Heinz Mosmann

Der Parzival Wolframs von Eschenbach


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erwehren wusste – weil sie im Winter unfähig war, das Schmelzen des Eises abzuwarten, und sich daher den eingefrorenen Schwanz abriss.

      Der Prolog möchte also die Kräfte im Hörer und Leser aufwecken, die von dem Helden der Erzählung gefordert werden. Der tieferen Wirklichkeit des menschlichen Lebens gegenüber versagen die statischen Begriffe und Vorstellungen, die wir gewohnheitsmäßig an das Geschehen herantragen. Stæte und triuwe sind es, die uns die offenkundigen Widersprüche und Ungereimtheiten zunächst ertragen lassen und unsere Fragen, unsere Suche nach dem Sinn im Wechsel der Erscheinungen wachhalten. Wolfram erwartet, dass ein wahrer Sucher sei, wer sich auf seine Geschichte einlässt. So führt er ihn durch ein Geflecht von Widersprüchen und Gegensätzen – wer darin hängen bleibt, dem mangelt es auch an Verständnisfähigkeit (witze) für das Folgende. Vom zwîvel ausgehend führt er uns durch Hell und Dunkel, stæte und unstæte, Weisheit und Tumbheit, Himmel und Hölle … Im Hintergrund zeigt sich, allem übergeordnet, die Urpolarität allen Fragens und Erkennens: Wesen und Erscheinung.

      Diese bildet aber zugleich auch die geistige Brücke zu einem weiteren Abschnitt, einer anderen Perspektive, die der bisherigen Betrachtung polar gegenübersteht. Bislang hatten wir es nämlich mit dem Erkenntnisstreben des Menschen zu tun, seiner Suche nach der wahren Wirklichkeit, nach dem Wesen hinter den Erscheinungen. Der Erscheinung selbst wurde die Wirklichkeit abgesprochen, sie war «nur Schein» und diente als Ansatzpunkt für die Suchbewegung im Streben nach Wahrheit. Anders stellt sich uns die Polarität von Wesen und Erscheinung jedoch dar, wo Letztere selbst zur Geltung kommt, wo uns die Erscheinung selbst genügt. Wir bewegen uns dann auf dem Feld des Schönen, in dem das Wesen der Dinge erscheint, oder, um mit Goethe zu sprechen, wo sich uns die «geheimen Naturgesetze» als Erscheinung vor die Sinne stellen. Hier müssen wir anders fragen: Entspricht die äußere Gestalt der inneren, ist sie ein wahrhaftiger Ausdruck? Ist der schöne Schein nur Oberfläche, oder offenbart er innere Wahrheit?

      Bisher wurde der Blick des Lesers und Gralssuchers – der ist letztlich hier angesprochen – auf einen Aspekt der menschlichen Wesenheit gelenkt, dem Wolfram «männliche» Qualitäten zuspricht: «unverzaget mannesmuot» und «stæte Gedanken» haben das Feld beherrscht. Es ist ihm aber wichtig zu betonen, dass seine Ausführungen nicht nur für den Mann bestimmt sind («niht gar von manne sint»). Wenn er nun dazu übergeht, auch der Frau ein Ziel zu setzen («für diu wîp stôze ich disiu zil»), dann können wir ergänzen: Auch diese Ausführungen sind nicht nur für die Frau bestimmt. Während es bisher darum ging, die Wahrheit zu «erjagen», geht es jetzt darum, sie zu verkörpern. Der Mensch, der Wahrheit sucht, muss sich ihr anverwandeln, muss zur «schönen Seele» werden, in der sich das Wesen der Dinge ausspricht. Es geht Wolfram nicht darum, den Geschlechtern ihre Rollen zuzuweisen, sondern deutlich zu machen, dass das Wesen des Menschen eine «männliche» und eine «weibliche» Seite hat. Es wird sich später noch zeigen, dass er die Polarität von männlich und weiblich in einem viel umfassenderen Sinne versteht, als wir es im Alltag, mit dem äußeren Blick auf die beiden Geschlechter, gewohnt sind. Ist doch die Zugehörigkeit des Menschen zum Weiblichen oder Männlichen die Urteilung, die grundlegendste Zweiteilung des eigentlich Unteilbaren, Individuellen, der «zwîvel» schlechthin. Dem folgt deshalb der Aufbau des Prologs.

      Dass der «den Frauen gewidmete» Teil des Prologs universalen Charakter hat, geht schon aus dem Tugendkatalog hervor. «Triuwe» und «mâze» sind gleichermaßen «männliche» Tugenden, und die «scham» spielt auch in der Ritterlehre des Gurnemanz eine zentrale Rolle. Ebenso verhält es sich mit der «kiusche», der seelischen Reinheit, auch wenn sie gewöhnlich mehr dem Weiblichen vorbehalten zu sein scheint. Tatsächlich ist sie der charakteristische Wesenszug der Gralsträgerin Repanse de Schoye, aber auch Parzivals. Der aufmerksame Leser wird sicher bemerken, dass Wolfram nicht nur «die Frau» als das weibliche Geschlecht anspricht, sondern die Seele des Hörers und Lesers, wenn er «sie» dazu auffordert, auf seinen Rat zu achten, damit sie «wisse, wohin sie sich wende mit Lob und Ehre (sol wizzen war si kêre ir prîs und ir êre)» und «für wen sie dann ihre Liebe und ihre Würde bereithält (wem si dâ nâch sî bereit minne und ir werdekeit)». Im folgenden Bild, mit dem Wolfram die «Seelenkraft der rechten Frau» vergleicht («dem glîche ich rehten wîbes muot»), werden wir dann unüberhörbar auf den Gral und seine Trägerin gewiesen: «Ich halte das nicht für eine unbedeutende Sache, wenn man in schwaches Messing einen edlen Rubin mit all seinen geheimen Wundern fasst (ich enhân daz niht für lîhtiu dinc, swer in den kranken messinc verwurket edeln rubîn und al die âventiure sîn).» Den Gral kann nur eine Seele tragen, die den «kiusche sîn bewart»2. Wir werden später auf dieses Bild und diese Tugend noch ausführlich zu sprechen kommen.

      Geht man davon aus, dass der Prolog-Sprecher den Hörer und Leser «zum Mitspieler machen» will, der seine Aufmerksamkeit und Fähigkeit dazu einbringt, «das Hin und Her der Erzählung mitzumachen oder sich darauf einzulassen»3, dann sollte man auch so konsequent sein und solche Lesart durchhalten: dass der Leser sich in eine seelisch «kiusche» Verfassung bringen soll, in der er die höheren Wahrheiten aufnehmen kann, die ihm im Folgenden angetragen werden. Nur diese Lesart erlaubt dann auch ohne Bruch den Übergang zum nächsten, dritten Teil, zum Schlussteil des Prologs.

      Mit einem rätselhaften Vergleich leitet Wolfram zur Erzählung selbst über: «Nun lasst mein eines Wesen drei sein, und jeder der drei möge so viel Kunstfertigkeit aufbringen, dass sie meine aufwiegt: dazu bedürfte es wilder Erfindungen, wollten sie euch kundtun, was ich allein euch künden will. Sie hätten große Mühe. (nu lât mîn eines wesen drî, der ieslîcher sunder phlege daz mîner künste widerwege: dar zuo gehôrte wilder funt, op si iu gerne tæten kunt daz ich iu eine künden will. si heten arbeite vil.)» Diese Erzählung ist nicht nur ein Stück Literatur, so will Wolfram uns verdeutlichen, bloße Kunstfertigkeit und Phantasie brächten sie niemals zustande. Die Geschichte (mære), die ich euch erzähle, ist in einem viel tieferen Sinne wahr als herkömmliche Literatur. Damit schließt Wolfram an den Anfang an: Der Zweifel an der Wirklichkeit des Grals kann überwunden werden, wenn man sich auf die Geschichte ganz einlässt und die Voraussetzungen erfüllt, die in beiden Teilen des Prologs dargelegt werden. Ähnlich wie er später die Echtheit des Mittelsmannes «Meister Kyot» betont, so beteuert er schon im Prolog die Wahrhaftigkeit seiner Darstellung.

      Bedenkt man zudem, wie gezielt und bewusst Wolfram mit Zahlengrößen umgeht, so darf man auch hier vermuten, dass er nicht zufällig von einer Dreiheit neben der Einheit spricht. Und zwar nicht nur im Sinne einer vagen Anspielung auf die Trinität, sondern konkret bezogen auf das gesamte Werk selbst, in dem drei «Aventüren» zu einem höheren Ganzen verbunden, in einem Wesen vereint sind. Der Prolog leitet das Epos nicht nur ein, er enthält auch dessen Aufbau schon im Keim. In dem Teil des Prologs, wo es um das hakenschlagende Erzählen geht, wo es um das «Verfolgen» der Geschichte, das Ringen um Erkenntnis und die Suche nach dem Sinn geht, herrscht ein dynamisch-kämpferischer Ton, vorwärtsstrebend und drängend. Dem entspricht die Stimmung der Parzival-Aventüren. Was in dem «weiblichen» Teil des Prologs anklingt, das Wesen der Schönheit und die Frage nach der inneren Wahrhaftigkeit des schönen Scheins, entfaltet sich später in der Welt der Gawan-Aventüren. Am Anfang und Ende aber, und das ist ein drittes Element, steht das Elster-Gleichnis als Bild für das Hell-Dunkel der menschlichen Existenz: für das Ertragen des Zweifels, für das Hineingestelltsein in die Polarität von Licht und Finsternis, Gut und Böse, für das Aufgerufensein des menschlichen Willens zur richtigen Entscheidung. Es wurde schon angesprochen, dass dieses Motiv eine zentrale Rolle in der Entwicklung Parzivals spielt. Repräsentiert wird dieser Aspekt der menschlichen Wesenheit durch eine dritte Figur neben Parzival und Gawan, deren Bedeutung leicht übersehen wird, weil sie nur einen verhältnismäßig geringen Zeitraum der Erzählung beansprucht: Parzivals Halbbruder Feirefiz. Er ist der Ältere. Er wird eine geraume Zeit vor Parzival geboren, schwarzweiß von Gestalt, und ohne dass wir mehr von ihm erfahren, tragen wir ihn während der ganzen Erzählung, gerade wegen dieser elsterähnlichen Absonderlichkeit, im Bewusstsein. Erst gegen Ende wird er erscheinen, als Dritter im Bunde, und es wird sich zeigen, dass er in einer einzigartigen existenziellen Entscheidungssituation für Parzival das Tor zur Wirklichkeit des Grals öffnet.

      Wer das gesamte Werk überblickt, kann nicht umhin, über das Meisterwerk dieses Prologs zu staunen. Bei aller «hakenschlagenden» Sprunghaftigkeit offenbart er eine innere Geschlossenheit,