Thomas Fuchs

Das Gehirn - ein Beziehungsorgan


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sich die Existenz sensorischer Qualitäten in der wahrgenommenen Umwelt auch nicht widerlegen. Doch Farben sind offenbar doch Eigenschaften von anderer Art als etwa die Größe oder die Masse eines Objekts, die sich unabhängig vom Licht messen lassen. Schließlich verschwindet das Grün des Baumes in der Nacht, während dessen Höhe gleichbleibt. Bereits auf der physikalischen Ebene hängen Farben von der Beleuchtung ab, also von der jeweiligen Interaktion von Objekt und Licht. Aber selbst die Wellenlänge des reflektierten Lichts lässt sich nur ungefähr mit der wahrgenommenen Farbe korrelieren. Die gleiche Wellenlänge kann je nach Umgebung und Kontext mit unterschiedlichen Farbwahrnehmungen korreliert sein – die Farbkonstanz in der Dämmerung oder die sogenannten Farbillusionen belegen dies nur zu deutlich. Offensichtlich bedarf es einer Interaktion von Objekt, Licht und wahrnehmendem Organismus, damit eine bestimmte Farbe in der Welt auftaucht. Doch von einem physikalischen oder neurobiologischen Standpunkt aus lassen sich immer nur Bedingungen oder Korrelate der Farbwahrnehmung angeben, die sie nie als solche erklären oder vorhersagen können (Stroud 2000).

      Nun kann es dem Physiker an sich gleichgültig sein, ob der Baum abgesehen von seiner materiellen Teilchenstruktur auch noch grün ist oder nicht. Die Frage taucht bei seinen Messungen und Theoriebildungen einfach nicht mehr auf. Die Bestreitung der Qualitäten ergibt sich daher nicht etwa aus einer physikalischen Notwendigkeit. Sie rührt vielmehr aus einem szientistischen Weltbild, das die ursprünglich für bestimmte Zwecke willkürlich gewählten, quantifizierbaren Ausschnitte der Wirklichkeit, vor allem aber die daraus abgeleiteten theoretischen Konstrukte (Atome, Photonen, elektromagnetische Felder etc.) zur »eigentlichen« Realität erhebt. Physikalische Beschreibungen und Erklärungen sollen nun für alle Bereiche der Lebenswelt gültig sein. Dann ist der grüne Baum nur noch ein großer Molekülhaufen, das Lied der Nachtigall in seinen Zweigen eine irreguläre Sequenz von Luftdruckschwankungen und die Freude des Wanderers, der ihr zuhört, ein bestimmtes neuronales Erregungsmuster.

      Doch diese szientistische Weltsicht ist keineswegs unausweichlich. Die Tatsache, dass Lichtwellen nicht farbig und Schallwellen nicht laut sind, ist kein Grund, die Wirklichkeit von Farben und Töne zu bestreiten. Schließlich gibt es eine Fülle von anderen Merkmalen der Wirklichkeit, die ebenfalls durch das recht grobe Raster physikalischer Beschreibungen fallen – etwa die Fruchtbarkeit von Obstbäumen, das Brutpflegeverhalten von Graugänsen, die Verfassung der USA oder der deutsche Exportüberschuss im Jahr 2019. Soll all dies nichts Wirkliches bezeichnen, nur weil die Physik dazu nichts zu sagen weiß?

      Der Physikalismus behauptet, alles, was sich über die Welt aussagen lässt, ließe sich auf physikalische Tatsachen zurückführen (so etwa Quine 1980). Freilich gilt dies zumindest sicher nicht für diese Aussage selbst – denn das Wissen, was überhaupt eine physikalische Tatsache ist, kann selbst nicht in der Menge aller physikalischen Tatsachen enthalten sein. Aber auch das zu Reduzierende – die Wahrnehmung von Farben, Tönen, Gerüchen – kann gar nicht Gegenstand physikalischer Aussagen sein, da es eben primär zu den psychologischen Tatsachen gehört. Der physikalistische Reduktionist hat es also mit Phänomenen zu tun, die er in der Sprache, die er als einzig zulässige voraussetzt, nicht einmal beschreiben, geschweige denn reduzieren kann.

      Natürlich hätte es in einer rein physikalischen Welt keinen Sinn, von Farben oder Tönen zu sprechen. Aber eine solche Welt ist nur eine gedachte Abstraktion von der Welt, die wir als Lebewesen bewohnen und erfahren – der Welt, die unser Organismus sich erschließt, um sich in ihr zu erhalten, in der er qualitative Unterschiede macht, die sich so auf der physikalischen Ebene nicht finden, und so die Umwelt in Bedeutsames und Relevantes strukturiert. So wird es auch möglich, dass die Dinge und Lebewesen sich uns zeigen, also in Farben, Klängen und Düften über sich hinaus und mit uns in Beziehung treten. Insofern sind die Sinnesqualitäten Resultate der Beziehung eines Lebewesens zu seiner Umwelt; doch diese Beziehung hat einen welterschließenden und insofern durchaus objektiven Charakter. Selbst die sogenannten primären Qualitäten der Physik werden uns nur über die sekundären überhaupt zugänglich.

      Ist der Baum also tatsächlich grün? Das kommt darauf an, ob wir ihn als Teil unserer gemeinsamen Lebenswelt betrachten – dann können wir uns jederzeit auf seine Farbe einigen, sie ist also nicht etwa »nur subjektiv« – oder aber in eine physikalische Konstruktwelt hinabsteigen, in der sich von den lebensweltlichen Qualitäten voraussetzungsgemäß nichts mehr findet. Weder ist die Farbe eine objektive Eigenschaft der materiellen Welt (»naiver« Realismus), noch ist sie bloßes Produkt einer Innenwelt (Konstruktivismus). Farben und andere Sinnesqualitäten sind Ausdruck einer Komplementarität von Lebewesen und Umwelt. Sie entstehen im Zusammenwirken von Wahrnehmungsvermögen und Objekteigenschaften. So lässt sich zeigen, dass die Ausbildung von Farbmustern bei Blütenpflanzen sich in ständiger Interaktion mit der Ausbildung des Farbsehens bei Insekten vollzog. Die Eigenschaft und ihre Wahrnehmung entstanden in verschiedenen Arten ko-evolutiv, im Rahmen eines übergreifenden ökologischen Systems (Ehrlich u. Raven 1964).

      In ähnlicher Weise gilt für das Leben insgesamt: Mit seiner Entwicklung veränderte sich auch die Welt; es traten neue, systemische Beziehungen und entsprechende relationale Eigenschaften auf. Lebewesen erzeugen qualitative aus quantitativen Unterschieden, und damit verwandeln sie die Welt, denn die spezifische Beziehung von Farbeigenschaft und Farbwahrnehmung gehört nun als solche zu ihren objektiven Merkmalen. Diese verwandelte Welt ist unsere Lebenswelt. Wir alle, sofern wir nicht blind sind, sehen Farben und können unsere Wahrnehmung mit der Wahrnehmung anderer abgleichen. Wir kleiden uns in bestimmten Farbtönen, um anderen Menschen zu gefallen, und Maler gestalten mit Farben die Leinwand, um damit bestimmte Wirkungen in uns hervorzurufen. Unsere Welt enthält daher Farben und andere Qualitäten ebenso notwendig wie sie Früchte, Bäume, Tiere und Menschen enthält – wir können nicht das eine bestreiten und das andere bestehen lassen.

      1.5 Zusammenfassung

      Wir sind von der neurokonstruktivistischen These ausgegangen, der ontologische Status der erfahrenenen Wirklichkeit sei der eines subjektiven Bildes oder eines virtuellen Modells, das vom Gehirn konstruiert wird. Hinter dieser These steht eine im Grunde immer noch dualistische Aufteilung der Welt in eine körper- und weltlose Subjektivität einerseits und eine physikalistisch reduzierte, materielle Welt andererseits. Subjektivität wird – im neuen Gewand des Konstruktivismus – nach wie vor idealistisch gedacht, zugleich aber als Konstrukt auf rein materielle Prozesse zurückgeführt.

      In der Kritik habe ich gezeigt, dass Wahrnehmung nicht als interne Abbildung zu begreifen ist, sondern vielmehr als Beziehung eines verkörperten Subjekts zu seiner Umwelt. Im Wahrnehmen sind wir nicht in den Schädel eingeschlossen, um Bilder von der Außenwelt zu empfangen, sondern wir interagieren und ko-existieren mit den Dingen und Menschen in einem gemeinsamen Raum. Wahrnehmung beruht dann auf zwei Formen von Interaktion:

      (1) Nach dem Ansatz des Enaktivismus (Varela et al. 1991, Thompson 2007, Di Paolo 2009, Stewart et al. 2010) nehmen Lebewesen generell nicht passiv Informationen aus ihrer Umwelt auf. Vielmehr bringen sie ihre Welt durch einen Prozess aktiver Bedeutungsgebung (sense-making) mit hervor: Indem sie die Umgebung nach relevanten Signalen durchsuchen und explorieren – ihren Kopf und ihre Augen bewegen, eine Oberfläche abtasten, auf ein Ziel zugehen, eine Frucht ergreifen, usw. –, verleihen sie den Dingen Gestalt und Bedeutung. Mit anderen Worten, durch fortlaufende sensomotorische Interaktionen konstituieren sie selbst ihre erfahrene Welt oder Umwelt (von Uexküll 1920).

      (2) Menschen sind durch ihre sozialen Interaktionen und Beziehung mit anderen zusätzlich in der Lage, ihre primäre Eigenperspektive zu überschreiten und Zugang zu einer gemeinsamen, objektiven Realität zu gewinnen. Von früher Kindheit an resultieren Erfahrungen der geteilten Aufmerksamkeit (joint attention), des Zeigens auf Objekte und der kooperativen Praxis in einer gemeinsamen Bedeutungsgebung (participatory sense-making, De Jaegher u. Di Paolo 2007). So konstituiert sich eine gemeinsame Realität, die unsere Beziehung zur Welt prägt, auch wenn andere nicht anwesend sind. Daher nehmen wir ein gegebenes Objekt so wahr, dass es seine momentane Erscheinung übersteigt: Es könnte ja auch von anderen gesehen werden. Die Dinge sind nicht nur »für mich« da. Objektivität bedeutet also, dass die Dinge als intersubjektiv zugänglich erfahren werden, in der Ko-Präsenz anderer möglicher Subjekte. Die menschliche Realität ist immer ko-konstituiert, gemeinsam hervorgebracht.

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