Trauerspiel«, mischt sich Mrs. Merrythought kurzzeitig ein. Mrs. Cardigan betrachtet die kleinen bernsteinfarbenen Klümpchen auf ihrem Löffel. Sie hält sie ins Licht, riecht vorsichtig daran und lehnt sich steif zurück.
»Meine Liebe, der Kandis ist aber nicht von Winterbottom.«
»Hat sie einen Freund?«
»Bisher ist mir dieser Umstand nicht bekannt. Gleichwohl sie eine erotische Ausstrahlung hat.«
»Netzstrümpfe?«
»Auch.«
»Lippenstift?«
»Bergamo Rot.«
»Wie alt ist der Junge?«
»Ich habe noch nie einen Elfjährigen gesehen, der so sehr aussieht wie acht.«
»Kann er sprechen?«
»Er behauptet, ein Genie zu sein.«
»Das hat mein Mann auch immer behauptet.«
»Der Klempner?«
»Der Geschäftsführer des landesweit größten Unternehmens für Heizungszubehör.«
»Ein Genie?«
»Hat er behauptet.«
»Warum?«
»Er hat gemalt.«
»Womit?«
»Wasserfarbe.«
»Bilder?«
»Es gab eine Ausstellung in der Kantine. Die Mitarbeiter waren begeistert.«
»Großartig. Hast du Denise Richardson letzte Woche gesehen?
»Mit ihrer neuen Frisur?«
»Friseure sind schlimmer als Terroristen.«
»Mein Enkel ist jetzt auch Terrorist.«
»Ach ja?«
»Ja, er spielt in einer Musikkapelle.«
»Und was spielen sie so?«
»Ich glaube, sie nennen es Punkrock.«
»Punkrock? Die mit den Sicherheitsnadeln in den Ohren?«
»Nein, das war früher.«
»Und heute?«
»Sind die Sicherheitsnadeln im Genitalbereich.«
»Na, wunderbar.«
»Nicht? Harold, Kreuz Bube.«
»Ein Trauerspiel«, mischt sich Mrs. Merrythought kurzzeitig ein.
»Harold, können Sie mir morgen vier Wachteln zurücklegen?«, fragt Mrs. Cardigan.
»Er ist entlassen«, antwortet Mrs. Davenport. »Ich habe es heute Nachmittag von Elise aus der Fischabteilung erfahren, als ich den Karpfen für das Wochenende holen wollte.«
»Oh, das ist ja furchtbar. In dem Alter eine neue Anstellung zu finden, ist nicht einfach.«
»Robert, die neue Begleitperson meiner Tochter ist erst achtunddreißig und findet keinen neuen Arbeitsplatz.«
»Schlimme Zeiten.«
»Die Globalisierung.«
»Machst du die Wachteln mit Rosinen?«
»Natürlich. Nein, nein, Harold, Karo sieben.«
»Ein Trauerspiel«, mischt sich Mrs. Merrythought kurzzeitig ein. Mrs. Cardigan dreht sich schräg zur Seite und bedenkt Mrs. Merrythought mit einem Blick, der in allen Sprachen dieser Welt mit dem Wort Vernichtung übersetzt werden kann.
»Was?!«
Wenn Mrs. Merrythought sich in die Ecke gedrängt fühlt, zündet sie sich einen Zigarillo an, das wird zwar nicht gerne gesehen, aber toleriert. Es ist die einzige Eigenschaft, die sie ihrem Vater abgeschaut hat, damals, 1941, als sie im Luftschutzbunker saß und die Nationalsozialisten die Stadt mit Bomben bewarfen. Vierzehn war sie, kalt war es und Hunger hatte sie und ihre ersten Tage hatten sich in sintflutartiger Weise bemerkbar gemacht, und da ihre Mutter schon tot war, fragte sie ihren Vater, der im Keller direkt neben ihr saß, ob er wisse, warum Gott den Frauen dieses schwere Los aufgebürdet habe, und ob er etwas dagegen unternehmen könne. Der Vater war ein kräftiger Mann mit dichtem Bartwuchs, der in einem Stahlwerk Brückenpfeiler fertigte und der, wenn er Hallo sagte, einen geschwätzigen Tag hatte. In einer kleinen Silberdose bewahrte er die hellbraunen Glimmstängel auf, von denen er jeden Tag einen nach dem Abendessen rauchte, die er immer bei sich trug, von denen er nie einen abgab, schon gar nicht seinen Kindern. Bis auf diesen einen Tag im April 1941, an dem er keine Antwort geben konnte und an ihrer statt seiner einzigen Tochter einen Zigarillo gab und sich zur Seite drehte. Seither hat Mrs. Merrythought bei jedem Zug an dem herb duftenden Tabak das untrügerische Gefühl, sie wäre unsterblich und könne es mit jedem aufnehmen, selbst mit Mrs. Cardigan.
»Es ist gegen die Regeln, Harold zu sagen, welche Karte er spielen soll.«
»Ist das so? Wärst du dann so gütig, mir die Stelle im Regelwerk zu zeigen, in der es heißt: Es ist verboten, Harold zu sagen, welche Karte er spielen soll.«
»Anderen Spielern.«
»Harold ist kein Spieler. Harold hält Karten.«
7
Harold durfte früher gehen. Das Spiel ist wieder einmal, wie es Mrs. Cardigan formulierte, an ihm vorbei gelaufen, mehrmals und ohne sich umzudrehen. Wer auch immer mit Harold in einem Team war, verlor, in der Regel hochhaushoch. Harold macht sich nichts aus Niederlagen, Eigenschaften wie Ambition und Ehrgeiz hat er nie entwickeln können, schon gar nicht für ein Kartenspiel, von dem er immer annahm, dass es dem Zeitvertrieb diene, wenngleich ihm die Zeit beim Spiel immer endlos lang vorkommt. Auf dem Heimweg hat er nur daran gedacht, dass er pünktlich zuhause sein würde, und das stimmte ihn frohgemut, denn auf BBC sollte nach Jahren der Entbehrung wieder Frühstück bei Tiffany laufen. Einer seiner drei Lieblingsfilme, für immer und ewig, zeitlos und unantastbar. Harold verehrt Audrey Hepburn, aber noch mehr liebt er Holly Golightly für die Unendlichkeit in ihren Augen und die Art und Weise, wie sie ein Cocktailglas in ihren zierlichen Händen zu halten versteht. Er hat den Fernseher eingeschaltet, einen Earl Grey aufgegossen und das Stück Erdbeertorte, das Mrs. Merrythought ihm für daheim mitgegeben hat, auf einem weißen Kuchenteller nebst Gabel drapiert. Er ist beinahe glücklich. Er hat gar nicht mitbekommen, dass Kempowski mit hineinhuschte, als er die Tür aufschloss.
Ein wenig lebt es noch. Das Geschenk. Es ist das dritte diese Woche. Die winzigen Gedärme hängen schon halb heraus, das linke Ohr ist als solches nicht mehr zu erkennen, ein zerfetztes Etwas, es wird damit nicht mehr hören können. Haben Sie Schmerzen? Die Augen sondern eine milchige Flüssigkeit ab, als wolle sich alles entleeren. Die seltenen Atemzüge lassen den Brustkorb vibrieren, der selbst als Schlachtabfall keine gute Figur mehr macht. Am Morgen hat es wahrscheinlich noch gespielt. Sind Sie öfters müde? Die Chance, noch einmal zu entkommen, ist geringer, als von einem Nylonfaden erschlagen zu werden. Es sind die letzten Augenblicke in dieser Welt, und es weiß Bescheid, es fiept nicht einmal mehr, Abschied nehmen. Rufen Sie uns an.
Die Tasse in Harolds Händen dampft den noch immer heißen Tee in den Raum, ein Ort nun der Folter, professionell und routiniert, jeder Griff ein Kunststück. Harold schaut Kempowski an. Er leckt sich die rechte Pfote, an der etwas hängt, von der etwas tropft. Jetzt noch besser! In seinen Augen schimmert Gleichmut, fast so etwas wie Mitleid, er macht nur seinen Job, das muss es verstehen. Es kann sich nicht mehr bewegen, es kann nur noch da sein. Mehr Glanz für die Haare. Harold nimmt seinen rechten Hausschuh, von Tesco, Kunstleder, harte Sohle. Es sind zwei Schritte, Kempowski macht einen kleinen Sprung zur Seite, zeigt sich aber interessiert. Das ist der Sound der Siebziger. Harold holt aus und blickt ein letztes Mal in seine Augen, er muss schlucken, ein Rest von Erdbeergelee schmeckt sich durch, es ist wohl besser so.
Laut ist es, und was übrig bleibt, kann sich nicht mehr sehen lassen und muss entsorgt werden. Und jetzt unser