Ditte Cederstrand

Alle meine Kinder


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stichhielten, daß nichts in die Brüche ging. Dieser gigantische Wirrwarr, alle diese Glieder, die für die Gesamtheit notwendig waren, alle diese Menschen darin, die, von hier oben gesehen, in wahnwitziger Aktivität durcheinander stürzten. Alle, das wußte er, dachten an den Akkord. Halten wir den Akkord oder nicht – das war Ansporn und Triebfeder.

      Unten am Ende der Treppe kam auf den glatten Fliesen mit üblichem Tempo Pusser angerast, rief „Tag!“ und rannte auf klappernden Holzschuhen in den Waschraum. Ein Anflug von Zärtlichkeit überkam ihn. Herrgott, dieses Mädchen. Tja, Gunvor hatte vermutlich recht, es gab kein frecheres junges Mädchen als eben die Freundin ihrer Tochter – draufgängerisch, naseweis, schlagfertig, ab und zu auch, allerdings gerade von ihnen selten überhört, geradezu grob. Augen, die vor Lebensmut funkelten, alles versuchen, überall dabeisein wollten und ständig auf Jagd nach etwas Neuem, Spannendem waren. Pusser gehörte zur Abteilung für Kindernahrung, eine der besten und saubersten Abteilungen der Fabrik. Wenn er Jonsen, dem Abteilungsleiter dort, etwas zu sagen hatte, ging er oft durch den Abfüllraum, wo sie saß, ging vom Fahrstuhl in den Vorraum und fingerte einen Augenblick an dem Mundschutz, den alle, die den Produktionsraum betraten, anlegen mußten. Man konnte sie bis hierher lachen und albern hören. Es war merkwürdig – obwohl die Mädchen nicht von dem phlegmatischen Jonsen ausgesucht wurden, arbeiteten hier lauter Blondinen, die meisten unter achtzehn Jahren. Ein richtiges Kinderzimmer. Mit ihrer quicklebendigen Frechheit waren sie völlig außer Rand und Band, voller Späße und Einfälle, manchmal auch Bosheiten; doch die Frechste, Vorlauteste, Naseweiseste – das war Pusser; und man mußte Gunvor eigentlich recht geben, wenn sie ab und an eine Bemerkung fallen ließ, daß Pusser wirklich eine Göre sei. Das war sie wohl, eine moderne Göre. Und dennoch so ganz unwiderstehlich, diese blitzenden graublauen Augen über dem weißen Mundschutz, hübsch auf eine Art, die, wie er wußte, zur Vergänglichkeit verurteilt war; nach ein oder zwei Jahren würde sie nur noch ein energisches, berechnendes, abgebrühtes Fabrikmädchen sein, wie so viele andere. Es fiel ihm schwer, auf sie oder die andern böse zu sein; aber eigentlich war ihr Geschrei völlig unzulässig, vielleicht sollte man sich darum kümmern. Er hatte auch oft bemerkt, daß ständig ein oder mehrere Burschen, die gerade Pause hatten, auftauchten, um mit den Mädchen zu tratschen, und immer war es Pusser, mit der sie sich in den Haaren lagen. Sie hatte einen regelrechten kleinen Hof um sich, wenn sie mit ihrer großen Schürze an der Maschine saß. Der Abfüllmechanismus lärmte, drehte und drehte sich – mechanische Bewegungen, sie brauchte überhaupt nicht auf ihre Arbeit zu sehen, die ging ruhig ihren Gang. Und währenddessen lachten sie, erzählten, riefen. Das ging wirklich zu weit, aber wenn Jonsen das mit größter Ruhe ertragen konnte und vielleicht sogar wußte, warum er sich so verhielt – sicher brauchten sie diese Entladungen, von dem Pulver und Quecksilber in ihnen mußte ein bißchen abgelassen werden, wenn sie funktionieren sollten –, ja, dann, du lieber Gott, die Arbeit ging doch, wie sie sollte.

      Er persönlich wollte es ihnen auch nicht verdenken, daß sie sich ein bißchen Luft machten. Eine derartig geisttötende Arbeit, vielleicht nicht besonders unangenehm, weder feucht noch schmutzig, aber entnervend! Eine faltete Kartons, eine zweite kniffte sie zusammen, eine dritte stellte sie auf eine Maschine, eine vierte strich Leim drauf, eine fünfte nahm sie als fertige Schachteln herunter und setzte sie auf eine neue Maschine, dann glitten sie an einem automatischen Abfüllapparat vorüber, der mit dröhnenden Kolben aus einem Riesentrichter das richtige Quantum Mehl hineindrückte, und dann glitten sie auf dem Fließband weiter zu Pusser. Sie setzte sie auf ein neues Band, auf dem sie weiterliefen, bis sie automatisch geschlossen, mit der Hand gefaltet und gepreßt wurden, die Leimwalzen surrten, die Pakete drehten sich zum nächsten Mädchen, das sie abnahm und überwachte, wenn sie wie die Zinnsoldaten im Gänsemarsch durch ein Loch in der Wand hinter Pusser verschwanden. Und das wiederholte sich ständig, Pusser kontrollierte auch die fertigen Pakete. Manchmal passierte etwas auf der anderen Seite, und dann marschierten die Pakete in langen Reihen auf. Erik erinnerte sich noch an den Tag, als sie die neue, sinnreiche Maschine vorführten, er selbst hatte sie mit konstruiert, und sie war ihm und den anderen Sachverständigen in ihrer Wirkungsweise effektiv und einfach erschienen. Und doch mußte man die Mädchen bewundern, die sie so elegant bedienen konnten. Das sah immer noch sehr einfach aus, erforderte jedoch in Wirklichkeit ständige Konzentration, nur einen Augenblick Unaufmerksamkeit, dann lief ein Paket schief, der Karton wurde geknickt, kam verkehrt in die Presse, der Leim lief auf die Walzen und sonstwohin, und das Ganze ging zum Teufel. Getöse und Spektakel setzten ein, Pakete wurden unbrauchbar, Salzsäure mußte her zum Reinigen. Ja, er hatte das ein paarmal gesehen. – Aber ganz gleich, wie beschäftigt sie mit den Jungen war – mit Erzählen, Rufen, Äugeln –, nichts ging bei Pusser schief, das Mädchen wußte, was es tat.

      Aber nun lief sie also hier herum, anstatt dort zu sein, wo sie zu dieser Zeit sein müßte; und wenn es auch wohl nicht seine Aufgabe war, sollte er ihr nicht doch eins auf die Nase geben? Nicht nur wegen der Bummelei, sondern vor allem wegen der unverschämten Art, wie sie und Rie – die eine stand der anderen wahrhaftig nicht nach – sich ihm und besonders Gunvor gegenüber benahmen. – Heute nicht. Ein andermal. Aber vielleicht – vielleicht sollte man Gunvor dennoch in ihren Bemühungen unterstützen, die Freundschaft zwischen den beiden ein bißchen abzukühlen. Ob Rie das nun mochte oder nicht, es gab Dinge, von denen sich – er ließ das Wort ein wenig auf der Zunge zergehen – die Tochter eines Chefingenieurs fernhalten sollte, Gesellschaft, von der sie sich etwas zurückziehen müßte.

      Wie immer, wenn er direkt aus den Speisedünsten und dem Lärm der Halle kam, schloß sich sein Büro sicher wie eine Pappschachtel um ihn. Er blieb einen Augenblick stehen und sah sich um. Acht Jahre. Und so was wie eine Höhle. Warum diese unterschwellige Wehmut, wo es sich doch zum Besseren veränderte? Eigentlich merkwürdig. Vielleicht, weil er daran dachte, was er hier alles nicht erreicht hatte? – Na ja, mit der Zeit gewinnt man die Dinge eben lieb, trinkt Brüderschaft mit ihnen, sie verwachsen mit einem. Er ging umher und holte Nachschlagbücher, Statistiken, Listen und andere Dinge hervor, die er mit in das neue Luxusbüro nehmen wollte, all die geschäftsmäßigen Selbstverständlichkeiten, aber auch den gelben Krug mit den Bleistiften, den er neben dem Telefon stehen hatte, die Federschale, die ein bißchen altmodisch war, die ihn jedoch seit dem Studium begleitet hatte, und den Stein, den kugelrunden Stein, den Elsa – nun war es schon viele Jahre her – gefunden und ihm geschenkt hatte und den er als Briefbeschwerer benutzte. Elsa und Gunvor – er mußte telefonieren.

      Zweites kapitel

      „Ich möchte irgendwas unternehmen“, sagte er von der Balkontür her.

      „Großer Gott!“ Gunvor streckte sich im Bett aus. „Das soll doch wohl nicht heißen, daß du mit Energie geladen bist?“ „Ach was! Ich hab nur Lust zu irgendwas – irgendwas anderem. Was meinst du, wir fahren an der Küste entlang, frühstücken irgendwo?“ Er sah sie gutgelaunt an. „Das klingt ja wirklich ganz nett, aber – nein, das geht nicht! Sonntag! Du weißt doch, daß das sonntags nicht geht.“ „Sie werden schon nicht gleich sterben, wenn wir mal wegfahren.“

      „Trotzdem – das können wir nicht.“

      „Es ist noch früh, wir könnten das gut.“

      Sie setzte sich auf, resolut, schwang die Beine über die Bettkante, erhob sich, fuhr sich durch die Haare und bohrte die Zehen in den Rya-Teppich, rekelte sich wieder.

      „Das können wir nicht, wenn sie alle zu Hause sind. – Nach dem Frühstück vielleicht.“

      Er wurde ein bißchen verdrossen – nach dem Frühstück, das wäre nicht dasselbe, und jetzt sollte sie das auch mal zu wissen bekommen. „Ehrlich gesagt, diese sonntäglichen Zusammenkünfte gehn mir langsam auf die Nerven. Jawohl!“

      Sie sah ihn verständnislos, fast etwas zurechtweisend an. „Wir sind doch nur unter uns.“

      „Vielleicht, aber all der Lärm und ihre Banalitäten, ja, und dann Harry, ich kann ihn nun mal nicht ausstehn.“

      „Hör doch auf! Wir müssen das doch.“

      „Was heißt müssen.“

      „Doch, wir müssen!“

      „Das sehe ich nicht ein. Ehrlich gesagt, ich finde