Bettina Eiber

Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache


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Beispiel für einen solchen Prozess ist die in der vorliegenden Studie behandelte Diskurstradition EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel, die ihren Ursprung im Printmedium hat und sukzessive über die Reproduktion auf CD-ROM und die statische Repräsentation auf Internetseiten in die dynamische Umgebung eines WikisWiki wandert. Bei diesem Prozess wird der gedruckte EnzyklopädieartikelEnzyklopädieartikel– gedruckter vom WikipediaartikelWikipediaartikel abgelöst und befindet sich bereits heute im Verschwinden. Der Wechsel des Trägermediums bleibt häufig nicht ohne Folgen für die DiskurstraditionenDiskurstradition. Insbesondere der Wechsel in ein digitales TrägermediumTrägermedium scheint den Diskurstraditionen Merkmale wie Vermischtheit, Vernetztheit, Zersplitterung, Nichtabgeschlossenheit, Rezeptionsoffenheit, Autorenvielfalt, Normiertheit und Abwandlung einzuschreiben (cf. Fix 2014: 21), wobei die Merkmale in mehr oder weniger starkem Ausmaß auch auf die zuvor genannten Wikipediaartikel zutreffen. Trotz dieser allgemeinen Tendenzen bleibt jedoch im Einzelfall zu rekonstruieren, ob, und in welchem Maße, sich eine DiskurstraditionDiskurstradition verändert.

      Denn nicht jede Veränderung in den medialen Bedingungen führt automatisch dazu, dass sich eine neue, vom Vorläufer unterscheidbare Diskurstradition etabliert. Dies zeigen schon die Überlegungen von Koch/Oesterreicher (2007: 349), die sich jedoch nicht mit dem Wechsel ganzer TrägermedienTrägermedium beschäftigen, sondern lediglich den Wechsel zwischen der phonischenRealisierung– phonische und der grafischenRealisierung– grafische Realisierung von DiskurstraditionenDiskurstradition berücksichtigen. Dabei gehen die Autoren davon aus, dass der alleinige Wechsel des Codes noch keinen Unterschied in der Diskurstradition bedingt. Es handelt sich um die „rein mediale Transkodierung“ (Koch/Oesterreicher 2007: 358) ein und derselben Diskurstradition:

      Auf der Ebene des Diskurses sind Medium und Konzeption eindeutig zwei voneinander unabhängige Variablen: Wenn ich mir den Spaß mache, einen Zeitungsartikel vorzulesen, bleibt er immer noch ein Zeitungsartikel. Hier wird die für menschliche Sprache charakteristische medium transferability (Lyons 1981: 11) wirksam (Koch 1997: 57).

      Allerdings ist die Annahme einer solchen medium transferabilitymedium transferability in der Forschung umstritten:

      Die medium transferability besagt in ihrem Kern, dass sich ein und derselbe kommunikative Gehalt ohne Informationsverlust von einem Medium in das andere transferieren lasse. Dies wäre aber nur dann garantiert, wenn es medienneutrale Inhalte gäbe, die für sich existierten und durch das jeweilige Medium lediglich transportiert würden (Schneider 2016: 341).

      Der Annahme, dass Inhalte unabhängig von einem Medium existieren, steht die Auffassung gegenüber, dass das Medium und das Mediatisierte eine Einheit bilden und nicht unabhängig voneinander existieren (cf. Schneider 2016: 343). Auf der Basis einer solchen Sichtweise kann davon ausgegangen werden, dass der jeweilige Code ebenfalls semiotisch wirksam ist und sich somit Unterschiede zwischen mündlichMündlichkeit– mediale und schriftlichSchriftlichkeit– mediale realisierten Botschaften ergeben:

      Ein Inhalt, der mündlich realisiert wird, ist eindimensional: eine Kette von in der Zeit aufeinander folgenden Signalen. Wenn er verschriftlicht wird, wird er zweidimensional und bietet so unter Ausnutzung der zwei Dimensionen des Schriftträgers, die Möglichkeit von zusätzlichen, visuell-simultan – also nicht mehr nur nacheinander – wahrnehmbaren Signalen (Raible 2006: 15).

      Es bleibt jedoch zu sagen, dass sich im Falle eines ausschließlichen Code-WechselsCode-Wechsel bei ansonsten gleichbleibenden Kommunikationsbedingungen eher kleinere Unterschiede zwischen Diskurstraditionen ergeben, die nur zu Varianten einer Diskurstradition führen. Allerdings beinhaltet eine Verschriftlichung durch die Tatsache, dass sich auch das TrägermediumTrägermedium ändert, bereits das Potential zu größeren Veränderungen, die lediglich nicht ausgeschöpft werden.

      Im Falle einer stärkeren und dauerhaften Anpassung an das neue TrägermediumTrägermedium verändert sich in der Terminologie von Koch/Oesterreicher nicht nur das Medium, sondern auch die KonzeptionKonzeption einer Diskurstradition. Mit Konzeption sind dabei sowohl die Konstellation der Parameterwerte der Kommunikationsbedingungen als auch die Auswahl der sprachlichen Formen, der Duktus einer Diskurstradition, gemeint. Veränderungen in der Konzeption bewirken die Entstehung neuer Diskurstraditionen:

      Wenn nun aber der Medienwechsel selbst traditionell wird, so sieht es anders aus: das Interview und das abgedruckte Zeitungsinterview sind zwei verschiedene Diskurstraditionen, und zwar nicht nur medial, sondern auch konzeptionell (das Zeitungsinterview neigt stärker zur Distanz). Dieses Beispiel zeigt uns aber zugleich, daß auch hier an der prinzipiellen Trennung von Medium und Konzeption festzuhalten ist: der mediale Sprung vom Phonischen ins Graphische führt einerseits keineswegs zu einem völligen konzeptionellen Sprung; vielmehr rückt das Zeitungsinterview auf dem konzeptionellen Kontinuum nur ein Stückchen weiter in Richtung Distanz, behält aber noch gewisse Elemente kommunikativer Nähe (Koch 1997: 57).

      Insbesondere die Abänderung in den KommunikationsbedingungenKommunikationsbedingungen verändert das konzeptionelle Profilkonzeptionelles Profil einer Diskurstradition, durch das diese maßgeblich geprägt wird:

      Besonders wichtig sind derartige Modifikationen, wenn sie auf wie auch immer bedingten objektiven Veränderungen der Parameter der skizzierten Kommunikationsbedingungen beruhen und damit die Grundstruktur der Diskurstraditionen tangieren (Oesterreicher 1997: 30).

      Aus den Überlegungen Koch/Oesterreichers folgt, dass zwischen „rein medialen Transkodierungen“ und „Verschiebungen, bei denen sich konzeptionelle Profile von Diskursen verändern“ (Koch/Oesterreicher 2007: 358) zu unterscheiden ist, wobei nur letztere zur Ausbildung unterschiedlicher Diskurstraditionen führen können.

      Diese Erkenntnis lässt sich auch auf Fälle anwenden, in denen das TrägermediumTrägermedium und die damit verbundenen KommunikationsbedingungenKommunikationsbedingungen, aber nicht die physische Realisierung (phonischRealisierung– phonische oder grafischRealisierung– grafische) verändert werden. Dabei stellt sich insbesondere bei digitalen DiskurstraditionenDiskurstradition– digitale die Frage, ob „bei Verlagerung in ein anderes Medium von derselben TextsorteTextsorte gesprochen werden“ kann (Fix 2014: 29):

      Entspricht z.B. das so genannte elektronische Gästebuch dem, was wir alltagssprachlich mit Gästebuch meinen? Wie viele und welche durch den Medienwechsel bedingten Veränderungen sind zugelassen, ohne dass der Textsortencharakter verloren ginge? (Fix 2008d: 122).

      Legt man nun die Ausführungen von Koch/Oesterreicher zugrunde, dann wären nur im Falle der Veränderung konzeptionellerKonzeption Aspekte zwei verschiedene Diskurstraditionen anzunehmen. Im Falle einer „rein medialen Transkodierung“ (Koch/Oesterreicher 2007: 358) handelt es sich um eine Variante ein und derselben Diskurstradition, die lediglich in einem anderen medialen Code realisiert wird. Ein solcher Fall liegt vor, wenn beispielsweise eine mittelalterliche Urkunde als Digitalisat zur Verfügung gestellt wird. Zwar tritt zur ursprünglichen Funktion der Urkunde als Rechtsakt diejenige als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt hinzu, denn die Wissenschaftler sind als Leserschaft ursprünglich nicht intendiert, jedoch handelt es sich nach wie vor um dieselbe DiskurstraditionDiskurstradition, die in einer möglichst originalgetreuen Form zugänglich gemacht werden soll (cf. Gévaudan 2016: 94). Ein anderer Fall liegt vor, wenn Leserkommentare auf Le Monde in der Rubrik Réagissez mit Leserbriefen verglichen werden, oder wenn Kundenbewertungen auf Amazon traditionellen Rezensionen gegenübergestellt werden. In beiden Fällen sind Abänderungen in der KonzeptionKonzeption festzustellen, die den Schluss zulassen, dass es sich nicht um die Fortführung der etablierten DiskurstraditionDiskurstradition im Internet handelt, sondern dass die Abweichungen so groß sind, dass von eigenen Diskurstraditionen gesprochen werden kann. Im Falle des Leserbriefs kommt Hammer zu dem Schluss:

      Aus dem argumentativ textorientierten Brief entwickelt sich ein interaktionsorientiertes Kommunikat (Hammer 2014: 50).

      Letztendlich muss stets im Einzelfall überprüft werden, wie groß die Unterschiede zwischen der gedruckt und der digital realisierten Diskurstradition sind, um Aussagen über die Herausbildung digitaler DiskurstraditionenDiskurstradition– digitale machen zu können. Dies legen auch Modelle nahe, die annehmen, dass sich neue DiskurstraditionenDiskurstradition