die Suche nach dem CVJM, bevor es zu spät wird. Haben Sie vielen Dank für die Limonade – und den Rat.“
„Gern geschehen! Oh, Sie brauchen noch die Adresse“, sagte Mrs Chamberlain, stand ebenfalls auf und holte ein Stück Papier aus der Schürze hervor. „Die habe ich Ihnen eben schon aufgeschrieben. Genau wie die vom Red Triangle Club, der gehört auch zum CVJM, beherbergt aber vermehrt Soldaten. Er ist etwas weiter weg und war in letzter Zeit oft ausgebucht. Ich denke, die Herberge auf der College Street ist die bessere Wahl“, erklärte sie und gab ihm das Papier. „Wenn Sie dort kein Zimmer finden, lassen Sie es mich wissen. Dann werde ich Pastor Burke fragen, einen Freund, ob er nicht ein Gemeindemitglied kennt, das Sie vorübergehend bei sich aufnehmen kann. Und ich lade Sie herzlich zu unserem Gottesdienst am Sonntag in der Holy Trinity Church ein. Sehr viele aus der Gemeinde kommen ursprünglich aus England, Sie werden sich also wie zu Hause fühlen.“
„Vielen Dank, Madam. Ich behalte es im Hinterkopf.“ Mit einem Lächeln steckte er das Papier ein und spürte, wie ein wenig Anspannung von ihm abfiel, zum ersten Mal, seit er England verlassen hatte. Vielleicht war er doch nicht ganz auf sich allein gestellt auf dieser Reise.
Den ganzen Abend über nahmen Quinten und seine Geschwister Harriets Gedanken ein. Während des Abendessens mit ihren Mieterinnen gelang es ihr nur mäßig, die Unterhaltungen am Tisch mitzuverfolgen. Und nun, nachdem in der Küche und im Speisezimmer alles aufgeräumt und erledigt war, saß Harriet in ihrem Lieblingssessel, schlug ihre Bibel auf und versuchte so, die Kontrolle über ihre Gefühle zurückzugewinnen.
Und doch kehrten ihre Gedanken immer wieder zurück zu Quinten und der Suche nach seiner Familie. Umso fester umklammerte sie die Bibel mit Lederumschlag. Die Geschichte dieses jungen Mannes hatte in ihr all die Sorge und Verzweiflung ihrer Kindheit wieder aufgeweckt – Gefühle, die sie längst hinter sich gelassen zu haben glaubte. Die Angst und Einsamkeit, die damit einhergingen, die Eltern verloren zu haben und weggeschickt worden zu sein, die Trauer, von ihrer lieben Schwester getrennt worden zu sein, und schließlich der tragische Verlust von Annie.
Es war offensichtlich, dass sie sich nur vorgemacht hatte, all dies bereits verarbeitet zu haben. Sehr lange hatte sie mit Annies Selbstmord gehadert. Erst die vielen Gespräche mit unterschiedlichen Pastoren hatten über die Jahre hinweg geholfen, Verständnis für Annies Tat zu erlangen und Frieden damit zu schließen. Und obgleich sich eine Kruste über der Wunde gebildet hatte, hatte es nicht viel Kratzen gebraucht, bis sie erneut blutete.
„Ist alles in Ordnung, Harriet?“ Pastor Burkes tiefer Bariton rüttelte sie aus ihren Gedanken auf.
„Geoffrey. Ich habe dich gar nicht Klopfen gehört.“
Mit einem Lächeln betrat er die Stube. „Offensichtlich nicht. Deshalb habe ich mich selbst hereingelassen. Ich hoffe, das macht dir nichts aus.“
„Überhaupt nicht. Du weißt doch, du bist hier immer willkommen“, begrüßte sie ihn, legte die Bibel beiseite und stand auf. „Ich setze uns eine Kanne Tee auf.“
Doch Pastor Burke kam auf sie zu und legte eine Hand auf Harriets Schulter. „Der Tee kann warten. Wieso erzählst du mir nicht zuerst, was dir so schwer auf der Seele liegt?“, fragte er mit einem aufrichtig besorgten Blick.
„Ach, es ist nichts. Wirklich. Ich bin nur gerade eine törichte alte Frau, die sich in Erinnerungen verliert, die besser in der Vergangenheit bleiben sollten.“
Dann musterte er sie. „Und was ist geschehen, dass du so melancholisch gestimmt bist?“
Daraufhin gab Harriet ein Seufzen von sich. „Ein Freund von Jonathan und Emma kam heute hier vorbei. Geradewegs vom Schiff aus England“, sagte sie und spielte mit der Perlenkette um den Hals. „Der junge Mann ist auf der Suche nach seinen Geschwistern, die durch die Dr.-Barnardo-Organisation hierhergeschickt wurden – genau wie Annie und ich vor vielen Jahren.“
„Aha, jetzt verstehe ich“, erwiderte er und führte sie sanft in Richtung Sofa. „Und das hat natürlich all die qualvollen Erinnerungen wieder wachgerufen.“
„Ganz genau.“
„Harriet, was kann ich tun, um dir zu helfen?“
Erneut seufzte sie. „Es gibt nichts, das irgendjemand tun könnte. Es wird schon wieder vorübergehen. So wie immer.“
Geoffrey setzte sich und legte seine Hände auf die ihren. „Kannst du dir denn etwas vorstellen, das dir helfen würde, diese Tragödie ein für alle Mal hinter dir zu lassen? Etwas, das dir hilft, mit dem Thema abzuschließen?“
Getroffen zog Harriet ihre Hand weg. „Das Thema einfach hinter mir lassen? Geoffrey, niemals werde ich vergessen, was meiner Schwester geschehen ist. Und ich werde niemals aufhören, über ihren Verlust zu trauern – ganz gleich, wie sehr ich mir wünsche, mit dem Thema abzuschließen.“ Sie stand auf und ging zu dem Kamin, wo das einzige Foto von ihrer Schwester den Kaminsims zierte. Ein zartes Mädchen mit blondem Haar und großen Augen. Augen, die einst vor Freude gestrahlt hatten, bis schließlich nur noch Verzweiflung darin lag.
Auch Geoffrey hatte sich nun erhoben und trat hinter sie. „Es tut mir leid, Harriet. Ich wollte dich nicht verletzen.“
Über die unerwarteten Tränen auf ihrer Wange errötete sie, doch dann wandte sie sich zu ihrem Freund um. Er verdiente ihre scharfe Zunge nicht. „Du möchtest nur helfen, ich weiß. Wie immer“, erwiderte sie mit einem Lächeln. „Zudem ist das, was du sagst, auch nichts Neues. Ich habe in den letzten Jahren viel darüber nachgedacht, warum es mich so verfolgt, Annie auf diese Weise verloren zu haben.“ Harriet schüttelte den Kopf und spürte, wie Schuld und Scham sich erneut in ihr breitmachten. „Ich weiß nicht einmal, wo sie begraben liegt oder ob sie einen Grabstein hat. Sollte ich nicht wenigstens das von ihr wissen?“ Doch bei den Worten erschauderte sie unfreiwillig, denn das bedeutete, nach Hazelbrae zurückkehren zu müssen. Und das war etwas, was sie sich geschworen hatte, niemals zu tun.
„Du könntest versuchen, es herauszufinden“, sagte er und musterte sie genau, als wollte er abschätzen, ob er noch etwas sagen sollte oder nicht. „Etwas, das ich trauernden Gemeindemitgliedern häufig mit auf den Weg gebe, ist, sich etwas zu suchen, womit sie ihren Geliebten Tribut zollen können. Etwas, das sowohl dem Verstorbenen als auch dem Überlebenden bedeutsam erscheint.“ Dann hielt er inne und strich sich über das Kinn. „Was, wenn du etwas in Annies Namen tun würdest? Zum Beispiel einen Baum pflanzen oder ein Stipendium in ihrem Namen ausschreiben. Es sollte etwas sein, das dir auch etwas bedeutet.“
Harriets Hals schnürte sich zu, sodass sie nur nicken konnte. „Schon oft habe ich über eine Art Denkmal nachgedacht. Aber mir fiel nichts Passendes ein“, erklärte sie und tätschelte ihm dann den Arm. „Aber danke, Geoffrey. Genau das ist es, was ich jetzt brauche. Aufhören, an das Negative zu denken, und mich auf etwas Positives konzentrieren. Ich werde das Ganze noch einmal überdenken.“
Geoffrey sah sie lächelnd an, sodass sich kleine Fältchen um seine Augen bildeten. „Gern geschehen, meine Liebe. Das ist schließlich meine Aufgabe als Pastor.“
Kapitel 3
Dr.-Barnardos Kinderheim für Jungen sah wie ein ganz gewöhnliches Haus aus. Nichts, abgesehen von einem Schild oberhalb der Tür, wies auf seine Funktion hin. Quinn zwang seine Füße vorwärts, während sein Magen vor Aufregung rumorte. Was würde er heute über seine Brüder erfahren? Im Stillen schickte er ein Gebet gen Himmel und bat um gute Neuigkeiten.
Eine große Garderobe mit Schirmständer zierte den muffig riechenden Hausflur. Quinn ging den Korridor entlang, bis er auf eine Art Empfangsbereich stieß. Dort saß eine recht ernst dreinblickende Frau, die einige Notizen in ein großes Buch eintrug. Als sie ihn bemerkte, hob sie den Blick und musterte Quinten auffällig – vom Hut auf dem Kopf bis zu den Schuhen an seinen Füßen, die er gerade erst in seinem Zimmer im CVJM poliert hatte.
„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“
„Das