Ditte Cederstrand

Alle meine Kinder


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mußte er sich jedoch mit der Fahrt allein begnügen, wie ärgerlich, denn gerade jetzt im Vorfrühling war es hübsch, am Waldrand anzuhalten und ein Stück zwischen den Bäumen zu gehen. Aber er hatte doch noch genug Zeit, um langsam den großen, breiten Weg entlangzufahren, der durch ein Stück Tiefebene führte; auf der einen Seite der Wald und auf der anderen Seite, weit hinter den Feldern, der aufsteigende Höhenrücken mit vereinzelten Höfen und Häusern. Die Büsche im Gehölz waren rot vor Saft, noch leuchtender als vorgestern, als sie ihn darauf aufmerksam gemacht hatte.

      Vorgestern, dachte er, da saß sie neben mir, und sie hatte ihre Hand auf meinem Knie, ließ sie dort liegen, als wir vom Weg abbogen, quer durch das erblühende Land am Höhenrücken fuhren, bergab und bergauf – und die Tannen schlossen sich hinter uns; die Räder knirschten auf dem Kiesweg, und sie saß da und sang, ganz leise, ich hörte es kaum, weil der Motor so brummte.

      Er dachte an ihre kurzen Begegnungen, irgendwo, in einer Stadt, in einem beliebigen Wirtshaus, am liebsten aber hier oben auf dem Hügel. Wie jedesmal, wenn er an Elsa dachte, kam Ruhe über ihn. Eine heitere Freude belebte ihn, gab ihm das Gefühl eines fast kosmischen Gleichgewichts. Gunvors Worte fielen ihm ein, was ein nettes Mädchen dürfe – wieviel weniger nett würde man ihn finden, wenn jemand von dem zwischen ihm und Elsa wüßte. Und er dachte daran, daß man eine so innige Freundschaft wie die ihre mit dem Etikett Untreue versehen müßte. Dennoch war es eine Tatsache, daß auch sie dieser Forderung nach Nettigkeit unterlagen. Wieder fühlte er, daß sie vielleicht eine Schwäche war, diese Nettigkeit, die zu Kompromissen zwang, zu Rücksichtnahme, Höflichkeit. Konnte man ohne sie leben, sollte man es tun? Wäre man dann ehrlicher und vollkommener?

      Aber im Grunde genommen wünschte er nicht, daß sich etwas ändern sollte. Er hatte versucht, sich Elsa in seinem Heim vorzustellen, an Gunvors Stelle. Und er war nicht sicher, ob das richtig wäre – nicht jetzt, vielleicht wenn sie älter würden und die Entbehrung sie zu Veränderungen zwang. Jetzt war Gunvor ein Teil seines Lebens, Elsa ein anderer. Beide gehörten dazu, als Teile des eigentlichen Lebens, auf dieselbe Weise wie die Kinder, und er fühlte, daß sein Leben dadurch reicher wurde. Alles das trug dazu bei, daß es zu einem richtigen Leben wurde, und gab ihm das Wissen um das Wesentliche.

      In Artikeln über das Wohlbefinden am Arbeitsplatz, im Zusammensein mit anderen, wurde oft geschrieben, daß die äußere, aber auch die innere Nettigkeit ein Zeichen von Schwäche sei – ob das nun stimmte oder nicht, man mußte der Tatsache ins Auge sehen, daß man nett und durchschnittlich war. Viele Faktoren ließen einen so werden – Zuhause, Erziehung, Schule, Kameraden – vor allem die Eltern, die man nun einmal bekommen hatte. Das schloß ja nicht aus, daß man ein gewisses Bedürfnis nach Aufruhr gefühlt hatte, sich mit allem möglichen herumschlagen mußte, aber immer innerhalb der Grenzen, die, wie man wußte, von den andern und besonders von einem selbst, wenn es darauf ankam, respektiert werden konnten. An sich war das Wort „nett“ natürlich indiskutabel, es entstammte ebenso wie Pussers unglückseliger Ausbruch einer Sprachgewohnheit. Beispielsweise würde ihn Pussers Mutter, Marta, eine robuste und schlagfertige Frau, die in der Konservenhalle arbeitete, absolut als netten, ja sogar feinen Mann ansehen. Aber wenn ihr jemand erzählte, daß er, wie man sagt, seiner Frau untreu sei, ja, dann wäre er in ihren Augen ein Schuft. So verwickelt war das.

      Er steigerte das Tempo etwas, wollte pünktlich sein. – Nett, aber unter allen Umständen guten Willens. Es konnte auf und ab gehen im Leben, auch in seinem, das fühlte er, aber was auch daraus wurde, ob sich etwas veränderte oder nicht, er gehörte zu den Männern guten Willens. Tja – aber recht besehen, was hatten sie denn erreicht, diese Männer?

      Er spürte, wie ein Gedanke, der in letzter Zeit immer dann auftauchte, wenn er sich am wohlsten fühlte, sich nun wieder in ihm festsetzte und ihn daran zweifeln lassen wollte, daß das tatsächlich so positiv sei, dieses – man hat den guten Willen, und das ist genug. – Er schob den Zweifel von sich. Wieviel schlimmer für den einzelnen und für die Welt sähe es aus, wenn diese Männer gefehlt hätten, tröstete er sich.

      Weit nach Nordost zog die Pappelallee ihre Linie rechtwinklig zur Landstraße. Je näher er kam, desto funkelnder fiel das Licht auf die Knospen der Zweige. Er philosophierte ein bißchen – wenn nun der Gründer der Fabrik, der vielleicht vor Augen gehabt hatte, wie sie zur Blüte kommen und Mittelpunkt einer ganzen kleinen Gesellschaft werden könnte, Eichen gepflanzt hätte, dann hätten sie die Kleinigkeit von hundert Jahren auf einen schattigen Weg warten müssen.

      Bei der morgendlichen Konferenz erwartete ihn eine Überraschung; oder richtiger, sie kam etwas früher. Bevor man sich im Konferenzraum versammelte, bat ihn Ryholm, der Verwaltungsdirektor der Fabrik, zu sich.

      Ryholm hatte die vertrauliche Stimme, und es überraschte Erik eigentlich nicht, daß nun die Entscheidung gefallen war – Chefingenieur Hansen sollte abgebaut werden. In den letzten Jahren hatte die Trinkerei dieses Mannes derartig zugenommen, daß man die von ihm angestellten Dummheiten schließlich nicht mehr durchgehen lassen konnte. Aber daß man ihn, Erik, zum Nachfolger ausersehen hatte, das hatte er nicht erwartet. Seine Freude über die Ernennung war aber nicht ungetrübt, denn ein paar seiner Kollegen konnten sich mit einigem Recht übergangen fühlen. Er deutete die prekäre Situation an, in die er kommen würde, aber Ryholm machte eine großartige Geste und lächelte, jedoch wie üblich, ohne den Angesprochenen anzusehen, und fragte, ob er vielleicht wisse, welche Pläne die Direktion mit den andern guten Leuten habe? Erik mußte zugeben, daß er das nicht wisse, und wenn seine Beförderung nur ein Glied in der Personalpolitik sei, freue er sich natürlich und sei sich dieser zweifellos großen Ehre bewußt. Nach dieser kleinen Vororientierung ging er für einige Minuten in sein Büro zurück.

      Während der Konferenz jedoch, die wie üblich eine knappe Stunde dauerte und an der die Ingenieure, der stellvertretende Direktor, der Hauptbuchhalter, der Verkaufschef und der Personalchef teilnahmen, schoß Ryholm die Neuigkeit ab. – Sein Platz war bisher am unteren Tischende zwischen Ingenieur Cortsen und Ingenieur Christensen gewesen, und jetzt, da man ihn aufforderte, sich auf den freien Platz neben Chefingenieur Carlsen zu setzen, war es ihm, als verließe er mehr als seinen bequemen Stuhl, als wechselte er über in eine Nachbarschaft, in der er sich eigentlich nicht zuhause fühlte. Dazu trug vielleicht auch das Bewußtsein bei, daß Hansens Schicksal hiermit endgültig besiegelt wurde, jetzt wußte jeder, daß der Mann fallengelassen, untergegangen war. Ein tüchtiger Mann, gut – aber auch schwach. So waren die Bedingungen, nur unangenehm, daß er, Erik, nun gleichsam den Schlußstrich zog.

      Nach der Konferenz scharten sie sich um ihn, beglückwünschten ihn, drückten ihm die Hand und wechselten witzige Bemerkungen, dann verschwand Ryholm in sein Zimmer, und die andern folgten seinem Beispiel – Gormsen jedoch erst, nachdem er Erik gefragt hatte, welche Änderungen er in Hansens früherem Büro wünsche. Erik ging langsam hinterdrein, blieb im Kontrollgang über den Hallen hier und da stehen und sah durch die Glaswände auf die Maschinen hinunter.

      Chefingenieur also, Verantwortlicher für das wichtigste Drittel der Produktion, für etwa achthundert der fleißigen Ameisen da unten. Eigentlich war ja nichts anders als vor einer knappen Stunde, aber er hatte irgendwie das Gefühl, als trüge auch er jetzt so eine Art unsichtbaren Asbestanzug, mit dem sich, wie man glauben konnte, die oberste Leitung isolierte. Er hatte auch schon vorher Verantwortung gehabt, man hatte ihn mit gebührendem Respekt gegrüßt, aber er war nie einer derjenigen gewesen, vor denen sie unwillkürlich die Stimmen dämpften. – Na ja, man sollte so was natürlich nicht zu ernst nehmen, das sind Umstände, an die man sich gewöhnen muß, Tatsachen, die mit den Jahren und mit wachsender Verantwortung unvermeidlich kommen.

      Von den Laboratorien ging er die wenigen Stufen hinunter zum nächsten Quergang, er dachte daran, wie oft er hier mit einer Gruppe ausländischer Gäste gestanden hatte, wie er ihnen die verschiedenen Maschinen gezeigt, von Typen, Kapazität, Produktionsvermögen gesprochen, Quoten, Zahlen und Maße genannt hatte. Auch in Zukunft konnte es passieren, daß er mit einer Gruppe dastehen würde, aber dann würden es andere, bedeutendere Leute sein, die eigentlichen Spitzen. Er ging weiter, blieb einen Augenblick vor der Konservenhalle, seinem Lieblingskind und bisher einzigen Arbeitsbereich, stehen und betrachtete sie. Obwohl er mit Arbeitsgang und Zusammenspiel bis ins kleinste Detail vertraut war, hatte er doch bis zum heutigen Tag