Richtungen«, erklärte er. »Zu denjenigen, die von Carsten Fecht verbal heftig attackiert worden sind, gehören auch Sie als Schriftführerin des SPD-Stadtverbandes Aurich.« Der Hauptkommissar rieb sich das unrasierte Kinn; es raschelte. »Wie sind Sie beide einander eigentlich in die Quere gekommen? Fecht ist Leeraner und hat seine Karriere dort gestartet. Sie, Frau Röben, waren stets auf lokaler Ebene in Aurich politisch aktiv. Wo waren da die Reibungspunkte?«
Christel Röben schaute zu Boden. »Ich stamme aus Leer«, sagte sie. »Da bin ich schon sehr früh mit Carsten zusammengerasselt. Das hat gereicht.«
»Was genau ist denn passiert?«, fragte Stahnke.
Christel Röben seufzte tief. »Ich war damals Juso-Vorsitzende in Leer. Die Jusos, das war so wie das Kinderplanschbecken im Schwimmbad, da durfte man auch mal etwas linken Schaum schlagen. Nahm ja keiner ernst. Aber man wurde beobachtet, ob man für eine Parteikarriere in Betracht kam, und wenn ja, für welche. Höhere Weihen oder Fußvolk. Nach oben ging es nur über den rechten Flügel. Wer sich nicht rechtzeitig die linken Hörner abgestoßen hatte, war gerade gut genug für Infotische. Rote Plastiknelken verteilen. Oder zum Plakatekleben. Mehr nicht.«
»Also waren Sie Ihrer Partei für eine Politkarriere nicht rechts genug? Ich meine, für eine Karriere über die Ortsebene hinaus?«
»Einmal das. Und ich bin eine Frau. Rote Fotze, Sie verstehen?«
»Was?« Stahnke zuckte zusammen. Das kam unerwartet.
Christel Röben lächelte bitter. »Das habe ich mir nicht etwa von Neonazis anhören müssen, falls Sie das vielleicht glauben. Die reden sicher auch so, aber das bekam man damals noch nicht mit, in den Zeiten vor Internet und Facebook. Heute glauben sogar deutsche Richter, dass man sich als Politikerin so was anhören muss.«
»Einige deutsche Richter«, korrigierte Stahnke.
»Schlimm genug.« Die blasse Frau schaute auf ihre Armbanduhr. »Sie wollten mir Fragen stellen. Ich möchte nämlich noch zur Kundgebung.«
»Das mit der roten, äh … also die Beleidigung, die Sie zitiert haben: Stammt die aus den gehackten Chats von Carsten Fecht?«
Christel Röben nickte. »So hat er mich aber auch schon Auge in Auge beleidigt. Anfangs natürlich nicht, damals hat er sogar für mich geschwärmt. Er ist mit 16 eingetreten, ich war 20 und im Juso-Vorstand. War mir schon fast peinlich, wie der an meinen Lippen gehangen und alles nachgeplappert hat! Aber dann ist er ins andere Fahrwasser geraten.«
»Ins rechte?«
»Na klar. Er hat schneller als ich gemerkt, wo es nach oben geht. Viel schneller!« Christel Röben blieb stehen und wandte sich Stahnke zu, schaute ihm direkt in die Augen: »Sie sind doch Leeraner, oder? Erinnern Sie sich noch, wie seinerzeit der Bundestagswahlkreis erstmals an die CDU ging?«
»Damals habe ich in Oldenburg gewohnt«, erwiderte der Hauptkommissar. »Hab’s aus dem Regionalfernsehen erfahren. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Es gab eine Podiumsdiskussion mit allen Kandidatinnen und Kandidaten im Ostfriesenhof. Für die CDU trat erstmals eine Frau an. Als die ihr Statement abgab, standen die SPD-Granden hinten an der Bar und haben gemeinsam gegrölt: ›Du hast die Haare schön, du hast die Haare schön‹. Verstehen Sie?«
»Die Geringschätzung?« Stahnke nickte. »Allerdings. Wurde auch prompt bestraft. Es gab eine krachende Niederlage für die SPD.«
»Davon hat sich die Partei hierzulande nie wieder erholt«, sagte Christel Röben. »Aber glauben Sie, irgendwer in den oberen Rängen hätte daraus Schlüsse gezogen? Kein Stück! Immer weiter so, das ist alles, was die können!«
»Und Carsten Fecht?«, hakte Stahnke nach.
»Der stand damals mit an der Bar! Und hat mitgegrölt, dieser Milchbubi. Hatte bestimmt die Hosen voll dabei.« Christel Röben schnaubte verächtlich: »Aber die Parteifürsten haben ihm auf die Schultern geklopft dafür. Das hat er sich gemerkt.«
»Seitdem sind Sie beide spinnefeind gewesen?«
»Mal mehr, mal weniger.« Die blasse Frau schaute auf ihre bunten Gummistiefel. »In letzter Zeit hat er mich wieder öfter aufs Korn genommen. Ohne konkreten Anlass eigentlich. Vermutlich bloß, weil ich als Frau ein Parteiamt bekleide.«
»Ich dachte, seit August Bebel sei die Gleichstellung der Frau für alle Sozialdemokraten selbstverständlich«, warf Stahnke ein.
Christel Röben lachte hell auf. »Ach, haben Sie gedacht! Von wegen. Man möchte glauben, dass Denkstrukturen doch vererbt werden. Viele Kerle in unserer Partei stecken von ihren Ansichten her jedenfalls noch tief im Mittelalter.«
»Würden Sie sagen, dass Sie Carsten Fecht gehasst haben?«, fragte der Hauptkommissar.
»Gehasst?« Sie hob ihren Blick. »Ach nein. Verachtet schon eher.«
»Und gestern Abend? Können Sie mir sagen, wann Sie wo waren?«
»Aha, jetzt kommt die Katze aus dem Sack!« Die Frau grinste schelmisch. Auf einmal wirkte sie zehn Jahre jünger. »Die Grillparty mit den Nachbarn, Sie erinnern sich? Die ging um 18 Uhr los, vorher haben wir bestimmt eine Stunde lang aufgebaut. Dieser große Grill ist verdammt schwer, ich hab’ mich dabei ein bisschen verhoben.« Sie machte rollende Bewegungen mit ihren schmalen Schultern. »Die Fete hat sich dann ziemlich hingezogen. Die meisten sind zwar gegen 21 Uhr gegangen, aber einige haben noch bis 23.30 Uhr zusammengesessen und diskutiert. Erst danach konnten wir abbauen.« Sie hob ihren schlanken Zeigefinger: »Und natürlich die restliche Glut ordnungsgemäß entsorgen! Viel war es eh nicht mehr.«
Von 18 Uhr bis Mitternacht, dachte Stahnke, das ist mehr als genug. »Und wer war außer Ihnen dabei?«
»Drei Mitarbeiter der Stiftung; die Namen kann ich Ihnen geben. Und die beiden kurdischen Familien natürlich.« Zischend sog sie Luft durch ihre Zähne: »Denen muss ich erst mal erzählen, dass es mit dem Umzug morgen nichts wird. Das wird hart, die hatten sich schon sehr gefreut. Außerdem werden die sich natürlich wegen der Brandstiftung ihre Gedanken machen. Wollen Sie deren Namen auch?«
»Danke, muss nicht sein, die Namen der Mitarbeiter reichen völlig.« Er zückte Block und Kugelschreiber, notierte Namen und Telefonnummern. Christel Röben verabschiedete sich und rauschte in ihrem dunkelroten Audi davon. Auch nicht gerade klimafreundlich, registrierte Stahnke automatisch. Und auch nicht wirklich rot. Eher rotbraun. Unauffällig, uneindeutig. Hatte die Frau Angst vor weiteren Beschimpfungen?
Unbemerkt hatte sich Kollegin Annika Brühl neben ihn gestellt. »Die Sozis haben es nicht leicht im Moment«, kommentierte sie. »Das ist in Hessen genauso. Hat ein paar Jahre gedauert, bis die Wähler gemerkt haben, dass von einer Seeheimer-SPD nun mal keine zukunftweisende Politik für Menschen vom Mittelstand abwärts zu erwarten ist. Jahre? Jahrzehnte! Aber jetzt haben sie es gemerkt, und sie werden es wohl so schnell nicht wieder vergessen.«
»Stimmt«, sagte Stahnke, »Hessen war ja auch mal rot! Aber sicher nicht so rot wie Emden. Dort hat die SPD über 60 Jahre in Folge den Oberbürgermeister gestellt – und bei der letzten Wahl haben die Emder den SPD-Kandidaten mit unter 20 Prozent vom Hof gejagt. Das war richtig bitter für den und seine Partei.«
»Und Carsten Fecht haben sie erschossen«, ergänzte Annika Brühl trocken. »Um den Fall darf ich mich ab morgen auch mit kümmern. Bin gespannt, wie weit ihr schon seid.«
»Heiße Spur ist noch Fehlanzeige, wir ermitteln in alle Richtungen«, gab Stahnke zu. »Darum bin ich auch hier.«
»Die Pöbelchats.« Die Hauptkommissarin nickte bestätigend. »Kommt unsere Stiftungsdame hier auch in Betracht? Die gut betuchte Audifahrerin mit Proletariatshintergund?«
»Vermutlich nicht, wenn ihr Alibi bestätigt wird«, erwiderte Stahnke. »Aber wie darf ich denn Ihre Bemerkung verstehen?«
Annika Brühl lachte wieder. »So steif, Herr Kollege! In unserem Fachkommissariat in Wiesbaden haben wir uns alle geduzt. Ich bin zwar vermutlich die Jüngere von uns beiden, aber – wie sieht’s aus? Ich bin die Annika.«