über in die Naturalisierung des Menschen.
Tatsächlich scheint die Zitadelle schon zu großen Teilen erobert. Immer mehr Plätze und Häuser sind unter Kontrolle, verborgene Gassen werden durch moderne Abbildungstechniken ausgeleuchtet. Kaum jemand zweifelt noch daran, dass das Gehirn psychische Phänomene aus rein materiellen Grundlagen erzeugt. Ein grundsätzlicher Dualismus von Körper und Geist gilt in den Neurowissenschaften ebenso wie in der analytischen Philosophie des Geistes weithin als überholt. Freilich ist der direkte Angriff auf das Subjekt, den vermeintlichen Bewohner der Zitadelle, vorläufig gescheitert. Der eliminative Materialismus, der die subjektive Erfahrung und die »mentalistische«Sprache zu vorwissenschaftlich-naiven Intuitionen erklärt, die wie der Glaube an Geister, Hexen, Äther oder Phlogiston schließlich verschwinden und einer neurologischen Sprache Platz machen würden – dieser radikale Materialismus hat sich nicht durchsetzen können.9 Die Mehrheit der analytischen Philosophen und Neurowissenschaftler vertritt heute einen eher gemäßigten Materialismus, der der Subjektivität noch ein Weiterleben gestattet – freilich nur in Identität mit den neuronalen Prozessen oder als ihre Begleiterscheinung, jedenfalls ohne eine kausale Rolle in der Welt. Daher die heftige Debatte um die Willensfreiheit: Bewusstsein ist dem Gehirn zwar nicht abzusprechen, soll aber sein Produkt und damit machtlos bleiben. Das Subjekt darf in der Zitadelle weiterleben, solange sie vom Physikalismus sicher beherrscht wird.
Vom Kopf auf die Füße
Freilich könnten sich gerade an diesem scheinbar letzten Refugium der Subjektivität die Fronten überraschend umkehren, und es könnte sich herausstellen, dass das Gehirn in Wahrheit die Achillesferse des naturwissenschaftlichen Weltbildes darstellt. Zum einen führt nämlich der bislang so erfolgreiche Weg der schrittweisen Elimination des Subjektiven an dieser Stelle in eine methodische Sackgasse. John Searle hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Abtrennung des jeweils Subjektiven von den Phänomenen nicht mehr anwendbar ist, wenn es um die Reduktion der Subjektivität selbst geht (Searle 1993, 141). Denn es gibt dann keinen Raum mehr, in den sie noch verschoben werden könnte. Man kann sie nur noch als Ganzes bestreiten, was kaum überzeugend ist, oder als Epiphänomen des Materiellen zu neutralisieren versuchen, was das Ärgernis gleichwohl bestehen lässt.
Zum anderen gerät der Reduktionismus im Falle des Gehirns in unlösbare erkenntnistheoretische Aporien. Denn erkennbar ist für uns der Voraussetzung nach nur, was bereits durch die neuronale Maschinerie hindurchgegangen ist, eine subjektive Wirklichkeit. Demnach wäre das Gehirn, das der Neurowissenschaftler erforscht, so wie alles, was er erlebt, nur das Produkt seines eigenen Gehirns. Doch wie soll das Gehirn sich selbst erkennen? Wie soll ein physikalisch beschreibbarer und lokalisierbarer Apparat in der Lage sein, die Welt der wissenschaftlichen Erfahrung hervorzubringen, in der er zugleich selbst vorkommt? – Die vermeintlich eroberte Zitadelle wäre dann selbst nur eine Fata Morgana der Eroberer, und sie können niemals mit Sicherheit wissen, ob es überhaupt eine wirkliche Zitadelle gibt, die ihr gleicht. Ebenso gut könnte es sich um ein Hirngespinst handeln.
Offenbar setzt bereits die Rede über Gehirne voraus, was angeblich von ihnen hervorgebracht werden soll: bewusste und sich miteinander verständigende Personen. Wenn es sich aber so verhält: Wenn die Hirnforschung der Abhängigkeit von der Subjektivität, der Intersubjektivität und der Lebenswelt nicht entkommt, dann können wir sie auch »vom Kopf auf die Füße« stellen. Die Neurobiologie erweist sich – ebenso wie die Naturwissenschaften insgesamt – als eine spezialisierte Form menschlicher Praxis, die der Lebenswelt entstammt, ohne jedoch einen Standpunkt außerhalb ihrer gewinnen zu können. Die alltäglich erlebte und vertraute Welt, in der wir gemeinsam leben, bleibt unsere primäre und eigentliche Wirklichkeit. Sie ist nicht das bloße Produkt einer anderen, nur wissenschaftlich erkennbaren Realität, kein Scheinbild oder Konstrukt des Gehirns, sondern die Grundlage aller wissenschaftlichen Erkenntnis. Konstrukte sind vielmehr die Entitäten der Physik oder der Neurobiologie – Elektronen, Atome, Moleküle, Aktionspotenziale, Magnetfelder oder Photonenemissionen. Ihr hoher praktischer Nutzen zur Erklärung und Prognose von Phänomenen soll nicht bestritten werden. Sie können jedoch niemals dazu dienen, die lebensweltlichen Phänomene und Erfahrungen als Illusionen zu entlarven.
Unter dieser Voraussetzung müssen wir aber auch das Gehirn ganz neu betrachten. Es bringt unsere Welt nicht wie ein geheimer Schöpfer hervor, es hat auch uns selbst weder erschaffen noch dirigiert es uns aus dem Verborgenen wie Marionetten. Das Subjekt ist in ihm gar nicht zu finden. Das Gehirn ist vielmehr das Organ, das unsere Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen und zu uns selbst vermittelt. Es ist der Mediator, der uns den Zugang zur Welt ermöglicht, der Transformator, der Wahrnehmungen und Bewegungen miteinander verknüpft. Das Gehirn für sich wäre nur ein totes Organ. Lebendig wird es erst in Verbindung mit unseren Muskeln, Eingeweiden, Nerven und Sinnen, mit unserer Haut, unserer Umwelt und mit anderen Menschen. Sobald sich die Fata Morgana der Zitadelle auflöst und die Lebenswelt wieder in ihr Recht gesetzt wird, zeigt sich auch das Gehirn nicht mehr als isolierte Burg des Subjekts, sondern als ein weltoffener, lebendiger Handels- und Umschlagsplatz, an dem Waren und Nachrichten aller Art ausgetauscht werden, und der weitläufig mit anderen Orten vernetzt ist. Es zeigt sich als ein Beziehungsorgan.
Ein adäquates Verständnis des menschlichen Gehirns, wie es in diesem Buch in Grundzügen entwickelt werden soll, muss von der Phänomenologie unserer lebensweltlichen Selbsterfahrung ausgehen, in der wir keine Trennung von »Geist« und »Körper« erleben, sondern in einem leibliche, verkörperte und seelisch-geistige Wesen sind – also das, was wir auch als Personen bezeichnen. Erst dann können wir fragen, wie das Gehirn auf biologischer Ebene zu dieser Einheit der Person beiträgt. Die erste zentrale These der Untersuchung wird also lauten, dass alle seine Funktionen die Einheit des Menschen als Lebewesen voraussetzen und nur von ihr her zu verstehen sind. Dazu müssen wir zunächst einen adäquaten Begriff des Lebendigen entwickeln, der in den gegenwärtigen biomedizinischen Wissenschaften weitgehend fehlt. Die zweite These wird lauten, dass die höheren Gehirnfunktionen den Lebensvollzug des Menschen in der gemeinsamen sozialen Welt voraussetzen. Dazu bedarf es einer Konzeption menschlicher Entwicklung als kontinuierlicher Verankerung von Erfahrungen in den psychischen und zugleich zerebralen Strukturen des Individuums, im Sinne einer »kulturellen Biologie«.
Die Dimension des Lebendigen verankert das Gehirn im Organismus und seiner natürlichen Umwelt, die soziokulturelle Dimension verankert es in der gemeinsamen menschlichen Welt, von der es lebenslang geprägt wird, und ohne die seine spezifisch humanen Funktionen gar nicht begreiflich werden können. Beide Dimensionen vereinigen sich zu einer entwicklungs- und sozialökologischen Sicht des menschlichen Gehirns als Organ eines »zõon politikón«, eines Lebewesens, das bis in seine biologischen Strukturen hinein durch seine Sozialität geprägt ist. Das Gehirn erscheint darin zunächst als ein Organ der Vermittlung, das die vegetativen und sensomotorischen Beziehungen zwischen dem Organismus und seiner Umwelt ermöglicht, dabei aber auch so umwandelt und »verdichtet«, dass es für den Menschen zum Medium einer neuen, intentionalen Beziehung zur Welt werden kann. Damit steigern sich primäre Lebensprozesse zu seelischen und geistigen Lebensvollzügen mit zunehmenden Freiheitsgraden. Zugleich öffnet sich das menschliche Gehirn einer lebenslangen Prägung durch zwischenmenschliche und kulturelle Einflüsse: Es wird zu einem sozialen, kulturellen und geschichtlichen Organ – zum Organ der Person.
Bevor wir diese Konzeption in Angriff nehmen, soll eine Kritik verbreiteter reduktionistischer Konzeptionen des Verhältnisses von Gehirn und Subjektivität zunächst den Raum für die eigentliche Aufgabe freimachen. Ich werde diese Kritik in Teil A in zwei grundsätzlichen Schritten vornehmen: In Kapitel 1 setze ich mich mit der neurokonstruktivistischen Erkenntnistheorie auseinander, wonach die phänomenale Wirklichkeit als interne Abbildung oder Repräsentation durch neuronale Prozesse zu begreifen sei. In Kapitel 2 werde ich die Vorstellung eines »Gehirns als Subjekt« einer Kritik unterziehen und die Nicht-Reduzierbarkeit von subjektiver, insbesondere intentionaler Erfahrung darlegen.
Teil B entwickelt dann schrittweise und unter Einbeziehung verschiedener Denkansätze eine Theorie des Gehirns als Organ der menschlichen Person. Als ihre Grundlage wird in Kapitel 3, ausgehend von einem phänomenologischen Begriff der leiblichen Subjektivität, zunächst eine aspektdualistische Konzeption