Bettina Eiber

Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache


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ist für eine Vielzahl von Rezipienten zugänglich, während ein privater Kommunikationsakt einen eingeschränkten Adressatenkreis erreicht. Im Modell von Koch/Oesterreicher korreliert Privatheit mit dem Nähepol, weil davon ausgegangen wird, dass bei steigender Anzahl der Rezipienten die direkte Beteiligung am Kommunikationsakt abnimmt und deswegen die Distanz zunimmt (cf. Koch/Oesterreicher 1985: 20). Parameter (2) unterscheidet, ob sich die Kommunikationspartner kennenVertrautheit und auf ein gemeinsames Wissen und gemeinsame Kommunikationserfahrungen zurückgreifen können, oder ob sich die Kommunikationspartner fremd sind. Ein hoher Grad der VertrautheitVertrautheit wird dem Nähepol zugeordnet, während die Fremdheit der Partner für das Distanzsprechen typisch ist. Parameter (3) beschreibt, in welchem Maße die Kommunikationspartner ihren EmotionenEmotionalität freien Lauf lassen (Nähesprechen), oder ob sie diese kontrollieren (Distanzsprechen). Parameter (4) charakterisiert den Grad der Handlungs- und SituationseinbindungHandlungs- und Situationseinbindung. Dieser Parameter „referiert […] auf die „Nähe“ der Kommunikationspartner zum situativen Kontext“ (Zeman 2016: 268). Beim Nähesprechen befinden sich die Kommunikationspartner in einem gemeinsamen Kommunikationsraum:

      In der gesprochenen Sprache befinden sich die Partner in einer face-to-face-Interaktion (physische Nähe und gemeinsames Handeln) und/oder kommunizieren über Elemente des situativen Kontexts oder setzen sie als selbstverständlich voraus (Koch/Oesterreicher 1985: 20).

      In Situationen des Distanzsprechens befinden sich Sprecher und Rezipient häufig nicht in einem gemeinsamen Kommunikationsraum und beziehen sich somit nicht auf eine gemeinsame Situation oder simultan erfolgende Handlungen. Parameter (5) beschreibt den Referenzbezug des Kommunikationsakts „bei dem entscheidend ist, wie nahe die bezeichneten Gegenstände und Personen der Sprecher-origo sind“ (Koch/Oesterreicher 2011: 7). Entscheidend ist dabei die „Anwesenheit oder Abwesenheit des Referenzgegenstandes“ (Koch/Oesterreicher 2011: 7). Referenzielle Distanz liegt beispielsweise bei Erzählungen über die Vergangenheit vor, da diese auf raum-zeitlich entfernte Ereignisse und Personen referiert (cf. Koch/Oesterreicher 2008: 207). Parameter (6) beschreibt sowohl die räumliche als auch die zeitliche Nähe der KommunikationspartnerNähe– der Kommunikationspartner, wobei bei einem Face-to-Face-Gespräch sowohl räumliche als auch zeitliche Nähe gegeben sind, während bei einem Telefonanruf zwar die zeitliche, nicht aber die räumliche Nähe gegeben ist, und dieses deswegen ein wenig in Richtung des Distanzpols verweist. Parameter (7) fokussiert den Grad der KooperationKooperation, also die Möglichkeit des Rezipienten, bei der Produktion des Diskurses mitzuwirken:

      Kommunikation ist immer auch Kooperation. Hierbei sind allerdings in der gesprochenen Sprache Produktion und Rezeption direkt miteinander verzahnt: Produzent und Rezipient handeln miteinander Fortgang und auch Inhalt der Kommunikation aus; der Rezipient zeigt begleitende sprachliche und nichtsprachliche Reaktionen und kann jederzeit eingreifen, rückfragen (‚Rückkopplung‘). Demgegenüber sind in der geschriebenen Sprache Produktion und Rezeption – auch dort, wo sie gleichzeitig verlaufen (Vortrag) – voneinander ‚abgekoppelt‘; dies bedeutet, daß der Produzent die Belange der Rezeption von vornherein berücksichtigen muß (Koch/Oesterreicher 1985: 20).

      Während demnach das Face-to-Face-Gespräch durch intensive Kooperation geprägt ist und durch Rückmeldungen des Kommunikationspartners aufrechterhalten wird, ist dies bei einem schriftlich fixierten Text nicht der Fall. Parameter (8) charakterisiert einen Diskurs als monologisch oder dialogischDialogizität, wobei Dialogizität die Möglichkeit meint, spontan die Rolle des Produzenten zu übernehmen:

      Die Rollenverteilung zwischen den Kommunikationspartnern ist in der gesprochenen Sprache offen, und der Rollenwechsel wird ad hoc geregelt (Dialogizität). Demgegenüber zeigt geschriebene Sprache eine feste Rollenverteilung bis hin zur totalen Monologizität (Koch/Oesterreicher 1985: 19).

      Parameter (9) beschreibt den Grad der SpontaneitätSpontaneität oder Geplantheit eines Diskurses. Während beim Nähesprechen die Planung der Kommunikationsakte während des Äußerungsaktes selbst erfolgt, ist beim Distanzsprechen eine längere Vorausplanung möglich, aber aufgrund der Situationsferne auch nötig, da auf keinen gemeinsamen Kontext zurückgegriffen werden kann (cf. Koch/Oesterreicher 1985: 20). Parameter (10) bezieht sich auf die Frage, ob das ThemaThemenfixierung sich wie in einem spontanen Gespräch frei entwickeln kann, oder ob dieses vorher festgelegt worden ist, wie dies beispielsweise in moderierten Talkshows der Fall ist. Jede Diskurstradition lässt sich durch eine Mischung von Werten der vorgestellten Parameter charakterisieren, wodurch sie ihr spezifisches konzeptionelles Profilkonzeptionelles Profil erhält.

      Allerdings lassen sich unterschiedliche Realisierungen von Diskurstraditionen nicht vollständig durch eine Variation der Parameter und ihrer Werte erklären:

      Diskursregeln sind nicht die Summe der kommunikativen Parameter, sondern es treten gesellschaftliche Funktionalisierungen und Normen des jeweiligen Diskursuniversums hinzu (Schlieben-Lange 1983: 140).4

      Oesterreicher geht in seiner Definition der DiskurstraditionDiskurstradition nicht nur auf die kommunikativen Bedingungen von Diskurstraditionen ein, sondern stellt auch deren Prägung durch gesellschaftliche und kulturelle Normen heraus. Diskurstraditionen sind nach Oesterreicher:

      konventionalisierte Kristallisationskerne von bestimmten Parameterwerten der oben skizzierten Kommunikationsbedingungen und mehr oder minder strikt vorgeprägten Versprachlichungsanforderungen einerseits sowie von bestimmten gesellschaftlich determinierten inhaltlich-thematischen Wissenskomplexen andererseits (Oesterreicher 1997: 25).

      Dabei ist eine Diskurstradition durch die ParameterwerteParameterwert der jeweiligen Kommunikationssituation geprägt, wobei diese in der jeweiligen Diskurstradition eine kulturspezifische Umsetzung erfahren:

      So ist etwa der Sprecherwechsel im Dialog ein universelles Prinzip, das in einzelnen Dialogkulturen in unterschiedlicher Weise umgesetzt wird (Schrott 2015: 123).

      Nach Fix ist deswegen nicht mehr von ‚Textsorten an sich‘ auszugehen, sondern es ist eine „spezifische kulturelle Prägung von Textsorten anzunehmen“ (Fix/Habscheid/Klein 2001: 7). In Diskurstraditionen sind folglich gesellschaftlich-kulturelle Normengesellschaftlich-kulturelle Norm gespeichert. Diese enthalten Wissen über die Angebrachtheit oder Nichtangebrachtheit eines kommunikativen Verhaltens (cf. Fix/Habscheid/Klein 2001: 7; Fix 2008d: 116), über die übliche Art der Versprachlichung, das kulturelle Prestige der Diskurstradition oder den Wert des Mediums. Zusätzlich ist in den kulturellen Normen sowohl Alltagswissen der jeweiligen Gemeinschaft als auch Wissen enthalten, das dem kulturellen Gedächtniskulturelles Gedächtnis nach AssmannAssmann, Jan zugeordnet werden kann. Kultur kann als „Gesamtheit der Formen und Muster, die zur Deutung der Welt zur Verfügung stehen“ (Warnke 2001: 253) definiert werden und Diskurstraditionen leisten einen kulturspezifischen Zugriff auf die Wirklichkeit. Dabei kann sich die KulturspezifikKulturspezifikum auch darin äußern, dass in einigen Gemeinschaften ganze Diskurstraditionen fehlen. Zudem muss eine Diskurstradition nicht unbedingt kontinuierlich vorhanden sein. Anders als eine historische Einzelsprache, die in der Regel von einer Sprachgemeinschaft kontinuierlich gepflegt wird oder ganz ausstirbt, können Diskurstraditionen diskontinuierlich genutzt werden:

      Während Sprachgemeinschaften sich durch die Kontinuität idiomatischer Traditionalität stets als durchgängig existierende Gemeinschaft manifestieren, können die kulturellen Gruppierungen, die Diskurstraditionen tragen und vermitteln, sich diskontinuierlich über zeitliche Unterbrechungen hinweg konstituieren. So können etwa Gelehrte und Dichter der Antike und deren „Wiederentdecker“ in der Renaissance als eine kulturelle Gruppierung aufgefasst werden, die über Zeit und Raum hinweg kulturell-literarische Traditionen der Textgestaltung praktiziert (Lebsanft/Schrott 2015: 38).

      Als eine ähnlich diskontinuierliche Gruppierung könnten die Enzyklopädisten der französischen Aufklärung und sämtliche Nachfolger, die sich auf diese berufen, wie beispielsweise die Wikipedianer, aufgefasst werden.

      Existiert eine Diskurstradition in mehreren Gemeinschaften, so können Unterschiede hinsichtlich „Stil, Art der Themenentfaltung, Argumentationsweise, Autoren“ (Fix 2008d: 122) feststellbar sein. Fix führt das Beispiel deutscher und russischer Wohnungsanzeigen an, wobei die deutschen Anzeigen ausführliche Beschreibungen mit Kontaktdaten