Bettina Eiber

Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache


Скачать книгу

(cf. Fix 2008a: 143). Im Gegensatz zu den universellen Parametern der Kommunikation, die jeden Kommunikationsakt gleich stark betreffen, kann der Grad der KulturspezifikKulturspezifikum von Diskurstraditionen variieren, wobei Fix die Diskurstraditionen Wohnungsanzeige (kulturspezifisch) und Sage (global) kontrastiert:

      Textsorten, die den geistig-ordnenden Zugriff auf die Welt ermöglichen, sind eher globaler Natur und weniger an die Einzelkultur gebunden. Text­sorten, die eine praktisch-ordnende Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit möglich machen, sind erfahrungsgemäß eher lokal und einzelkulturspezifisch geprägt (Fix 2008a: 144).

      Diskurstraditionen stehen demnach in enger Verbindung zu universellen Parametern der Kommunikationssituation einerseits und zu gesellschaftlich-kulturellen Konventionen andererseits.

      Des Weiteren bilden DiskurstraditionenDiskurstradition ein Bindeglied zwischen den genannten sprachbezogenen Bedingungen und dem Repertoire an sprachlichen Formen:

      Dabei gilt es zu sehen, dass es gerade die Diskurstraditionen qua historisch vorgegebene Kommunikationsformen5 sind, die die Verbindung zwischen den formalen kommunikationstheoretischen Parametertypen und den sprachlichen Ausdrucksgestaltungen und sprachlichen Varietäten herstellen. Diskurstraditionen bestimmen daher einerseits die Wahl von sprachlichen Gestaltungen und Varietäten – sprachliche Merkmale sind andererseits direkt für bestimmte Diskurstraditionen kennzeichnend (Oesterreicher 1997: 24).

      Die DiskursregelnDiskursregel wählen aus dem vorhandenen sprachlichen, aber auch nicht-sprachlichen Material die nach Situation und Kultur angemessenen Formen aus. Sprachliche Formen in Diskurstraditionen sind dadurch von einer doppelten Historizität geprägt, nämlich von derjenigen der Einzelsprache und derjenigen der DiskurstraditionDiskurstradition (cf. Lebsanft/Schrott 2015: 33). Die Tatsache, dass in Texten, die durch die gleichen ParameterwerteParameterwert gekennzeichnet sind und die den gleichen kulturellen Normen unterworfen sind, auch ähnliche Gestaltungsmöglichkeiten gewählt werden, führt zur „Verfestigung bestimmter Strategien und Formen der Versprachlichung“ (Frank-Job 2003: 20).

      Diese verfestigten Muster werden in verschiedener Weise an einzelnen Texten sichtbar. Kabatek unterscheidet in seinem Vorschlag zur Analyse von Diskurstraditionen in Bezug auf die Form Diskursformen, Diskurszonen und Diskursformeln und in Bezug auf den Inhalt Diskursdomänen, Diskursthemata und Diskursmotive (cf. Kabatek 2015: 62). Die Diskursform wird am Aufbau des Textes ersichtlich, Diskurszonen wie Anfang oder Ende eines Textes stellen markante Bereiche für Diskurstraditionelles dar, bei Diskursformeln liegt eine (teilweise variierende) Wiederholung sprachlichen Materials vor. Die Diskursdomäne bezeichnet den Wirklichkeitsausschnitt, auf den sich die Inhalte der Diskurstradition beziehen, wie beispielsweise den Bereich der Mathematik oder des Gartenbaus, das Diskursthema bezeichnet das dominante Thema eines Textes, Diskursmotive sind Topoi, mit denen bestimmte Wissensbestände verbunden sind und die systematisch in einer Diskurstradition eingesetzt werden. Einen anderen Ansatz präsentiert Fix, die „Texte als komplexe Sprechakte betrachtet“ (Fix 2008c: 68) und deswegen Textproposition (der propositionale Gehalt des Textes), Textillokution (die dominante Sprachhandlung) und Textlokution (die sprachlichen Mittel der Formulierung) unterscheidet. Die Analyse der sprachlichen Mittel kann dabei Phänomene unterschiedlicher Komplexität behandeln, die sich zudem auf den verschiedenen Ebenen des Sprachsystems verorten lassen (cf. Große 2017: 52). Bei formal-grammatischen Elementen besteht jedoch die Problematik, dass ihre Interpretation Schwierigkeiten bereiten kann:

      Man kann die Häufigkeit der Wortarten, der Tempora, der Modi, des Passivs – um die bei Textsortenstudien am häufigsten untersuchten Phänomene zu nennen – bestimmen. Die Frage ist allerdings, was wir mit entsprechenden Befunden gewonnen haben. Teilweise sind die Ergebnisse wiederum trivial, nämlich dem Sprachbenutzer ohnehin bekannt – z.B. die Feststellung, dass in deutschen Gebrauchsanweisungen für die Formulierung der Handlungsanweisung heute der Infinitiv bevorzugt wird. Teilweise sind die Daten den Sprachbenutzern aber auch völlig unbekannt: Wer wüsste schon, wie viel Prozent Passivstrukturen in offiziellen gegenüber privaten Briefen vorkommen? […] Das generelle Problem: Bei Kategorien wie den eben besprochenen ist der sachliche Abstand zwischen Ausdrucksabsicht und grammatischem Mittel zu groß (Adamzik 2001: 18f.).

      Für die Interpretation diskurstraditioneller Elemente bietet es sich somit an, diese im Zusammenspiel mit weiteren Merkmalen in einem Mehrebenen-Ansatz zu beobachten. Des Weiteren sind die kommunikativen Bedingungen ihres Auftretens und die mit den Formen verbundenen Absichten zu rekonstruieren und vor dem Hintergrund kultureller Normenkulturelle Norm zu reflektieren.

      3.1.2 Wandel

      Das Konzept „Diskurstradition“ erlaubt es, Konventionen in Diskursen unter dem Aspekt der dynamis zu begreifen und deswegen auch Veränderungen der Diskurstraditionendiskurstraditioneller Wandel nachzuvollziehen. Dabei stellt Koch die diskurstraditionelle Dynamik in den Zusammenhang mit kulturellen Traditionenkulturelle Tradition. Für ihn sind DiskurstraditionenDiskurstradition ein Spezialfall einer kulturellen Tradition:

      Dabei gehe ich davon aus, daß Diskurstraditionen im Grunde nur ein Typ der vielfältigen kulturellen Traditionen des Menschen sind (Koch 1997: 61).

      Wie kulturelle Traditionen unterliegen auch Diskurstraditionen einer Dynamik:

      Als Spezialfall dieser Sachlage lässt sich nun auch die diskurstraditionelle Dynamik beschreiben: aus neuen kulturellen, ökonomischen und technischen Herausforderungen entstehen neue kommunikative Bedürfnisse, die im ‚kommunikativen Haushalt‘ der betreffenden Kultur bislang nicht vorgesehen sind und denen die bestehenden Diskurstraditionen somit auch nicht ohne weiteres gerecht werden. An diesem Punkt können neue Diskurstraditionen entstehen (Koch 1997: 62).

      Insbesondere an historisch bedeutenden Wendepunkten bilden sich häufig neue Diskurstraditionen heraus:

      Auslöser können bestimmte kulturelle Ereignisse sein, technische Neuerungen, institutionelle Veränderungen. Hier liegt inzwischen eine ordentliche Zahl untersuchter Beispiele vor: die Arbeiten zu den Chroniken über die Eroberung und Kolonisation Amerikas, wo eine wirklich neue Welt zu neuen Texten führt; Arbeiten zu Schlüsselmomenten wie der Renaissance des römischen Rechts im Mittelalter, der Entstehung des Buchdrucks, der Französischen Revolution und ihrer Folgen bis hin zu Arbeiten zur Veränderung kommunikativer Praktiken durch Smartphones (Kabatek 2015: 59).

      Gesellschaftliche Veränderungen können zur Entstehung, zur Ausdifferenzierung, zur Konvergenz, aber auch zum Verschwinden oder zum Ersatz etablierter Diskurstraditionen durch neue Diskurstraditionen führen (cf. Koch 1997: 66–69).

      Unter den kulturellen Ereignissen spielen insbesondere mediale Umbrüche eine bedeutende Rolle. Der Buchdruck trug beispielsweise zur Verbreitung schriftlicher Erzeugnisse bei, und die Erfindung des Internets treibt die Ausbildung digitaler DiskurstraditionenDiskurstradition– digitale voran:

      Epochenschwellen, die durch medialen Wandel bedingt sind, Übergänge von der Illiteralität zur begrenzten Verschriftung, von der begrenzten Verschriftung zur unbegrenzten Literalität (Buchdruck), von der Publikation durch Printmedien zur elektronischen, interaktiven Kommunikation (Aschenberg 2003: 8).

      Insbesondere die InternetkommunikationInternetkommunikation hat eine Reihe neuer KommunikationsformenKommunikationsform hervorgebracht, wie beispielsweise BlogsBlog, ForenDiskussionsforum oder WikisWiki, welche die kommunikativen Rahmenbedingungen für die neu in ihnen entstehenden Diskurstraditionen setzen (cf. Frank-Job 2010: 37). Die veränderten Kommunikationsbedingungen haben zur Folge, dass häufig der „Rückgriff auf die bereits bewährten Handlungsmuster und Versprachlichungsstrategien hierfür nicht ausreicht“ und „die Kommunikationsteilnehmer daher neue Routinen für Kommunikationshandlungen entwickeln und kollektiv gültige Normen für diese Routinen aushandeln“ müssen (Frank-Job 2010: 43). Durch den medialen Wandel können völlig neue Diskurstraditionen entstehen. Allerdings entstehen digitale DiskurstraditionenDiskurstradition– digitale häufig nicht ex nihilo, sondern es lässt sich beobachten, dass etablierte Diskurstraditionen das TrägermediumTrägermedium wechseln:

      Sprachtextsorten (mündliche wie das Märchen, schriftliche wie der Brief) „wandern“