die die Grenzen des Körpers und die Zentralität der Eigenperspektive auf zwei Ebenen überschreitet:
(1) Auf der ersten Ebene enthält die sensomotorische Interaktion des Körpers mit der Umgebung einen ständigen Wechsel der Perspektive, der die momentane Beziehung von Organismus und Umwelt relativiert: Jede Wahrnehmung ist angereichert durch eine Geschichte früherer Erfahrungen und einen Horizont möglicher weiterer Interaktionen mit dem Gegenstand.
(2) Auf der zweiten Ebene beinhaltet die soziale Interaktion mit anderen einen gemeinsamen Bezug zu den Dingen ebenso wie einen Kontrast und Abgleich der Perspektiven, der eine rein subjektzentrierte Weltsicht aufhebt. Die Fähigkeit, die eigenen Wahrnehmungen mit anderen zu teilen, resultiert damit in einer größeren Distanz des Subjekts zum Wahrnehmungsgegenstand, d. h. in einer Objektivierung. Sie erzeugt eigentlich erst Gegenstände, die auch in Unabhängigkeit von unserer Wahrnehmung bestehen.
Somit leben wir in einer Welt realer Dinge, weil wir durch unser sensomotorisches Engagement an ihrer Konstitution beteiligt sind. Und wir leben in einer gemeinsamen objektiven Realität, weil wir sie durch unsere gemeinsamen Handlungen und Bedeutungsgebungen ko-konstituieren.
Die Nagelprobe jeder Erkenntnistheorie ist letztlich das intersubjektive Verhältnis: Wo es um einen anderen Menschen geht, können wir uns nicht auf einen radikal-konstruktivistischen Standpunkt zurückziehen. Denn damit würden wir nicht nur die Gegenwart des anderen zu einer virtuellen erklären, sondern auch die notwendige Begrenzung aufheben, die er für unser eigenes Selbst-Sein darstellt. Der andere ist für mich wirklich – und dadurch gewinne ich selbst erst Wirklichkeit: Ich kann kein solipsistisches oder Konstruktwesen mehr sein. Zugleich ist es die mit anderen konsensuell erfasste Wirklichkeit, die mir die Realität meiner Wahrnehmungen verbürgt und meinen subjektiven leiblichen Raum in einen objektiven einbettet – in den gemeinsamen Raum »offener Intersubjektivität« (Husserl 1973).
Unter dieser Voraussetzung konnten wir der Wahrnehmung auch ihre Objektivität zurückerstatten, ohne damit in einen »naiven Realismus« zurückzufallen. Denn wir haben ja gesehen, dass es gerade die gestaltbildenden und intentionalen Eigenschaften der Wahrnehmung sind, die uns die Dinge als solche erkennen lassen. Der Physikalismus mit seiner äußerst reduzierten Datenbasis eliminiert alle qualitativen und gestaltförmigen Wahrnehmungen aus der Definition des Realen. Ihm ist der Primat der Lebenswelt entgegenzuhalten: Nur in ihr zeigen sich uns die Dinge und Wesen als sie selbst. Die Wahrnehmung präsentiert uns also durchaus mehr, als die bloßen Reizkonfigurationen im Wahrnehmungsfeld enthalten. Doch präsentiert sie damit keine Konstrukte, sondern die tatsächliche Welt – freilich nicht als »Welt an sich«, sondern als die Welt in der Beziehung zu uns, den Wahrnehmenden.
Man mag fragen, warum diese Auseinandersetzung eigentlich so wichtig ist. Wäre es denn weiter schlimm, wenn wir die subjektive Wirklichkeit als Konstrukt des Gehirns auffassen – solange wir doch praktisch ohnehin in ihr leben und im Alltag weiterhin selbstverständlich von der Adäquatheit unserer Wahrnehmung ausgehen? – Die Antwort lautet: Was wir zum Schein erklären, das betrachten wir nach und nach auch nicht mehr als relevant und wirksam. Es erhält eine nachgeordnete, abkünftige Existenz und wird in seiner Bedeutung entwertet. Mehr noch: Wir unterminieren damit unmerklich unser eigenes Urteil und Vertrauen in die Welt. Schließlich sind wir aus konstruktivistischer Sicht in einer platonischen Höhle gefangen und betrachten darin die Schatten an der Wand, während die wirkliche Welt irgendwo »draußen«, jenseits unserer Erfahrung liegt. Wir alle leben im Irrtum und bedürfen der Autorität wissenschaftlicher Experten, die uns über die eigentliche Realität aufklären. Ja es ist, als ob wir etwas herablassend zurechtgewiesen würden, weil wir in unserer Naivität die Dinge nicht so sehen, wie sie wirklich sind. Wenn wir also die von uns erlebte Wirklichkeit zu einem virtuellen Konstrukt erklären, dann berauben wir uns damit der Grundlage unserer Autonomie und unseres Selbstvertrauens. Letztlich ist die Frage danach, was »wirklich wirklich ist« – physikalische Materie statt lebendiger Körper, Gehirne statt Personen, neuronale Algorithmen statt bewusster Erfahrung – eine ethische Frage.
Greifen wir abschließend noch einmal das im Prolog erwähnte Gedankenexperiment einer Operation am offenen Gehirn auf. Auch Roth thematisiert dieses Experiment, nämlich um ein »wirkliches« (erlebtes, virtuelles) und ein »reales« (eigentliches) Gehirn zu unterscheiden. Wenn ich nämlich, während der Operation bei Bewusstsein, mein eigenes Gehirn mittels eines Spiegels beobachten könnte, entstünde nach Roth das Paradox, »dass dieses Gehirn, das ich betrachte und als meines identifiziere, nicht dasjenige Gehirn sein kann, welches mein Wahrnehmungsbild von diesem Gehirn hervorbringt« (Roth 1994, 292). Das mache die Annahme eines Gehirns jenseits meiner Welt erforderlich, eines »realen« Gehirns oder Gehirns-an-sich, das meine Wahrnehmung der ganzen Szene erzeugt. Doch wo wäre dann dieses reale Gehirn zu finden?
An dieser Argumentation lässt sich noch einmal zeigen, dass der Illusionsthese eine inadäquate Erkenntnistheorie zugrunde liegt. Zur Verdeutlichung will ich das Szenario auf eine etwas phantastische Spitze treiben und mir vorstellen, ein künftiger Neurochirurg wäre in der Lage, mein Gehirn nach einer kunstfertigen Verlängerung aller Gefäß- und Nervenverbindungen aus dem Schädel zu entfernen und in voller Funktion vor mich auf den Operationstisch zu legen. Würde ich nun in diesem Organ mein Denken oder »meine Welt« vor mir sehen, so dass das Rönnesche Paradox entstünde? Nein, meine Welt bliebe die gleiche, sie wäre nicht auf das kleine grauweiße Organ vor mir zusammengeschrumpft, das ja ohne die erhaltene Verbindung zu meinen Augen, Ohren, Händen und Füßen selbst keinerlei Zugang zur Welt hätte. Und auch das Zentrum meiner Welt – »ich selbst« – wäre nicht etwa in das Gehirn gewandert: Nach wie vor würde ich mich in meinem Körper erleben, mich mit meinen Gliedern bewegen und durch meine Augen mein Gehirn betrachten.
Doch wenn nun diesem Gehirn vor mir eine Verletzung drohte – eine zugegebenermaßen etwas horrible Wendung des Gedankenexperiments – würde es mich dann etwa überzeugen, wenn der Neurochirurg mir beruhigend versicherte, alles was ich sähe, sei ja nur ein virtuelles Konstrukt, und mein tatsächliches, reales Gehirn tauche in meiner Welt gar nicht auf? Wohl kaum – ich würde vielmehr meiner Wahrnehmung trauen und mein Gehirn mit allen Mitteln zu schützen versuchen. Sollte ich zuvor noch einen konstruktivistischen Zweifel an der Realität meiner Wahrnehmungen gehegt haben, so wäre er spätestens damit rasch und wirksam beseitigt. Und das völlig zu Recht: Denn ich sähe nicht nur ein »Wahrnehmungsbild«, ein »Repräsentat« oder eine »Simulation« vor mir, sondern tatsächlich mein reales Gehirn und damit das höchst verletzliche Hauptorgan meines bewussten Erlebens. Ein zweites, »eigentliches« Gehirn jenseits meiner Welt, von dem mir der Neurochirurg etwas vorfabulieren mag, gibt es nicht. Denn würde er selbst mein Gehirn untersuchen, so wäre es kein anderes als das, welches ich auch vor mir sehe.
Wäre mein Erleben also in dem grauen Organ vor mir zu lokalisieren? Nein – das Gehirn ist nur, in Verbindung mit meinem ganzen Organismus, eine zentrale und unabdingbare Voraussetzung dafür. Lokalisieren lässt sich jedoch mein Erleben überhaupt nicht, denn es ist nichts anderes als meine Beziehung zur Welt. Das Gedankenexperiment gibt uns noch einmal die Möglichkeit, den subjektiven Idealismus bzw. Neurokonstruktivismus zurückzuweisen, der Wahrnehmung in ein virtuelles Bewusstseinsgehäuse im Schädel verbannt, statt sie als Beziehung des Wahrnehmenden zur Wirklichkeit zu begreifen. Das subjektive Erleben ist kein »Bild«, kein »Repräsentat«, »Modell«, »Konstrukt« oder wie immer solche idealistischen Begriffe lauten. Aus dem gleichen Grund ist es auch kein Ding oder Vorgang, der sich irgendwo im materiellen Körper auffinden ließe. So gerne der Neurowissenschaftler seiner habhaft werden würde – es ist, als wollte er das Sonnenlicht mit dem Schöpfeimer sammeln.
10 Zit. nach W. Capelle, Die Vorsokratiker. Kröner, Stuttgart 1968, 438.
11 Galileo Galilei, Il Saggiatore (1623). In: Opere, Edizione nazionale, Bd. 6, S. 78. Barbèra, Florenz.
12 Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (Leibniz 1959, 181).