Paul Oskar Höcker

Die verbotene Frucht


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sprach sie, sich ein wenig überstürzend, bloss über die Einladung des Kapitäns und seine Liebenswürdigkeit.

      Aber insgeheim ärgerte sie sich über ihre seltsame innere Unfreiheit.

      Fünftes Kapitel

      Der Speisesaal wies grosse Lücken auf. Auch der Platz neben Jutta war leer: sie hatte also richtig vorausgesagt. Der schlesische „Kohlenbaron“ war ziemlich schweigsam und bewies eine starke Abneigung gegen Fisch- und Fleischgerichte; auch der Oberstaatsanwalt und der Heidelberger Professor. Stangenberg trug zusammen mit der jungen Frau die Kosten der Tafelunterhaltung allein.

      Schon während des zweiten Ganges des fürstlichen Diners, das unter rauschender Musikbegleitung genommen wurde, hatten die Gläser, die auf den Tafeln standen, kleine Wanderungen ausgeführt: wie von unsichtbaren Händen geschoben, erst nach links, dann nach rechts. Da und dort erhob sich ein gezwungenes Lachen im Saale, oder es gab einen kleinen Aufschrei. Die Stewards holten eilends die Sturmhölzer, die sie an sämtlichen Tischen festschraubten. Das Schiff rollte. Man sah die ersten Opfer in schleunigem Schritt den Saal verlassen. Plötzlich holte das Schiff über — für ein paar Sekunden drehte sich die Schraube frei in der Luft — und dabei gab’s einen klirrenden Krach. Alle Flaschen und Gläser, die noch nicht in den Sturmhölzern standen, fielen um.

      „Das soll nun eine Frühlingsfahrt nach dem ewig sonnigen Süden sein!“ bemerkte Succo mit einem krampfhaften Lächeln.

      „Wenn ich wüsste, dass ich das Deck ohne Unfall erreiche, ging ich doch lieber hinauf“, sagte Frau von Druhsen.

      Jutta staunte über ihren Mann. Ein leichter Schweiss stand auf seiner Stirn; aber er nahm alle Willenskraft zusammen, um Herr seiner Nerven zu bleiben. So oft die Steuerbordseite, auf der ihre Tafel stand, sich senkte, schloss er die Augen und presste die Zähne fest aufeinander.

      Es schien für die Fahrgäste nur noch Seemannsgespräche zu geben. Mehrfach sprach man über die beruhigende Aussicht, dass man im Laufe der Nacht in den Schutz der Küste von Korsika käme; dann würde die stürmische Bewegung ohne Zweifel abflauen.

      „Wer sich so lang tapfer hält, ist also gerettet“, sagte der Rittmeister, Juttas Gatten verstohlen von der Seite betrachtend.

      Wieder gab’s ein Klirren. Diesmal kam’s aus dem Anrichteraum. „Für hundert Mark Porzellanbruch!“ meinte ein Eingeweihter. Die Musikkapelle liess sich nicht stören. Ihre Weisen klangen nach wie vor lustig durch den bald nach rechts, bald nach links sich neigenden, schon stark gelichteten Saal.

      Ein paarmal hintereinander rollte nun das Schiff so stark, dass die Baronin sich mit der Rechten verzweifelt an ihren Nachbar, den Heidelberger Professor, anklammerte.

      „O Gott, ist mir übel!“ rief irgendwer.

      Und das war das Signal zu einer allgemeinen Flucht. Wenige Augenblicke später sass Jutta mutterseelenallein mit Herrn von Stangenberg am Tisch. Auch ihr Gatte war verschwunden. Sie wussten beide nicht, wie dies so blitzschnell hatte vor sich gehen können. Komisch wirkte es auf alle Fälle.

      „Es ist ja herzlos“, sagte der Rittmeister, „ich gebe zu, es wird einem als teuflische Schadenfreude ausgelegt. Aber man kann dagegen nicht an: es wirkt aufs Zwerchfell.“

      Jutta musste in sein Lachen mit einstimmen. „Es kam so plötzlich!“ rief sie. Aber dann wandte sie doch unsicher den Blick der breiten Freitreppe zu. „Ich müsste wohl nach meinem Mann sehen.“

      „Nein, nein, nein, ja nicht! Folgen Sie dem Rat eines Sturmgeprüften, gnädige Frau, es ist praktischer und edler, Ehegatten bekümmern sich im Zustand der Seekrankheit überhaupt nicht umeinander.“

      „Sie sind wirklich herzlos.“

      „Bitte sehr. Erstens hilft alles Zusprechen nicht. Und dann — raubt es holde Illusionen.“

      Sie drohte ihm leicht mit den Augen, musste aber doch wieder lächeln. Er freute sich sichtlich, dass er den Platz behauptet hatte, und schenkte zwei Gläser Sekt ein: eines aus Succos, das andere aus der eigenen halben Flasche. „Die kann man nicht lange genug bewahren, gnädige Frau, denn sie erhalten jung.“

      „Ich bin aber nicht mehr jung genug, um mich der Täuschung hinzugeben, dass Sie jetzt die Situation nicht böswillig ausnutzen wollen.“

      „Sehr gut.“ Er lachte. „Schliessen wir Frieden, gnädige Frau. Wie Sie sehen, sind wir beide an diesem Tisch die einzigen Seefesten, sind also während der Sturmzeiten aufeinander angewiesen.“

      „Haben Sie vor, sich dann immer über meinen Mann lustig zu machen?“

      „Meine Gnädigste!“

      Es kam zwischen ihnen durch diese äusseren Umstände eine gewisse Vertraulichkeit auf. Natürlich machte er ihr den Hof, und sie liess es geschehen. Einmal war Stangenberg ja wirklich ganz unterhaltend — und zweitens ungefährlich. Sie nahm sich vor, ihm das zu sagen. Aber dann liess sie’s doch: wenn er ihr fast fünf Tage lang ein netter Tischherr sein sollte, dann musste er sich schon ein bisschen in sie verlieben.

      Auf ihren Mann war nicht zu rechnen.

      Er hatte sich von zwei Stewards in die Kabine hinaufführen, auskleiden und zu Bett bringen lassen.

      Als sie sich dort einstellte, war auch noch die Stewardess zugegen, mit der Herrichtung des zweiten Bettes beschäftigt. Die war sichtlich verwundert, dass die junge Gnädige von der Seekrankheit verschont blieb.

      „Um Gottes willen, lass mich, Jutta!“ stöhnte ihr Mann, als sie an sein Lager kam. „Ich will nicht bedauert werden — und ich will nicht, dass du überhaupt — überhaupt zusiehst ... o Gott!“

      Sie wandte sich schleunigst ab. „Aber ich kann dir vielleicht irgend etwas bringen, Gustl?“

      „Nein, nein. Bloss nicht fragen. Und dafür sind doch Angestellte da. Es ist ja so — so unästhetisch.“

      Sie ging also. Ziemlich erlöst. Auch bei den späteren Besuchen hatte sie die Wahrnehmung: er fühlte es selbst, dass ein Gesunder die Seekrankheit nicht als heldenhaftes Leiden auffassen konnte, und er war zu feinfühlig veranlagt, als dass er von seiner jungen Frau in diesem Zustand gesehen werden wollte. Vielleicht war es nur Eitelkeit und Scham — sie legte es ihm aber als zarte Rücksicht aus. Auch dem Rittmeister gegenüber.

      Es war die ganze Nacht durch stürmisch. Da Succo darauf bestanden hatte, dass das Fenster auf blieb, war es in der Kabine sehr kalt. Jutta hatte ihre Pelzjacke übergezogen, fühlte sich sehr mollig und schlief prächtig. Succo fror mörderlich. Am folgenden Tag blieb er liegen, er zeigte sich an Deck selbst während der beiden Stunden nicht, da die „Holstein“, um neue Fahrgäste aufzunehmen, im Hafen von Neapel stillag.

      Juttas ständige Begleitung bildete nunmehr Stangenberg. Die übrigen Reisenden konnten sie für Vater und Tochter halten — vielleicht auch für ein ungleiches Ehepaar.

      Mehrmals waren sie auf ihren Spaziergängen an Deck dem Vetter begegnet. Er mochte keine Ahnung haben, dass sie ihn kannte, wusste wohl nicht einmal, dass sie Deutsche waren, denn er kümmerte sich um niemand von der weiteren Schiffsgesellschaft. Jutta sah ihn nur mit seinen nächsten Tischnachbarn und den Schiffsoffizieren reden. Die englische und französische Sprache herrschte an Bord vor. Auf der kleinen, ganz schief liegenden, von den Wellen hin und her geschleuderten Dampfbarkasse kamen nun mit den neuen Fahrgästen auch noch Italiener von Neapel herüber.

      Jutta stand auf der Steuerbordseite und beobachtete gleich allen seefest Gebliebenen die Überholung der Ankömmlinge. Selbst hier im Hafen war der Wogengang so stark, dass die Barkasse oft an die zwei Meter hoch über die unterste Stufe der Fallreepstreppe emporgehoben wurde. Die einzelnen Ankömmlinge konnten nur durch einen Sprung — unterstützt von vier Matrosenarmen — auf die Schiffstreppe gelangen.

      Über die lange Steinmole des Hafens jagten mächtige Schaumkämme. Von Neapel, vom Golf überhaupt, vom Vesuv war nichts zu sehen.

      „Es könnte ebensogut die Nordsee im Februar sein“, meinte Stangenberg.

      Zwischen