eher am Rande, das heißt, ich war längst nicht in jeder seiner Chatgruppen drin. Außerdem habe ich mich kürzlich von all den Entgleisungen distanziert.«
»Wie dem auch sei«, sagte der Hauptkommissar, »weiter im Text. Sie fuhren also in Ihren jeweiligen Pkws Richtung Loga, also nach Hause. Und dann?«
»Dann fuhr Carsten Fecht auf sein Grundstück und stellte seinen Wagen ab«, sagte Noack leise. »Und ich …« Wieder zögerte er.
»Sie nicht«, ergänzte Stahnke. »Ihr Wagen steht hier schräg gegenüber, mein Kollege hat ihn identifiziert. Sie sind an Ihrem eigenen Haus vorbeigefahren. Warum?«
»Ich wollte noch einmal mit ihm reden.« Noack schluckte. »Mit Fecht. Ob wir nicht doch … auf einen Nenner kommen könnten.«
»Genauer?« Stahnkes Blick hatte Noacks endlich eingefangen. Seine wasserblauen Augen entwickelten ihren gefürchteten Sog.
»Er fühlte sich von mir verraten!« Noacks Stimme klang jetzt kräftiger. »Meinte, ich wäre ihm in den Rücken gefallen. Dabei habe ich mich nur geschämt, ganz einfach, für das, was ich in unseren Chats alles von mir gegeben habe! Über dämliche Frauen, unfähige Dicke und tuntige Schwule. Ehrlich, ich weiß gar nicht, wo das herkam! Ich denke doch eigentlich gar nicht so. Aber wenn dann ein Wort zum anderen führt, dann stellt man plötzlich fest, dass das irgendwie … befriedigend ist, so über andere herzuziehen.«
Wie erstaunt er guckt, dachte Stahnke. Fast so, als würde er seine Gedanken außerhalb seines Kopfes entwickeln und sich dann wundern, was dabei herauskam.
Dabei war das beschriebene Phänomen doch durchaus bekannt. »Das Stammtisch-Syndrom«, sagte der Hauptkommissar. »Man lässt sich mitreißen, meistens nach tief unten, und wird belohnt durch das Gefühl der Zugehörigkeit. Die Frage wäre: zu was dazu? Hatte Fecht denn so viel zu sagen in Ihrer Partei, dass sich alles nach ihm richten musste?«
Noack wiegte den Kopf. »Jein«, antwortete er. »Sicher musste sich nicht alles nach ihm richten. Aber ein Machtzentrum war er allemal. Ein wachsendes. Das hatte schon eine gewisse Anziehungskraft.«
»Für Opportunisten«, sagte Stahnke.
»Sicher«, sagte Noack.
»Schildern Sie uns jetzt bitte den eigentlichen Tatverlauf«, forderte der Hauptkommissar ihn auf.
Noack tat es. Das kurze Gespräch zwischen Fecht und ihm, die harsche Zurückweisung, die Haustür, die von innen geöffnet wurde, dann der tödliche Schuss, so laut wie eine Explosion, der Schmerzensschrei, das Repetiergeräusch. Und seine Todesangst beim Weglaufen. Den braunen Umschlag erwähnte er nicht.
Kramer schaltete sich ein. »Herr Noack, gibt es jemanden, der den Zeitpunkt Ihrer Abfahrt vom Parkplatz auf der Nesse bestätigen könnte? Oder Ihres Aufbruchs von der Maifeier? Nur der Vollständigkeit halber.«
»Ja natürlich.« Der Stadtrat schien an der Frage nichts Befremdliches zu finden. »Friedo Adams kann das. Parteigenosse von Langeoog. Mit ihm habe ich den größten Teil des Abends zusammengestanden.« Noack runzelte die Stirn: »Ach nein, kurz vor meinem eigentlichen Aufbruch ist er selber gegangen, zur Toilette. Aber er kann zumindest bestätigen, dass ich nicht ausreichend lange vor Carsten Fecht von der Feier weggegangen sein kann, um hier in sein Haus einzudringen und ihn zu erwarten. Mit einer Waffe in der Hand.«
»Warum hätten Sie das tun sollen?«, fragte Stahnke. Er gab sich ebenso unbeeindruckt wie Kramer, der seine bekannt stoische Miene aufgesetzt hatte.
»Sie erfahren es ja sowieso«, sagte Lars Noack. »Kurz vor meinem Aufbruch habe ich von Mareike Feeken, einer Lokaljournalistin, erfahren, dass Fecht vorhatte, weiteres Material zu veröffentlichen, das seine diversen Chatpartner in ein deutlich schlechteres Licht rücken würde als ihn. Und einige andere Leute dazu. Das zu verhindern, hätte ein starkes Motiv sein können. Ich gebe auch zu, dass mir so etwas mal kurz durch den Kopf geschossen ist. Aber ich verfüge ja gar nicht über eine Schusswaffe, und ich bin auch nicht so gestrickt.«
»Ist vielleicht Friedo Adams so gestrickt?«, fragte Stahnke.
»Friedo? Wieso?«, fragte Noack zurück, die hellgrauen Augen erstaunt aufgerissen. »Keine Ahnung. Da sollten Sie ihn besser selber fragen.«
Der Hauptkommissar nickte. »Das machen wir ganz bestimmt«, sagte er. In Gedanken legte er eine Namensliste an. Noack stand mit darauf. Du bist cleverer, als du uns glauben machen willst, dachte er. Wir sind noch nicht miteinander fertig.
»Erst einmal vielen Dank«, sagte er und erhob sich. »Sie können jetzt nach Hause gehen, wir melden uns dann bei Ihnen. Ach ja – vergessen Sie Ihr Auto nicht.«
Als Noack draußen war, sagte Stahnke zu seinen Kollegen Kramer und Ekinci: »Morgen ist der 1. Mai. Das heißt Tag der Arbeit für uns. Morgen früh schwärmen wir aus.«
3.
Morgens halb acht auf Langeoog, dachte Lüppo Buss, da war die Welt noch in Ordnung! Zumindest sah sie so aus. Die Insel lag herausgeputzt in der Morgensonne, der Wind wehte ausnahmsweise lau, die Luft war frisch, die Möwen kreisten noch abwartend. Ruhe, Feiertagsfrieden, Idylle überall.
Klar, die Badegäste schliefen ja auch noch in ihren Pensions- und Hotelbetten. Und die Tagestouristen waren noch nicht da. Die Inselbahn aber näherte sich bereits. Der Inselpolizist seufzte, denn er wusste, was kommen würde.
Die Diesellok rollte an ihm vorbei, die bunten Waggons kamen zum Stehen. So lange hatten viele Passagiere aber gar nicht gewartet. Sie drängelten sich schon auf den offenen Plattformen, hatten die eisernen Pforten bereits entriegelt und sprangen noch während der Fahrt ab, sobald es ihnen vertretbar erschien. Lüppo Buss biss die Zähne zusammen. Der Anblick seiner adretten Uniform hielt hier niemanden von verbotswidrigem Tun ab, ebenso wenig wie der seiner beachtlichen Unterarmmuskeln. Was würde wohl passieren, wenn er die Leute stoppen und ermahnen würde? Oder ihnen gar Bußgeldbescheide ausstellte? Er mochte es sich nicht vorstellen. Auf jeden Fall könnte er noch am selben Tag sein Versetzungsgesuch einreichen.
Dabei war das hier ja überwiegend die arbeitende Bevölkerung, Feiertag hin oder her. Die Leute, die zwar auf Langeoog einen Job hatten, aber nicht genügend Geld damit verdienten, um sich eine Wohnung auf der Insel leisten zu können. Sie mussten sich irgendwo auf dem Festland einmieten und täglich mit der Fähre hin und her pendeln. Das kostete viel Zeit und Nerven, malte dicke dunkle Ringe unter verquollene Augen und machte schlechte Laune.
Dabei konnten die Langeoog-Pendler noch von Glück sagen, dass es hier eine verlässliche Fährverbindung mit festem Fahrplan gab. Auf manchen Nordseeinseln war das anders, etwa auf Juist oder Spiekeroog, wo die Fähre abhängig vom tidebedingten Wasserstand war. Tja, dachte Lüppo Buss, schlimmer ging es immer. Aber wurde es auch irgendwann einmal wieder besser? Kaum anzunehmen, angesichts der ins Unermessliche steigenden Immobilienpreise.
Was natürlich an den immer aufs Neue nachdrängenden Touristenmassen lag. Und wenn die erst anrollten, mit den späteren Fähren und Zügen, dann würde hier auf dem Langeooger Bahnsteig das nackte Chaos ausbrechen. In dicken Trauben würden sich die Leute an der Gepäckausgabe drängen, Ellbogen gespreizt und Stimmen erhoben, getrieben von einem gemeinsamen Gedanken: Ich! Jetzt! Zuerst! Und weil alle sich selbst die Nächsten waren, würde erst einmal keiner zum Zuge kommen. Die mal flehenden, mal ärgerlichen Durchsagen der Bahnsteigaufsicht würden wirkungslos verhallen. Bis dann irgendwann doch jeder irgendwie an seine Gepäckstücke gekommen war. Und bis zum nächsten Mal.
Lüppo Buss schüttelte sich diese Gedanken aus dem Kopf; deswegen war er nicht hier. Sondern wegen des hochgewachsenen Mannes, der gerade aus dem roten Waggon stieg, sich dabei im Gehen abwechselnd räkelte und die Augen rieb.
Der Inselpolizist trat auf ihn zu. »Moin, Friedo! Hast du ein paar Minuten für mich?«
Friedo Adams zwinkerte irritiert und blickte auf Lüppo Buss herab. Bis auf den Größenunterschied waren sich die beiden Männer nicht unähnlich: beide mittelblond, beide sonnengebräunt und windgegerbt, beide von schlanker, aber kräftiger Statur mit auffallend muskulösen Unterarmen, die sie ebenfalls