Paul Oskar Höcker

Die verbotene Frucht


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hatte den Ton etwas erhoben, sprach auch rascher und schärfer, um seine Frau zur Sache zurückzubringen.

      Aber sie hörte nicht. Ihr Blick hatte sich an die junge Mutter geklammert, die mit gesenktem Kopf draussen wieder über den Platz schlich. Es war, als ob den grossen Augen Juttas eine magnetische Kraft innewohnte, denn das Mädchen blieb jetzt plötzlich stehen und sah die fremde Dame scheu an.

      „Gib ihr was, Gustl“, sagte Jutta leise.

      Dicht bei der Veranda stand ein Polizist. Wohl lediglich diesem streng dreinblickenden Posten war es zuzuschreiben, dass die Gäste an der Strasse bis jetzt unbehelligt geblieben waren. Der Beamte musterte die still Dastehende ziemlich drohend.

      „Hier darf anscheinend nicht gebettelt werden“, sagte Herr von Succo, dem jedes Aufsehen peinlich war. Er wollte seiner Frau einen Wink geben, aber sie starrte noch immer wie in einem Bann die Fremde und das Kind an.

      „Gib ihr doch was, Gustl“, bat sie noch einmal, dringlich flüsternd, „sie bettelt ja gar nicht.“

      „Bloss mit den Augen“, meinte der Rittmeister a. D. und griff lächelnd in die Tasche.

      „Jutta!“ Succo suchte seine Frau zu beschwichtigen, da sie sich jetzt plötzlich erhob: offenbar wollte sie das Mädchen heranrufen. „Da draussen steht der Polizist. Pass auf, es setzt Unannehmlichkeiten, und dann bist bloss du schuld.“

      „Die Augen von den beiden. Sieh doch nur. Was da drinsteht. Der Jammer. Der Hunger. Und wir sitzen hier, es geht einem gut, und man soll das Elend still und stumm mit ansehen.“

      „Jutta, ich bitte dich. Nur nicht gleich so aufgeregt. Alle sehen schon her. Setz dich doch. Wir schicken ihr ein Frankstück hinaus, und damit holla.“

      „Sie ist selbst noch ein Kind, die Mutter. Ach, Gustl, sieh nur, und die Kleine, wie die mich anguckt. Das arme Puttchen. Ach nein, Gustl, nicht bloss ein Frankstück. Bitte, bitte.“

      Von allen Nachbartischen aus beobachtete man die Szene. Jutta hatte sich über das Blumengeländer gebeugt und suchte sich mit dem Mädchen zu verständigen. Sie wollte erfahren, wieviel Wochen das Baby zählte. Die Antwort war aber nicht zu verstehen. Der Rittmeister von Stangenberg meinte, es wäre gar keine Französin, sondern eine Andalusierin. Jutta hielt im Unterhandeln ihre rechte Hand hinter sich ihrem Gatten zu. Fast gleichzeitig legte jeder der beiden Herren eine grössere Silbermünze hinein. Jutta reichte der Fremden das Geld. Die nahm es mit hastiger Gebärde — und im nächsten Augenblick schoss sie davon, wie auf der Flucht vor dem Polizisten, der sich indessen schon wieder gleichgültig abgewandt hatte.

      Nun setzte sich die junge Frau und lächelte still vor sich hin. „Es war noch nicht acht Wochen, sicher nicht. Aber wie’s mich angeguckt hat ...“

      Herr von Succo nahm das Reisethema wieder auf, vielleicht etwas zu hastig, so dass man merkte, er wollte die Unterbrechung schleunigst vergessen machen. Er hatte ja immer zu zügeln, zu beschwichtigen und zu mässigen bei seiner Frau. Sie war ganz Nerv, ganz Temperament. Fortgesetzt arbeitete ihre Phantasie. Sie rieb sich damit vorzeitig auf, meinte er. Der Arzt hatte ihn auch schon gewarnt. Sie war achtzehn Jahre gewesen, als er sie geheiratet hatte. Ein Kind war zur Welt gekommen, aber nach wenigen Wochen gestorben. Er hatte damals viel mit ihr durchgemacht. Alles in ihr strebte nach Betätigung. Und ganz von ihren Stimmungen abhängig, setzte sie sich dabei auch manchmal über die Schranken hinweg, die ein ungeschriebenes Gesetz den Frauen der höheren Beamten zog.

      „Nanu, Jutta, wo ist denn dein Armband?“ fragte er plötzlich.

      Die junge Frau hob die Linke — suchte dann erschrocken auf ihrem Schoss, rückte den Stuhl zurück und stand auf — und auch die beiden Herren erhoben sich und begannen zu suchen. Sofort war ein Kellner zur Stelle. In der ersten Erregung — denn das Armband hatte grossen Wert — fand sich Succo nicht in die französische Ausdrucksweise hinein. Jutta half aus.

      „Ich hab’s noch vorhin selbst gesehen, gnädige Frau“, bestätigte Stangenberg. „Ein goldenes Kettenarmband mit einem gefassten Brillanten, nicht wahr?“

      „Das Mädel hat’s!“ stiess Succo aus. Nur eine Sekunde überlegte er. „Pardon!“ sagte er dann so kaltblütig, als es ihm möglich war, knöpfte seinen Rock zu und trat auf die Strasse.

      Er schien die Gestalt noch im Gewühl zu erkennen, denn mit einem Male gab er sich einen Ruck und eilte davon.

      Auf Stangenbergs Anordnung wurde der Direktor des Restaurants herbeigerufen. Wiederum gab’s eine Absuchung des Platzes — wiederum erfolglos.

      Jutta sass mit einem Armsündergesicht da. Ihr Nachbar bemühte sich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Sie haben wohl Angst vor Schelte?“ neckte er.

      „Wenn er die Ärmste bloss nicht findet!“ sagte Jutta.

      Dieser Gedankengang wirkte auf ihn so verblüffend, dass er zunächst sprachlos war: — sie sorgte sich also nicht um das Armband, sondern darum, dass die Diebin ertappt werden könnte. Das war originell.

      Der Direktor hatte inzwischen den Polizisten unterrichtet. Der kam herein, und ein Herr aus der Nachbarschaft nahm an der Darstellung der Sachlage hilfreichen Anteil, weil die beiden Ausländer das Französisch der Zwischenfragen des stark nach Knoblauch duftenden Beamten nicht verstanden.

      Da — mitten im Gewühl des Platzes — ein plötzliches Anschwellen des Lärms in einer der Gruppen. Ein zweiter Polizist schob im Geschwindschritt rechts die junge Bettlerin mit dem Kind, links einen halbwüchsigen Stiefelputzer vor sich her. Der Junge schluchzte — das Mädchen sah mit leerem, scheuem Blick vor sich hin.

      „Da sind sie!“ stiess Jutta erschrocken aus.

      In demselben Augenblick kam Herr von Succo eilig zurück. „Verzeihung für die Störung, Herr von Stangenberg. Darf ich Sie bitten, meiner Frau noch ein Viertelstündchen Gesellschaft zu leisten?“

      „Mit Vergnügen, selbstverständlich. Und wie liegt der Fall?“

      „Sie arbeitet wohl gemeinsam mit dem Bengel, die Kleine. Das soll ihr Bruder sein. Schon mal bestraft. Der Polizist kannte ihn. Als ich kam, teilten sie gerade das Geld. Aber das Armband war schon heidi. Haben sie sicher geschwind ’nem Dritten zugesteckt.“

      „Dann lass doch, Gustl.“

      „Wieso lass doch? Das wäre ja noch schöner, Kind!“

      „Sonst willst du immer nicht, dass Aufsehen gemacht wird. Und jetzt bitte ich dich. Wirklich, Gustl.“

      Ihr Gatte hatte schon wieder seine volle Überlegenheit zurückerlangt. „Nein, meine liebe Jutta, das ist für mich nun Berufssache.“

      Stangenberg zwang sich zu einem Lächeln. „Ich denke, Sie haben Ferien?“

      „I, man muss doch mal feststellen, wie die wackern Marseiller so ’ne Sache anfassen. Ist doch riesig bildend für unsereinen.“

      „Lass sie laufen, Gustl, bitte, bitte, mir zuliebe, lass sie laufen!“ Es lag Angst in ihrem Ton.

      „Fällt mir nicht ein, Kind. — Aber ich bin gleich wieder da. — Nochmals: mille fois pardon!“

      Und weg war er.

      „Ist es ein Andenken, gnädige Frau?“ fragte der Rittmeister. Und da sie kurz bejahte: „Ausgeschlossen ist’s ja nicht, dass Sie’s wiederkriegen.“

      „Ich will es nicht. Ich werd’s auch nie wieder tragen.“

      „Aber meine Gnädigste!“

      „Ich kann den schrecklichen Blick nicht vergessen. So leidensvoll. Und das Würmchen — noch nicht acht Wochen!“

      „Hm.“

      Nach einer Weile begann sie’s zu frösteln. Ob er so gütig sein wollte, sie nach dem Hotel zu bringen, fragte sie. Die Rechnung war schon erledigt, Stangenberg gab dem Kellner noch die erforderliche Weisung und ein Trinkgeld, dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg.

      Zweites