Einzlkind

Harold


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      Mr. Hopkins lässt den Satz einfach so stehen. Harold weiß nicht recht, was er ihm damit sagen möchte, aber es klingt nicht unbedingt nach einer Gehaltserhöhung. Auch der Hinweis auf den Bogen, der überspannt sein soll, stellt Harold vor ein Rätsel. Zweimal war er in diesem Monat zu spät, das eine Mal ist der 23er ausgefallen, das andere Mal auch. Die vergorene Fischsuppe, die vor zwei Wochen über seine Theke ausgekippt wurde, war ein Fremdanschlag, die Täterin ist bis zum heutigen Tag unbekannt, auch wenn Harold eine ungenaue Ahnung verspürt. Auch der noch lebende Frosch, der zwischen den Hühnerschenkeln und dem argentinischen Rindergulasch umherhüpfte und dem eine unbekannte Person eine goldene Plastikkrone auf den Kopf getackert hatte, ist rein rechtlich gesehen als höhere Gewalt einzustufen.

      Harold stößt leicht auf, weil ihm die anatolische Mittagsmahlzeit auf den Magen schlägt und versucht beiläufig den knoblauchhaltigen Atem hinwegzuwedeln, was ihm misslingt. Mr. Hopkins lehnt sich zurück, ohne augenscheinlich entspannt zu wirken. Das Gespräch nimmt einen Lauf, dem Harold nicht mehr folgen kann, er schielt aus dem Fenster, der Regen wird stärker und legt einen grauen Schleier über die Stadt.

      »Harold? Wie lange sind Sie jetzt schon bei uns?« Mr. Hopkins blättert erneut in den Unterlagen, die auf seinem Schreibtisch für ein wenig Unordnung sorgen, seine Gesichtszüge verraten Überraschung, er blickt wieder auf: »Siebzehn Jahre.«

      Siebzehn Jahre, elf Monate, drei Wochen, vier Tage und drei Stunden.

      »Das ist eine lange Zeit. Haben Sie schon mal über eine Veränderung nachgedacht?«

      Harold kann sich nicht erinnern.

      »Harold«, Mr. Hopkins wirkt gereizt, »es ist Zeit für eine Veränderung.«

      Oh.

      Wäre Mr. Hopkins Ingrid Bergman, würde Harold jetzt wie Humphrey Bogart nach einer Zigarre fragen. Leider raucht Harold nicht. Und Mr. Hopkins zeigt keinerlei Ähnlichkeit mit Ingrid Bergman, im Moment jedenfalls. Der Regen nimmt zu, die Tropfen prasseln jetzt wütend gegen die Scheiben, als wollten sie diese einschlagen, als könnten sie nicht verstehen, dass sie ausgesperrt sind, dass man sie hier nicht haben will. Wahrscheinlich, weil sie nass machen. Mr. Hopkins interessiert sich nicht für den Regen, er tippt mit seinem rechten Zeigefinger auf den Tisch und versucht den Rhythmus zu halten, schließlich ist er in seiner Freizeit Schlagzeuger in eine Dixieland-Band, mit der er beinahe einmal in New Orleans gespielt hätte, wäre der Veranstalter nicht wegen unsittlichen Verhaltens inhaftiert worden.

      »Praktisch sofort.«

      Oh.

      Das Telefon klingelt. Mr. Hopkins nimmt den Hörer ab.

      »Ja?«

      Pause.

      »Nein.«

      Pause.

      »Ja.«

      Pause.

      »Nein.«

      Pause.

      »Nein.«

      Pause.

      »Nein!«

      Pause.

      »Ja.«

      Er legt wieder auf. Er scheint nachzudenken, und es sieht nicht so aus, als gehöre das Nachdenken zu Mr. Hopkins’ Lieblingsdisziplinen.

      »Sie sind entlassen.«

      Harold würde jetzt sehr gerne nach Hause gehen und eine Kopfschmerztablette nehmen.

      »Sie sollten jetzt nach Hause gehen und eine Kopfschmerztablette nehmen.«

      3

      Der Bus ist wieder zu spät. Der Verkehr in London ist ein unberechenbares Monstrum, er kümmert sich nicht um persönliche Schicksale, auch dann nicht, wenn das persönliche Schicksal Harold heißt. Der Regen macht Überstunden, und im Schutz der Überdachung zwängen sich die Wartenden in intimer Fremdheit gegeneinander. Die Überdachung bietet Platz für zwanzig Personen. Harold ist die einundzwanzigste. Sein Regenschirm hat den letzten Böen nicht mehr standhalten können, mehrere Streben sind eingeknickt, hängen herab oder stehen senkrecht gen Himmel, splitternackt, ein Gerüst, mehr nicht. Bäche stürzen am Nacken hinab und bilden Pfützen in den Schuhen, die bei jedem Schritt schmatzende Geräusche von sich geben. Tage werden vergehen, bis sie wieder trocken sind. Die Sichtweite beträgt kaum mehr als zehn Meter, und obwohl es noch früher Nachmittag ist, haben die meisten Autos ihre Scheinwerfer schon in Betrieb, wie Raubtieraugen spähen sie nach Fluchtmöglichkeiten für ihre Insassen, die sich kleine Gassen erhupen, um wegzukommen, raus hier. Hinterrücks duftet ein Burger-Imbiss betörend Bratenfett auf die Gehwege, und Harold muss niesen. Noch bevor das Taschentuch aus der rechten Hosentasche seine Nase erreicht, ist es nass genug, um eine Badewanne zu füllen, würde man es auswringen. Arbeitslos. Das ist ja keine Sünde mehr, heutzutage, mehr ein Zeitproblem. Oder?

      Der 31er stottert sich grummelnd in die Haltebucht, die Türen quietschen auf, und Harold wird von der wartenden Meute in den Bus gestolpert. Harold versucht, seine Oyster Card aus dem Portemonnaie zu ziehen, doch der Fahrer winkt nur müde ab, Schweißperlen tropfen ihm in Bächen von der Stirn und die einsteigende Meute schubst ihn weiter durch die Körperreihen. Jeder einzelne Schritt wird mit einem Murren und Zischen begleitet, niemand will seinen Platz aufgeben, erst recht nicht jene, die als Erste da waren, die ihren Platz hart erkämpft haben und den Emporkömmlingen nur Verachtung schenken. Tiefste.

      An einen Sitzplatz ist nicht zu denken, es sei denn in einer fiebrigen Wahnvorstellung, die Luft ist dick wie Butter und die Nässe stärkt den Dunst der Geschlechter. Als der Bus wieder Fahrt aufnimmt, werden die Körper umhergeschubst, und feuchter Schweiß mischt sich durch die Reihen der Haltlosen, die nunmehr auch die entfernteste Erinnerung an Freundlichkeit aus ihrem Leben löschen. »Jetzt wäre ich gerne Selbstmordattentäter«, murmelt eine junge Frau, die in einer flanellgrauen Trainingsjacke und mit einer roten Pudelmütze bekleidet neben Harold steht, aber eine Bombe hat sie gerade nicht dabei, nicht einmal ein Küchenmesser, dafür aber trägt sie einen Ring in der Nase.

      Nächster Halt Pembridge Road.

      Die Stimmung wird mit jeder Kurve angespannter, niemand unterhält sich, Wörter haben einfach keinen Platz in dem fahrenden Blech voller Menschen, deren Hautfarbe das Grau des Wetters angenommen hat. Das Aus- und Einsteigen wird zur Kriegserklärung, ein Minenfeld der Gefühle, ein falscher Schritt und es ist aus. Harold versucht, niemanden direkt anzublicken, die Gesichter nur kurz streifen, keine Aufmerksamkeit erregen, die kleinen Dinge wahrnehmen, sich festhalten. Vanessa liegt halbnackt auf dem Schoß eines älteren Herrn und preist ihre Vorzüge mit dem Untertitel: »Jetzt wird zurückgeschossen«. Als der ältere Herr bemerkt, dass die junge Selbstmordattentäterin ihn mit kalten Blicken durchbohrt, dreht er den Daily Mirror um: »16-Jähriger läuft Amok in überfüllter Schulkantine«.

      Harold versucht, auf seine Schuhe zu starren, keine drei Jahre alt, braunes Wildleder, an den vorstehenden Nähten schon ein wenig mitgenommen, sonst aber sehr schön.

      Nächster Halt Chepstow Road.

      Im hinteren Teil schreit ein Säugling neue Zähne herbei und hat Glück, dass die Kindstötung gesetzlich verboten ist. »Warum eigentlich?«, fragt ein grüner Aufkleber neben dem Notschlaghammer. Häuserblöcke fliegen im dichten Regen vorbei, ein unscharfes Foto als Erinnerung, es bleibt nichts, nur alles in Bewegung, und immer diese Veränderungen.

      Der Morgen hatte noch recht angenehm begonnen, kein Ausrutschen der Rasierklinge, der Kaffee in einem exzellenten Verhältnis zwischen Wasser und Bohnen, und der Rottweiler von Mr. Rooney lag mit einer Magenkolik danieder. Harold war ein Springbrunnen der guten Laune und beinahe hätte er sogar gelächelt.

      »Haben Sie ein Problem mit Drogen?«, fragt ein gelber Aufkleber mit schwarzer Schrift und einer Telefonnummer am rechten unteren Rand. Eigentlich nicht.

      Nächster Halt Westbourne Park.

      Aussteigen. Aussteigen? Theoretisch ist es unmöglich, dass der Bus in den letzten zehn Minuten voller geworden ist, praktisch schon. Noch zweihundert Meter. Harold blickt nach links