Essen musste warten. Sie faltete das Bündel in der Mitte und streckte es dem Vermieter hin.
„Zählen Sie, und zwar richtig“, forderte er sie auf, ohne die Scheine anzunehmen.
Langsam strich sie darüber und zählte das Geld für ihn, Schein für Schein. „Vier Dollar“, sagte sie und hielt die Luft an, während sie darauf wartete, dass er es annahm.
Er kniff jedoch die Augen zusammen. „Das ist nicht die ganze Miete.“
„Ich … ich weiß, aber ich werde erst morgen wieder bezahlt. Dann gebe ich Ihnen den Rest. Versprochen.“ Sosehr Julia das Zittern ihrer Stimme hasste, aufhalten konnte sie es nicht. Mit der Teilzeit-Putzstelle verdiente sie nicht viel, und wenn man sie nun auch noch aus diesem Loch herausschmiss, wüsste sie nicht wohin. Eine bessere Unterbringung konnte sie sich mit dem begrenzten Gehalt nicht leisten.
Anzüglich grinsend betrachtete Mr Ketchum sie und sah von dem Band, das sie ums Haar gebunden hatte, über das schlichte Kleid bis zu den wenig schmeichelhaften Schuhen an ihr herunter. „Ich könnte mir auch etwas anderes vorstellen, wie Sie mich bezahlen könnten“, schlug er vor und machte dabei einen Schritt auf sie zu.
Mit größter Mühe gelang es Julia, nicht zu fliehen. „Wie ich Ihnen schon mehrmals gesagt habe, Sir, gehöre ich nicht zu dieser Art Frauen.“ Wieder streckte sie ihm das Geldbündel entgegen und zwang ihre Hand, nicht zu zittern.
Schließlich schnappte er sich das Geld mit einem Knurren aus ihrer Hand. Eilig verbarg sie die Hand in der Schürzentasche und rieb unauffällig daran, als würde sie so den Dreck von seiner Berührung los.
„Den Rest vom Geld will ich morgen sehen. Sonst finden Sie Ihre Siebensachen auf der Straße wieder“, sagte er und spuckte eine vom Tabak bräunlich verfärbte Flüssigkeit auf den Boden, direkt neben Julias Schuhe. Dann drehte er sich um und stapfte zurück in seine Wohnung.
Nicht eine Sekunde länger blieb Julia dort stehen. Schnellen Schrittes ging sie die zwei Stockwerke nach oben und den Gang entlang bis zum Ende. Mit zitternden Fingern schloss sie die Tür auf, ließ sich selbst hinein und schob beim Schließen den Riegel von innen vor. Erleichtert lehnte sie den Kopf an das Holz und wartete, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigte. Erst dann holte sie tief Luft und drehte sich um.
Sogleich erstickte ein Schrei in ihrem Hals. Die Bettwäsche lag zerknautscht auf dem Boden. Das Kissen war aufgerissen worden, sodass die Federn überall herumflogen. Alle Schubladen aus ihrer Kommode waren geöffnet, ihre Kleidung war durchwühlt und durcheinandergeworfen worden.
Wie konnte er es wagen! Hitze schoss ihr ins Gesicht, als Julia sich vorstellte, wie Mr Ketchum ihre Unterwäsche durchstöbert hatte. Aber wenn er nach Bargeld gesucht hatte, war er zumindest nicht fündig geworden. Aus ebendiesem Grund trug Julia ihr weniges Geld immer bei sich.
Sie schritt durch den Raum, sammelte die Bettwäsche wieder auf und gab ihr Bestes, die Federn zusammenzukehren. Trotz der grässlichen Umstände, unter denen sie lebte, versuchte sie das Zimmer ordentlich und sauber zu halten. Dass sie nur wenige Habseligkeiten hatte, half ihr dabei. Ihre Reisetasche mit ein paar Wechselkleidern war das Einzige, das sie aus England mitgebracht hatte. Mit den Fingern tastete sie die Goldkette um den Hals ab – die einzige Erinnerung an ihr früheres Leben. Im Inneren des filigranen Anhängers steckte ein Foto ihrer verstorbenen Eltern. Seit ihrem Tod war für Julia nichts mehr wie zuvor.
Doch wenn sie gewusst hätte, dass eine Flucht nach Kanada in einer noch schlimmeren Tragödie geendet hätte, hätte sie Brentwood Manor und den Schutz ihres Onkels niemals verlassen. Wie hatten sich ihre strahlenden Träume für die Zukunft bloß in solch einen Albtraum verwandeln können?
Sie ließ den Anhänger durch ihre Finger gleiten, bevor sie die Kette wieder entschlossen im Korsett ihres schlichten Baumwollkleides versteckte.
Julia ging zum Fenster, schrubbte es etwas frei vom Schmutz, um nach unten auf die Straße zu sehen, und wischte ihre Handfläche an ihrer Schürze ab. Würde sie sich selbst jemals wieder sauber fühlen? Inniglich sehnte sie sich danach, ein heißes Bad mit duftendem Wasser zu nehmen. Ein Luxus ihres früheren Zuhauses, von dem sie in letzter Zeit oft geträumt hatte. Doch das Beste, das sie hier kriegen konnte, war eine Katzenwäsche mit kaltem Wasser aus der Schüssel auf ihrem Nachttisch. Selbst wenn sie manchmal das Bad leer vorfand, das sich alle Bewohner teilten, konnte sie sich in der Wanne nie entspannen. Nicht, mit all diesen skrupellosen Gestalten im Haus.
Oh, Sam, warum hast du mich nur verlassen? Warum hast du die Hilfe nicht angenommen, die man dir angeboten hat?
Julia biss sich auf die Lippe, um gegen die aufkommenden Tränen anzukämpfen. Diese Art von Gedanken nützten nichts. Sie halfen nicht dabei, genug Geld zu sparen, um diesem scheußlichen Dasein ein Ende zu bereiten. Und sie halfen ihr auch nicht, herauszufinden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Nach Sams Tod war Julia entschlossener denn je, etwas tun zu wollen, das Wert hatte. Etwas, womit sie denen half, die Not litten. Ihre Gedanken flogen zurück zu den verwundeten Soldaten im Krieg, denen sie beigestanden hatte. Ein Dienst, der sie innerlich erfüllt hatte. Zu schade, dass ihr Onkel das niemals verstanden hatte.
Mit einer Hand an den Mund gepresst unterdrückte Julia einen Anfall von Übelkeit und Heimweh. Wenn sie doch bloß nach Brentwood zurückkehren und ihren Onkel, ihre Tante und Amelia wiedersehen könnte! Aber das war unmöglich. Onkel Howard hatte sehr deutlich gemacht, dass sie dort nicht länger willkommen war – jetzt, da sie England mit Sam verlassen hatte. Sein Ultimatum hatte damals nur noch mehr Öl aufs Feuer gegossen und ihren Entschluss zu gehen bekräftigt.
Doch nun, nachdem sie alle Brücken hinter sich abgerissen hatte, fühlte sie sich einsamer als jemals zuvor. Und was immer die Zukunft für sie bereithielt – Julia musste es allein herausfinden.
Kapitel 2
Quinn stand vor einem Eisentor, das den Weg zu einem idyllischen Haus sicherte. Das Bauwerk war groß und schmal, hatte einen Erker auf einer Seite und eine Veranda, die um das Haus herum verlief. Ein sehr passendes Aussehen für eine Pension. Eine Freundin vom Schiff, Grace Abernathy, hatte Quinn diese Pension mit den Worten empfohlen, dass ihre Schwester sich hier sehr wohlgefühlt hatte und die Inhaberin eine freundliche alte Dame war. Quinn hoffte auf ein freies Zimmer bei Mrs Chamberlain, in dem er vorübergehend unterkommen konnte.
Für wie lange wusste er nicht. Ungewissheit war etwas, das ihn auf dieser Reise konstant begleitete. Niemals wusste er, was ihn hinter der nächsten Ecke erwartete. Wenigstens die Zugfahrt nach Toronto war ohne Zwischenfälle verlaufen und hatte ihm ermöglicht, die nächsten Schritte auf der Suche nach seinen Geschwistern zu planen, und auch wie er am besten vorging, um die vermisste Julia Holloway ausfindig zu machen.
Herr, du hast mich bereits hierhergebracht. Bitte hilf mir zu vertrauen, dass du mich auch weiterhin führen wirst.
Jetzt kam ein Mann um die Ecke des Hauses, Korb und Harke in der Hand. Die Mütze hatte er tief in die Stirn gezogen, deshalb war sein Gesicht nicht zu sehen, und doch kam er Quinn bekannt vor. Als der Mann schließlich den Kopf hob und Quinn sah, stellte er den Korb ab und grinste.
„Quinn, alter Junge. Du hier!“ Jonathan Rowe eilte zu ihm, öffnete das Tor und klopfte Quinn auf die Schulter. „Und ich dachte, du würdest noch etwas länger in Halifax bleiben.“
„Das dachte ich auch. Aber dann habe ich endlich herausgefunden, wo sich die Kinder aufhalten.“
Kinder. Eigentlich war das inzwischen nicht mehr das richtige Wort für seine Geschwister. Becky würde bald achtzehn, Cecil war sechzehn und Harry zwölf – aber für Quinn waren und blieben sie Kinder. Er musste schlucken, als er an den Tag zurückdachte, an dem er in das Herrenhaus des Earls gezogen war und er sie zuletzt gesehen hatte. Der Anblick ihrer Gesichter hatte seinem Herzen einen Stich versetzt. Das Geräusch ihres Weinens – er konnte sich nicht vorstellen, wie schrecklich ängstlich sie gewesen sein mussten, als man sie nur wenige Jahre später einfach auf einem Dampfschiff in ein anderes Land geschickt hatte. Auf sich allein gestellt, umgeben von Fremden!
Mit