Thomas Fuchs

Das Gehirn - ein Beziehungsorgan


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das von ihm in einem Wagen passiv mitgezogen wurde. Nach einigen Wochen dieser Behandlung befreite man die Kätzchen der ersten Gruppe von ihrem Geschirr, und sie bewegten sich völlig normal fort. Die anderen, passiv gebliebenen Kätzchen hingegen waren unfähig, sich im Raum zu orientieren und Objekte zu erkennen, sie stolperten und stießen hilflos gegen Gegenstände. Rein optisch hatten sie die gleichen Reize erfahren wie die Kätzchen der ersten Gruppe und blieben doch blind für die Struktur und Räumlichkeit ihrer Umgebung. Das heißt: Nur der empfindende und zugleich bewegliche Organismus formt den erlebten Raum, nämlich aus den kohärent miteinander verknüpften Mustern von Motorik und Sensorik einschließlich des Gleichgewichtssinns.

      Nun mag man die Leiblichkeit der Wahrnehmung vielleicht zugestehen – aber ist nicht das leibliche Subjekt insgesamt nur ein Konstrukt? Das räumliche Körperschema, die Propriozeption und die Bewegungsempfindungen oder Kinästhesen, wird all das nicht an bestimmten Arealen vor allem des Parietalhirns erzeugt und in den vom Gehirn konstruierten, virtuellen Raum hineinprojiziert? Das Phantomglied bei Amputierten und verwandte Erfahrungen bei Gesunden, in denen eigenleibliche Empfindungen außerhalb der Körpergrenzen lokalisiert werden, scheinen hinreichend zu belegen, dass unser subjektiver Leib selbst nichts anderes als ein gewohnheitsmäßiger Phantomkörper, eine Simulation oder Konstruktion des Gehirns ist.

      Um das zu demonstrieren, verweist der Neurowissenschaftler Ramachandran auf die bekannte Gummihand-Illusion (Botvinik u. Cohen 1988): Wird die unter einem Tisch verborgene Hand einer Versuchsperson in genau dem gleichen Rhythmus berührt wie eine sichtbar vor ihr auf einem Tisch liegende Gummihand, so empfindet die Person diese Gummihand nach kurzer Zeit als »berührt« und zum eigenen Körper gehörig. Aus solchen Illusionen folgert Ramachandran kurzerhand: »Ihr eigener Körper ist ein Phantom (…), das Ihr Gehirn aus rein praktischen Gründen vorübergehend konstruiert hat« (Ramachandran u. Blakeslee 2001, 114). Der subjektive Leib wäre also ebenso ein Konstrukt des Gehirns wie die ganze erfahrene Wirklichkeit. Dies läuft offensichtlich auf eine Spaltung zwischen dem organischen Körper und dem subjektiven Leib hinaus, so als ob diese zwei unterschiedlichen Welten angehörten – der eine der physikalischen Welt, der andere einer vom Gehirn konstruierten »Innenwelt« des Bewusstseins. Das gilt dann auch für alle leiblichen Empfindungen:

      »… wir müssen bedenken, dass auch der Schmerz eine Illusion ist – ganz und gar eine Konstruktion unseres Gehirns wie jede andere Sinneserfahrung« (ebd., 114).

      »Sie können hinausgreifen und das Material der physischen Welt betasten […] Doch diese Tastempfindung ist keine unmittelbare Erfahrung. Obwohl es sich so anfühlt, also geschähe die Berührung in Ihren Fingern, geschieht doch in Wirklichkeit alles in der Schaltzentrale des Gehirns. Genauso verhält es sich mit allen Sinneserfahrungen. […] Ihr Gehirn hat die Außenwelt niemals direkt erfahren und wird es niemals tun« (Eagleman 2015, 40 f.; eig. Übers.).

      Nun hat unser Gehirn sicherlich die Außenwelt niemals erfahren, denn es kann im Prinzip gar nichts »erfahren«. Aber wie steht es mit mir selbst? Ist mein räumliches Erleben von Berührung in meinen Fingern oder von Schmerz in meinem Fuß nur eine Illusion? Wenn die Wahrnehmung mehr als eine virtuelle Welt vermitteln soll, muss offenbar die angebliche Virtualität des Leiberlebens wiederlegt werden. Wie wir sehen werden, hält die mit dem Namen von Descartes verbundene Spaltung zwischen subjektivem Leib und objektivem Körper einer näheren Analyse nicht stand.

      1.2.2 Koextension von Leib und Körper

      Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Tatsache, dass wir den subjektiven Leib und den organischen Körper normalerweise als koextensiv erfahren: Der empfundene Schmerz sitzt dort, wo auch die Nadel den physischen Körper gestochen hat. Der Töpfer fühlt den Ton genau da, wo seine Hand ihn tatsächlich presst und formt. Und zeigt der Patient dem Arzt seinen schmerzenden Fuß, so wird dieser auch dort nach der Ursache suchen. Wäre die subjektive Leiberfahrung nur eine Illusion, könnte er die Aussage des Patienten auch ignorieren und stattdessen sein Gehirn untersuchen. Es gibt also eine räumliche Übereinstimmung oder Syntopie von Leiblichem und Körperlichem.

      Diese Syntopie hat bereits Husserl analysiert, nämlich an folgendem Beispiel: Streift eine Nadel objektiv sichtbar über meine Hand oder sticht sie, so empfinde ich dies gleichzeitig und gleichörtlich als Berührungsverlauf bzw. als Schmerz:

      »So liegt in den Empfindungen eine sich mit den erscheinenden Extensionen ›deckende‹ Ordnung … [die Hand] ist von vornherein apperzeptiv charakterisiert als Hand mit ihrem Empfindungsfeld, mit ihrem immerfort mitaufgefaßten Empfindungszustand, der sich infolge der äußeren Einwirkung ändert, das heißt als eine physisch-aesthesiologische Einheit« (Husserl 1952, 154 f.).

      In der »Kompräsenz« (ebd., 161) des in der objektiven und in der subjektiven Einstellung Gegebenen konstituiert sich der Leib somit als die koextensive Einheit beider Aspekte. Das Phänomen der Phantomschmerzen zeigt uns zwar, dass im Ausnahmefall Organismus und Gehirn auch ohne das betreffende Glied eine Schmerzempfindung hervorbringen können, macht aber den Normalfall nicht weniger erstaunlich: Wie ist es eigentlich möglich, dass wir den Schmerz tatsächlich da empfinden, wo sich auch der dazu passende verletzte Körperteil befindet – und nicht im Gehirn?

      Doch sobald wir in eine intersubjektive Situation eintreten wie der erwähnte Patient beim Arztbesuch, wird sofort deutlich, dass subjektives Erleben und objektive Situation, also Schmerzempfindung und feststellbare körperliche Ursache, keineswegs zwei getrennten Welten angehören. Die »Syntopie« oder das Zusammenfallen des Ortes von Schmerz und Verletzung betrifft nämlich jetzt den von Arzt und Patient gemeinsam wahrgenommenen Körper: Dort, wo der Patient den Schmerz empfindet und wohin er deutet, findet der Arzt auch dessen Ursache, z. B. einen Stich oder eine Prellung. Beide sehen den gleichen Fuß, der subjektiv schmerzt und objektiv verletzt ist. Wie ist das möglich?

      Der Verweis auf den jeweiligen »Phenospace« von Arzt und Patient hilft nun nicht mehr weiter – wenn die Rede von einer Realität des Körpers überhaupt irgendeinen Sinn haben soll, dann in der intersubjektiven Situation. Denn hier kommen die subjektiven Räumlichkeiten beider Personen in einer Weise zur Deckung, die ihre bloße Subjektivität aufhebt. Das Argument dafür ist folgendes:

      Da