Einzlkind

Harold


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wenngleich sie ihn hinterrücks als Dorftrottel mit dem Charme einer Sardinenbüchse bezeichnete. Rouge hatte sie aufgetragen, mehr als sonst, und eine weiße Nelke in ihr graues, zu einem Dutt geschwungenes Haar gesteckt. Doch der Premierminister hielt ausgerechnet vor Bradleys Friseursalon an, wo Lenny Ferguson sich mit körperlich fragwürdigem Einsatz in die erste Reihe komplimentiert hatte und den Moment kommen sah, sein aufstrebendes Kleingewerbe der breiten Masse bekannt zu machen und neue Käuferschichten zu erschließen. Lenny Ferguson, der Anlageberater der Genussmittelindustrie, Grandmaster Flash feinster Waren aus Holland, Nepal und Afghanistan, multilingual, Gucci, Dolce und Gabbana. Eine kaufkräftige Klientel zog vor seinen kurzsichtigen Augen auf, klopfte an seine Tür, morgens, mittags, abends, ein Kommen und Gehen wie im Zoo und er, Lenny Ferguson, war die große Attraktion, der Bill Gates unter den Orang Utans. Im Nebel der rosigen Zukunft tat er seinen Werbeslogan kund, aber der Premierminister schien kein Interesse an Erdnussflips zu haben, ganz im Gegenteil, er wandte sich mit fragendem Blick an seine Berater, die wiederum die Sicherheitskräfte von der Leine ließen, die wiederum Lenny Ferguson unsanft zur Seite schubsten, woraufhin ein kleiner Tumult entstand und Lenny Ferguson, ein Kämpfer vor dem Herrn, mehrfach mit seiner Nase auf die Fingerknöchel der großen Männer in den dunklen Anzügen schlug. Die Fotografen waren schier aus dem Häuschen, und am nächsten Tag war nicht der Premierminister auf der Titelseite der Sun zu sehen, es war Lenny Ferguson, wie er in den Absperrgittern lag und das Blut aus seiner Nase tropfte, das linke Auge schon ein wenig angeschwollen, aber für das Foto noch das Lächeln eines Siegers zaubernd. Die Schlagzeile lautete: »Willkommen an der Heimatfront!«

      Seither gibt es im Viertel keine Politikerbesuche mehr, und Harold nimmt diesen Umstand mit einer gewissen Erleichterung wahr, sind ihm doch von klein auf das Laute und die Masse stets suspekt gewesen, und daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert, ganz im Gegenteil. Der Mensch an sich ist ihm keine große Belastung, aber schon eine Gruppe von mehr als drei an der Zahl bereitet ihm ein Unbehagen, das er gar nicht näher zu definieren weiß, es ist nur so ein Gefühl, in der Magengegend, zwischen Leber und Milz vielleicht, und tränke er Alkohol, wäre er vor jeder Busfahrt und vor jedem Einkauf sturzbetrunken, aber er trinkt keinen Alkohol mehr, seit man ihn bei einer Betriebsfeier vor zwölf Jahren dazu nötigte und er infolgedessen auf dem Heimweg gegen jeden auffindbaren Laternenmast stieß, zweimal über einen Hydranten fiel und, als er dann endlich mit dreistündiger Verspätung zuhause ankam, sich so oft übergab, dass es ihm wie ein Wunder vorkam, überhaupt noch am Leben zu sein.

      Dies mag vielleicht auch der Grund dafür sein, warum Harold im Großen und Ganzen nicht in der Stimmung für eine Partie Bridge ist, was aber wenig von Bedeutung ist, da Harold nie in der Stimmung für eine Partie Bridge ist. Harold wurde einberufen, als Walter Mayhew der Gesellschaft vor einem Jahr davonstarb und aus dem Bekanntenkreis der illustren Runde mit Mrs. Davenpot, Mrs. Merrythought und Mrs. Cardigan kein adäquater Ersatz rekrutiert werden konnte. Harold wird in guten Momenten als endgültige Zwischenlösung toleriert, in schlechten als Prüfung Gottes angesehen. Dabei ist Bridge ein Spiel, von dem Harold weiß, dass es mit Karten zu tun hat, derweil ihm Strategie, Farben und Zählweise stets ein ähnliches Mysterium sind wie das Alte Testament, in dem er in jungen Jahren einmal pflichtlektürend blätterte und aus dem einzig Ezechiel in mahnender Erinnerung sein Bewusstsein trübt, insbesondere sonntags.

      Das Spiegelbild im Bad mahnt zur Erfrischung, die Haare müssen neu gescheitelt und ein frisches Hemd übergezogen werden. Weiß oder blau? Harold besitzt vier weiße und vier blaue Hemden, die er seit über zwanzig Jahren bei Herb’s Herrenbekleidung kauft, einem kleinen Laden in der Warwick Street, in dem Harold noch nie einem anderen Kunden begegnet ist. Das grüne Hemd, das er einst von Mrs. Cardigan zum Geburtstag geschenkt bekam, trägt er nur auf Beerdigungen, warum, weiß er auch nicht, es hat sich so ergeben. Mode ist für Harold nur ein Wort aus den Zeitungen, deren Visualisierungen ihn weniger inspirieren, als vielmehr zutiefst verwirren und ihn jedes Mal ratlos zurücklassen, wenn sein brauner Cordanzug alle fünf Jahre für schick erklärt wird und die Bevölkerung ihn einige Monate für einen aufgeschlossenen Intellektuellen hält.

      In zehn Minuten ist Spielbeginn, diesmal bei Mrs. Merrythought, zwei Häuserblöcke weiter, Parterre links und unschwer zu verfehlen, da in dem Küchenfenster zur Straße hin ein Engel leuchtet, Tag und Nacht, selbst wenn die Sicherungen rausfliegen, denn der Engel ist mit zwölf Volt batteriebetrieben.

      6

      Als Mrs. Merrythought die Tür öffnet, begrüßt sie Harold mit einem »Herrje«. Sie macht auf dem Absatz kehrt und geht wieder in den Raum, aus dem sie gekommen ist. Der zweite Fußabtreter im Haus ist eigentlich noch wichtiger als der erste vor dem Haus. Harold weiß das und putzt sich seine Schuhe am »Willkommen« sauber. Er hängt seinen Mantel auf den Kleiderbügel, der, aus Echtholz und mit Lack behandelt, weit mehr einem Relikt als einem Gebrauchsgegenstand ähnelt. Jetzt muss Harold nur noch die Füße bewegen, er muss gehen, vorwärts, und sei es auch in eine ungewisse Zukunft, die am Ende auf ihn wartet und in der alles passieren kann, wie zum Beispiel, dass eine Linienmaschine ins Haus stürzt, weil ein Pelikan sich verrechnet hat und es nie wieder Tag wird.

      Der lang gezogene Flur ist mit gerahmten Fotos der letzten fünfzig Jahre überzogen, die alle Mrs. Merrythought zeigen, wie sie Kaffee trinkt. Auf dem größten Foto aus den Sechzigern, links über dem Telefontisch, trägt sie Lockenwickler und sieht ein wenig aus wie Grace Kelly, zumindest hat ihr ein längst verblichener Verehrer dies in einem romantischen Moment ins Ohr geflüstert, und seitdem ist das Foto auch mit einem dezenten Oberlicht Tag und Nacht beleuchtet.

      Der letzte Schritt in die Schaltstelle des Vergnügens fällt Harold wie immer schwer, es ist, als hätten ihm italienische Männer mit dunklen Sonnenbrillen und groben Händen Beton um die Füße gegossen. In der Mitte des burgunderroten Wohnzimmers steht ein runder Tisch mit vier Stühlen, von denen einer noch frei ist. Auf den anderen sitzen die drei Damen im späten Alter, friedlich, wie es trügerisch den Anschein erweckt, als wäre es ein nettes Beisammensein. Ein elektrischer Kronleuchter bündelt ein gleißendes Licht über dem Spieltisch, der Heißgetränke und Selbstgebackenes auf feiner Häkelware darbietet. Die Karten sind schon ausgeteilt. Harold setzt sich auf den noch freien Stuhl, ein kaum erkennbares Nicken von Mrs. Cardigan, sie ist in einem Gespräch mit Mrs. Davenport verwickelt.

      »Ich züchte jetzt meine eigenen Mini-Gurken.«

      »Ich dachte, Mini-Paprika.«

      »Das habe ich aufgegeben.«

      »Warum?«

      »Man kann nicht beides gleichzeitig tun, man muss sich entscheiden. Entweder Mini-Gurken oder Mini-Paprika. Als Züchterin hat man eine gewisse Verantwortung.«

      »Gegenüber wem?«

      »Der Zucht.«

      »Gibt es da einen speziellen Paragrafen?«

      »Den braucht es nicht. Ehrenkodex.«

      »Da lastet ja eine ungeheure Verantwortung auf dir.«

      »Man wird dafür entlohnt.«

      »Schmecken bestimmt vorzüglich.«

      »Ich würde von einer Delikatesse sprechen. Harold, Kreuz acht.«

      »Ein Trauerspiel«, mischt sich Mrs. Merrythought kurzzeitig ein. Mrs. Merrythought ist die Älteste im Spielbetrieb, eine Frau der ersten Stunde, der man offen zutraut, als nächste davonzusterben. Die Wetten diesbezüglich stehen zwölf zu eins, bei Lenny Ferguson sogar vierzehn zu eins, aber da gibt es manchmal Probleme mit der Auszahlung.

      »Harold, haben Sie schon die neuen Mieter kennengelernt?«, fragt Mrs. Cardigan und nestelt an der vergoldeten Brosche an ihrer Bluse, eine Brosche, die einen Schmetterling darstellen soll und die ein Erbstück ihrer deutschstämmigen Mutter ist, aus den 30er-Jahren im letzten Jahrtausend, echte Handarbeit und ohne Hakenkreuz.

      »Ihr habt neue Mieter?«, fragt Mrs. Davenport.

      »Ein Junge und eine Frau. Alleinerziehend, Vater unbekannt. Sie arbeitet in der Werbung, dunkles langes Haar, reine Haut, angenehme Blässe, insgesamt eine gepflegte Erscheinung.«

      »Konfektion?«

      »Sechsunddreißig.«