Heinz Mosmann

Der Parzival Wolframs von Eschenbach


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nur Ansätze für ein Verständnis erarbeiten kann und hoffen muss, dass die geistige Kraft der Wolframschen Bildsprache in den Seelen der jungen Menschen weiterleben wird, so muss sich auch die vorliegende Arbeit oft auf Hinweise beschränken. Die Tiefgründigkeit, die eigentliche spirituelle Dimension der Bilderwelt Wolframs erschließt sich vor allem dem konzentrierten, wiederholten Umgang mit ihr.

      Die verflachten und verzerrten Vorstellungen von der Gestalt der Welt und vom Grund unseres Daseins, die über die Medienkanäle heute in die Gemüter der Menschen, insbesondere der Jugendlichen, einfließen, müssen in das rechte Licht gerückt werden. Sie wuchern in den Seelen weiter und schläfern sie ein, machen sie geistig unempfänglich, wenn ihnen keine tiefere Wahrheit entgegentritt. «Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht.»9 In diesem Bewusstsein sollten die Schülerinnen und Schüler den Unterricht im Innern bewahren. Die Parzival-Epoche thematisiert damit unmittelbar etwas, das zum Wesen der Pädagogik überhaupt gehört. Deshalb ist gerade in dieser Epoche die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler besonders intensiv und sollte behutsam beachtet werden.

      Die Beschäftigung mit dem Parzival ist aber auch für die Arbeit in einem Kollegium und für das Selbstverständnis der Erziehenden von unschätzbarem Wert. Die Bilder, mit denen Rudolf Steiner bei der Gründung der Waldorfschule seine pädagogischen Vorträge einleitete, offenbaren bei näherer Betrachtung ihre Verwandtschaft mit den Gralsimaginationen Wolframs. Die vorliegende Arbeit möchte dazu beitragen, dass in den Waldorfschulen das Interesse an jener spirituellen Substanz geweckt wird, die sich hinter dem Namen des «Heiligen Gral» verbirgt und die durch die Zeiten hindurch Quelle und Sinn aller Pädagogik ist.

       Vom fliegenden Gleichnis

      Wolfram eröffnet sein Epos mit einer Herausforderung an unsere Verständnisfähigkeit. Was gemeinhin von einem Prolog erwartet wird, etwa Angaben über den Verfasser, dessen Auftraggeber und Quellen, suchen wir hier vergebens. Chrétien de Troyes beispielsweise führt seine Erzählung mit einer Lobesrede und Danksagung an seinen fürstlichen Gönner ein und geleitet Leser oder Zuhörer freundlich und sanft zum Anfang der Geschichte hin. Anders Wolfram von Eschenbach: Der Prolog gehört sicherlich zu den schwierigsten Textpartien seines Werkes, als habe der Dichter gleich zu Anfang ein Hindernis aufbauen wollen, an dem sich die Geister scheiden. Wissenschaftlich ist jede Einzelheit endlos diskutiert worden, was in der Forschung auch zu einer kritischen Besinnung geführt hat. «Vieles von der vermeintlichen Dunkelheit geht auf das Konto der Forschung», meint Bernd Schirok, «die – um Aufklärung bemüht – manches verunklärt hat. Gerade beim Prolog ist es deshalb unerlässlich, seine Überschichtung durch die Sekundärliteratur entschieden beiseite zu räumen, ihn gewissermaßen zu ‹exhumieren›.»1

      Betrachten wir nun den Text des Prologs mit unbefangenem Blick, dann kann uns zunächst auffallen, dass er durchgängig, bis in die sprachliche Form hinein, in Polaritäten aufgebaut ist. Das zweite Wort schon drückt jene Zweiheit aus, die – gewissermaßen als Urteilung – den Keimpunkt der dramatischen Entwicklung darstellt, den Zweifel (zwîvel). Der aus dem Zweifel hervorgehende Konflikt entfaltet sich zu einem zweiteiligen Bild, der Nachbarschaft von Zweifel und Herz («ist zwîvel herzen nâchgebûr»), und schließlich stehen sich erster und zweiter Vers als Bedingung und Folge gegenüber: «Ist Zweifel dem Herzen benachbart, das muss der Seele sauer werden (daz muoz der sêle werden sûr).» Denn sie droht dadurch, so können wir das Bild ergänzen, ihre individuelle – das heißt unteilbare – Wesenseinheit zu verlieren, deren Zentrum das Herz ist.

      Im nun folgenden Elster-Gleichnis wird die Urpolarität von Hell und Dunkel, Licht und Finsternis ins Bild gesetzt. Damit klingt schon gleich zu Anfang jenes Grundmotiv an, das sich durch das gesamte Werk hindurchzieht und in entscheidenden Momenten in Parzivals Entwicklung in den Vordergrund tritt. So ist es das Bild von Licht und Finsternis, mit dem die Mutter dem Knaben das Wesen des Göttlichen nahebringen will und ihn so – unbeabsichtigt – an den Ausgangspunkt seines Schicksalsweges führt. Und es ist eine schwarzweiß gefleckte Gestalt, die ihm am Ende seiner Gralssuche entgegentritt und ihm das letzte Tor zum Gral erschließt.

      Während die Mutter dem Knaben allerdings rät, er solle die «dunklen Furten meiden», betont der Prolog den dynamischen Aspekt, der sich daraus ergibt, dass der Mensch in die Polarität von Licht und Finsternis hineingestellt ist und sich in dieser Auseinandersetzung entwickelt. Das Licht ist ihm dabei nicht Refugium, sondern Orientierung auf dem Weg. Deshalb ist der zwîvel auch nicht etwas, das unterdrückt oder gemieden werden könnte, sondern der Schicksalsfaden führt «mitten hindurch». Wenn der Mensch handelt, hat stets beides daran teil, «Himmel» und «Hölle». Wollte er das Böse fliehen, würde er sich der Wirklichkeit entfremden. «Schmach und Schmuck» zugleich erlebt deshalb der Mensch, der mit unverzagter Seelenkraft diesen Widerspruch trägt – wie die Elster ihre Farben. Das ist ganz modern und gar nicht mittelalterlich gedacht. Die innere Dynamik des Werkes wird so im Prolog urbildlich vorweggenommen.

      Wie der Zweifel aus dem Gedanken kommt, der dem Menschen die Herzenssicherheit raubt und ihn in die innere Entzweiung stürzt, so setzt auch die Kraft, die ihm die Orientierung und innere Sicherheit verleiht, am Denken an: die «stæte». Sie ist jene Beständigkeit und Dauerhaftigkeit im Wechsel der Erscheinungen, die wir benötigen, wenn wir uns um Erkenntnis bemühen, wenn wir etwas suchen, einem Gedankenfaden oder einer Spur folgen. Wenn wir eine Frage offenhalten, wenn wir vor einem Rätsel nicht verzagen. Nur der «unstæte geselle» gerät gänzlich in die Finsternis («wirt och nâch der vinster var»).

      Die stæte ist dieselbe Kraft, die Wolfram mit seinem «fliegenden Gleichnis» und seinem «hakenschlagenden» Erzählen vom Hörer und Leser fordert. Dem äußeren Anschein nach ähneln seine Bilder und Gleichnisse trügerischen Spiegelungen oder «des blinden troum», sind flüchtige und wirklichkeitsfremde Schimären. Für solche Menschen, denen die stæte mangelt, geben sie nur die Oberfläche der Erscheinungen wieder («gebent antlützes roum», roum = Rahm, Schimmer). Diese «dummen (tumben) Leute» kommen deshalb auch über die Widersprüche und Sprünge – in dem Prolog – nicht hinweg, und auf deren Kritik einzugehen wäre müßig: So jemand «rupft mich da, wo mir kein Haar gewachsen ist (roufet mich dâ nie kein hâr gewuohs)».

      Diesen «tumben» Menschen stellt Wolfram die «wîsen» gegenüber, die wirklich erfahren wollen, welche «gute Lehre» diese Geschichte enthält. Mithalten mit dem wechselvollen Hin und Her der Geschichte kann nur, wer sich «nicht verhockt und nicht verläuft, sondern wer sich recht versteht (der sich niht versitzet noch vergêt und sich anders wol verstêt)». Das ist keine bloße Wortspielerei. Es bedarf eben einer bewussten Seelenkraft, die bewahrt, ohne zu erstarren, und die suchend vordringt, ohne sich zu verlieren. Man kann darin die Gebärde lebendiger Entwicklung schlechthin erkennen. Um sich dies klar zu machen, versuche man einmal, die Entwicklung einer Pflanze in der inneren Anschauung zu vollziehen. Man wird bald bemerken, mit welcher Anstrengung das verbunden ist und mit welchen Kräften man es dabei zu tun hat: Gestaltwandel in Entwicklungsprozessen mitzuvollziehen verlangt eben stæte. –

      Eine weitere Tugend, die Wolfram vom Leser fordert, ist Treue. Im Unterschied zur stæte enthält die «triuwe» oder «triwe» auch das Element der inneren Bindung an jemanden oder etwas. Suche ich nach dem Wesentlichen – im Leben wie im Denken –, muss ich Widersprüche aushalten. Wie will ich da Treue finden, wo im ständigen Hin und Her die Naturkräfte einander auslöschen, so wie Feuer und Wasser? «Will ich triwe vinden aldâ si kann verswinden, als viur in dem brunnen unt daz tou von der sunnen?» Das Feuer erlischt im Brunnen, und der Tau verdunstet in der Sonne – das Menschenleben jedoch unterwirft sich nicht dem Wechsel der Erscheinungen, sondern strebt danach, die Gegensätze in Einklang zu bringen. Der Kluge weiß das, er wird, um den tieferen Sinn zu ergründen, sich darauf einlassen, was diese Geschichte erfordert und wohin sie steuert («welher stiure disiu mære gernt»). Er wird der mære treu bleiben, wie einem beseelten Wesen, das «mal flieht und mal jagt, das mal entweicht und wieder umkehrt, das mal erniedrigt und mal erhebt». Wer aber die nötige Geduld und Beständigkeit nicht aufbringt, auf dessen Seele ist kein Verlass, seine Gesellschaft hat keine wahre Verbindlichkeit, sie ist falsch und «taugt nur fürs Höllenfeuer, ein Hagelschlag auf alle hohen Werte» («valsch geselleclîcher muot ist zem