!«
Nachdenken über Frauen und Sex
8. Tag in U-Haft
Warum ist der Sex mit schönen Frauen oft so langweilig? Ja sehen Sie, auf solche Fragen komm ich hier beim vielen Nachdenken in der U-Haft. Mal schauen, ob Ihnen etwas Gescheiteres einfiele, wenn man Ihnen alles weggenommen hätte, was Sie auf andere Gedanken bringen könnte: kein Fußball. Keine Wirtschaftsmeldungen. Keine Politskandale. Überhaupt keine Medien. Informations-Detox. Aber ich schweife ab. Ich glaub ja, wenn die schönen Frauen wissen, dass sie schön sind, dann bemühen die sich weniger. Das ist überhaupt nicht frauenverachtend. Im Gegenteil: Kaum etwas wird von mir so sehr verehrt und geschätzt wie die Frauen.
Nehmen wir aus aktuellem Anlass Frau Cohen, die Amélie. Nach dem Moment in der Abendsonne am Seehof wussten wir beide, dass er unvermeidlich war: der Fick. Wir beide wollten was voneinander und beide hatten es im Angebot. So einfach war das. Sie wollte mein Geld, ich ihren Körper. Doch dann, na ja, wie gesagt: schöner Körper, aber wenig Bewegung, wenn Sie wissen, was ich meine. Das Geld floss trotzdem. Nichts da mit #metoo. Hören Sie mir damit auf! Amélie hätte ja aufstehen und mir den Rest Rotwein ins Gesicht schütten können. Kein Problem damit. Ich hätte es verstanden. Meine erste Frau meinte zu Lebzeiten immer: »Kompliment, dass du die Frauen so gut verstehst, fast so gut wie das Bierverkaufen.« Meine erste Frau: Die Gabriela war eine Gute, ein ganz lieber Mensch. Aber schauen Sie, was jetzt ist: Tot ist auch sie.
Zurück zur Geschichte mit Amélie. Ich sag’s Ihnen, wie es ist: Die Amélie blieb gleich beim ersten Treffen sitzen. Sie ließ sich nachschenken, auch noch von der zweiten Flasche. Und dann meinte sie, in dem Zustand sollte sie wohl nicht mehr nach Hause fahren. Da hatte sie natürlich recht. Und da bin ich auch ein Gentleman alter Schule: Anstelle eines Taxis offerierte ich ihr ein Zimmer im Seehof mit Blick auf Abendsonne und See. Und schauen Sie: wieder die Chance zu einem Nein, wieder nicht gepackt. Mein Fehler? Ja, urteilen Sie ruhig, selbstgefällig, wie Sie da sind in Ihrer Freiheit! Ich mach mir keine Vorwürfe. Mein Umgang war äußerst korrekt.
Übrigens: Sie hatte tatsächlich einen wunderschönen Körper. Die Proportionen, die Formen – alles stimmte. Und da werde ich ja subito zum Ästheten: Nie täte ich so was zerstören. Wo denken Sie hin. Das habe ich auch meinem Anwalt, dem Hess, gesagt. »Das, lieber Robert, behalt lieber für dich. Wenn bekannt wird, dass ihr beide intim wart, verbessert das deine Chancen auf Freiheit nicht. Im Gegenteil«, sagt er. Und das wegen einiger Male einvernehmlichem Sex. So weit sind wir schon, dass so was bestraft wird! Verstehe das, wer will. Ich gehör da nicht dazu. Vielleicht war das jetzt etwas leichtsinnig, dass ich das hier einfach so herumerzähle. Aber wir sind doch Freunde, oder? Sie und ich. Ich verlasse mich ganz auf Ihre Diskretion.
David und Goliath bei Mekka
April 2014
»Es ist angerichtet, meine Damen und Herren! Das Duell: David gegen Goliath. Noch pilgern die letzten