wird sie gelegentlich auch weggelassen.
Dies soll aber nicht jenem öden Bemühen das Wort reden, alles aus der fröhlichen Fabulierlust des Künstlers erklären zu wollen, so wenig es für ein vertieftes Verständnis fruchtbar wäre, das Werk als Verbildlichung eines spirituellen Einweihungsweges zu deuten. Hingegen soll versucht werden, die imaginative Sinngestalt herauszuarbeiten, in der Dichtung und Geisterkenntnis sich begegnen. Die systematisch am Text orientierte Darstellung kommt dabei dem parallelen Textstudium entgegen, wie es beispielsweise zur Unterrichtsvorbereitung hilfreich ist. Davon ausgehend werden in der vorliegenden Arbeit selbstverständlich Erkenntnisse aus der anthroposophischen Geisteswissenschaft und Aussagen Rudolf Steiners zur Vertiefung herangezogen, soweit dies aus der Bildsprache Wolframs schlüssig hervorgeht und soweit es diese erhellt. Es ist hier wie überall in der Forschung: Inwieweit ein Begriff oder eine Idee uns sehend macht und den Gegenstand erschließt oder uns die Wirklichkeit verdeckt, ist eine Frage des inneren Selbstverständnisses des Forschenden.
Zu den Spekulationen über Initiationswege gesellen sich oft solche über Ort, Zeit und Faktizität der Handlung. Auch wenn man davon ausgeht, dass die Handlung des Romans historischen Tatsachen entspricht, heißt das nicht, man könne diese in naiv-realistischem Verfahren aus den Handlungselementen erfolgern. Wer aus der Geschwindigkeit eines Vogelflugs, mit dem Parzivals Ritt zur Gralsburg verglichen wird, deren geografischen Standort errechnen will, zeigt für die Bildsprache Wolframs wenig Verständnis. Dieser lässt uns zwar mit vagen Andeutungen und Stimmungen in der Beschreibung des Ambientes und mit gelegentlichen, selten eindeutigen konkreten Orts- und Zeitangaben immer wieder spüren, dass das Erzählte durchaus auch in geschichtlichen Ereignissen zu finden ist und dass er, wenn er wollte, auch Genaueres vorweisen könnte. Bewusst verhindert er aber jede ernsthafte Zuordnung des konkreten Geschehens zu bestimmten Schauplätzen und jede Anknüpfung an historische Ereignisse. Am meisten irritiert hat das die Forschung in Bezug auf die Hauptquelle, die Wolfram selbst für seine Darstellung anführt: den Meister Kyot. Zahllose Untersuchungen sind über den Gewährsmann Wolframs verfasst worden, mit den unterschiedlichsten Ergebnissen. Denn Wolfram belässt es nicht nur bei unergiebigen Andeutungen, er setzt auch immer wieder eine rein äußerlich zu verstehende Urheberschaft dieses Meisters außer Kraft, indem er als Quelle seines Wissens die dichterische Inspiration in Form der «Frau Aventüre» angibt. Man gewinnt den Eindruck, Wolfram wolle dem Leser klarmachen, dass der Zugang zu den tieferen Wahrheiten seines Werkes eben nicht auf dem Weg äußerer Recherche möglich ist, sondern allein durch die Erringung innerer Gewissheit.
Daraus erklärt sich auch die gedanklich und sprachlich anspruchsvolle Form der Darstellung, die vom Erzähler selbst immer wieder reflektiert und dem Leser oder Zuhörer zur Disposition gestellt wird, oft mit Selbstironie und humorvollen Assoziationen relativiert und in Frage gestellt. Dadurch verwischt er scheinbar die Grenzen zwischen Zuhörer, Erzähler und «Frau Aventüre». Das erzählende Subjekt «beschränkt sich nicht darauf, zwischen Stoff und Publikum zu vermitteln», schreibt Joachim Bumke, Verfasser der wohl bekanntesten Werkmonographie Wolframs. «Es wechselt seinen Standort scheinbar beliebig, bald tritt es augenzwinkernd in ein Komplott mit den Hörern, bald nimmt es die Erzählung gegen die Neugier des Publikums in Schutz, tut geheimnisvoll und unergründlich, spielt mit den Erwartungen der Hörer, narrt sie mit dunklen Anspielungen und falschen Fährten und prüft ihre Aufmerksamkeit. Auf den epischen Erzählzusammenhang wirkt diese Technik gelegentlich fast katastrophal, weil die geordnete Erzählfolge immer wieder von Einschüben und Abschweifungen unterbrochen und zerrissen wird. Dafür gelingt es aber diesem Stil, den Erzähler und sein Publikum in die Dichtung hereinzunehmen und zu Mitspielern der Handlung zu machen.»5
Somit wird es Sache des Lesers und Zuhörers, «die Handlungsdarstellung, die divergierenden Figurenperspektiven und die wertenden Kommentare des Erzählers zu registrieren, zu verstehen und gegeneinander abzuwägen … In dem damit verbundenen Prozess eigenständiger Urteilsbildung liegt zugleich das, was die Geschichte … vermittelt.»6 Wolfram macht «seinem Publikum klar, dass es für sein Werk kein leicht zu habendes Verständnisrezept gibt, er verlangt von den Zuhörern vielmehr, dass sie durch alle Brüche und Wendungen hindurch dem Gang der Handlung folgen. Das heißt: der Sinn erschließt sich allein im Nachvollzug; dem Erkenntnisprozess, den der Held des Romans durchläuft, geht die Sinnerfahrung durch den Hörer parallel. Eine andere Verständnishilfe ist nicht möglich.»7
Diese eigenwillige Erzählweise, die «mit Überraschungen und Dissonanzen arbeitet und von den Zuhörern ein ständiges Mitdenken einfordert»8, unterscheidet Wolfram auch von Chrétien de Troyes, dessen feinsinnige Erzählung des «Conte du Graal» ihm bekannt war und, wie allgemein angenommen wird, als Vorlage diente. Allerdings geht Wolfram in seiner Darstellung weit über das unvollendet gebliebene Werk Chrétiens hinaus, nicht nur was den zeitlichen Rahmen der Handlung betrifft, sondern auch im Hinblick auf Vielfalt und Tiefgründigkeit der Sinnbezüge. Schon rein äußerlich wird die Eigenständigkeit der Wolframschen Schöpfung augenfällig: Er stellt der Handlung, wie sie Chrétien in rund 9000 Versen übermittelt, nicht nur 3450 Verse voran und führt sie um 5370 Verse weiter fort, er erweitert sie auch auf knapp 16000 Verse. Insbesondere das zentrale 9. Buch mit dem Karfreitagsgespräch umfasst bei Chrétien nur etwa ein Siebentel des Wolframschen Textes.
Hinzu kommt, dass zwar die Handlungsführung mit der Darstellung Chrétiens weitgehend übereinstimmt, doch verglichen mit anderen höfischen Epen, die nach französischen Vorlagen gearbeitet wurden, ist die Übernahme, wenn es sich überhaupt um eine solche handelt, sehr frei und eigenständig. Vieles hat Wolfram völlig anders gewichtet, er hat erweitert und gekürzt, vielen Figuren hat er erstmals Namen gegeben, andere hat er umbenannt, manche hat er neu eingeführt, und oft hat er den Personen einen anderen Charakter verliehen. Die meisten Figuren sind mehr in ihrer individuellen Eigenart herausgearbeitet. Wolfram findet sogar kritische Worte für den «Meister Christian». So heißt es im Epilog, Chrétien habe der Geschichte Unrecht getan, wie sie von Meister Kyot übermittelt worden sei: «Ob von Troys meister Cristjân disem mære hât unreht getân, daz mac wol zürnen Kyôt, der uns diu rehten mære enbôt.» Der nachfolgende Text lässt dann offen, ob er sich dabei nur auf die Fortsetzung der bei Chrétien unvollendeten Handlung bezieht oder auch auf den übrigen Gehalt. Wir werden an einschlägigen Stellen, wo es dem vertieften Textverständnis dient, entsprechende Vergleiche anstellen. Hier sollte zunächst darauf hingewiesen werden, dass Wolframs Version der Parzival-Erzählung eine ganz und gar originäre Schöpfung ist.
Auch vom Parsifal Richard Wagners wird Wolframs Epos im Folgenden abzugrenzen sein. Sicher hat das Gralsthema durch Wagners «Bühnenweihfestspiel» die meiste Verbreitung gefunden, vor allem durch die Schönheit und spirituelle Tiefe der Musik. Was den Text betrifft, kann man geteilter Meinung sein. Er wurde zwar in Anlehnung an Wolframs Dichtung verfasst, die Entwicklungsgeschichte Parzivals wurde jedoch, was natürlich für die Opernbühne unumgänglich ist, auf ein paar wenige Szenen begrenzt. Dabei wurde vieles umgedeutet und anders gewichtet, oft so, dass es den Wolframschen Intentionen durchaus zuwiderläuft. So ist beispielsweise die Gralsgemeinschaft eine reine Männerwelt, das Weibliche wird auf die Rolle der zu erlösenden Verführerin beschränkt und, was damit innerlich zusammenhängt, Parzival persönlich bricht den Klinschor-Zauber und gewinnt den heiligen Speer. Für Wolframs Gralsverständnis wesentliche Figuren und mit ihnen verbundene Handlungsstränge wurden dabei fallen gelassen, wie beispielsweise Gawan und Sigune, andere wurden umgedeutet, wie Gurnemanz und Kundrie. Durch all dies entsteht ein Sinnzusammenhang, der in sich durchaus schlüssig erscheint, aber nur noch in einigen Grundzügen mit der Wolframschen Gralsthematik verwandt ist. Zudem eignet sich der Text auch sprachlich kaum für eine Behandlung im Literaturunterricht. Man könnte ihn allenfalls in Form eines Referats zur Arbeit hinzuziehen.
Schließlich stellt sich die Frage, inwieweit man auf mittelalterliche Fortsetzer des Gralsthemas nach Wolfram und Chrétien eingehen sollte, besonders auf den sogenannten Jüngeren Titurel des Alfred von Scharfenberg. Man wird in diesem umfangreichen Werk, dessen Urheberschaft umstritten ist, so manche Anregung zur Interpretation finden können, man sollte sich aber davor hüten, es zu schnell zur Deutung der vielen Rätsel des Parzival hinzuzuziehen. Der Verfasser wird dem Anspruch, den er an sich stellt, indem er sich lange Zeit selbst als Wolfram ausgibt, kaum gerecht, wenn auch seine Eigenleistung durchaus beachtlich ist. Im Folgenden