Thomas Fuchs

Das Gehirn - ein Beziehungsorgan


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seine Einbettung in die Lebenstätigkeit und wurde in eine eigene Sphäre des rein »Mentalen« verbannt. Von Descartes als ein Refugium des Geistes angesichts der Alleinherrschaft der Physik über die materielle Welt konzipiert, war das Bewusstsein seither in der Gefahr, zu einem abgeschlossenen Innenraum, einem fensterlosen Gehäuse des Subjekts zu werden. Jeder mögliche Gegenstand des cartesischen Bewusstseins ist nämlich eine »idea« – ein Gedanke, eine Vorstellung oder ein Bild. Auch was wir sehen, sind Bilder, und nicht die Dinge selbst. Der Idealismus ist die Philosophie, die sich in der Nachfolge Descartes’ besonders aus der Bild-Theorie der Wahrnehmung entwickelt. Leibniz vergleicht den Verstand mit einem Zimmer, durch dessen Fenster die Bilder der Außenwelt hereinfallen.12 Auch für Locke, Hume und Kant sind unsere Wahrnehmungen »impressions«, »ideas« oder »Vorstellungen«, aus denen wir nur problematische Schlüsse auf die Wirklichkeit ziehen können, in der wir zu leben glauben. Der Idealist sitzt im Gehäuse seines Bewusstseins und empfängt die »ideae« als Abgesandte und Repräsentanten der Dinge, die er selbst niemals zu sehen bekommt – in Lockes Worten:13

      In der Kantischen Erkenntnistheorie wird die Welt konsequent in den Innenraum hereingenommen: Raum und Zeit sind Formen der Anschauung und daher im Gemüt. Die Welt ist erkennbar, aber nur weil wir nicht in ihr, sondern sie in uns ist.

Images

      Abb. 1: René Magritte, La condition humaine (1933) (© VG Bild-Kunst, Bonn 2020)

      Das Bild zeigt ein Gemälde mit einer Landschaft, die dem Anblick der hinter dem Gemälde liegenden realen Landschaft gleicht. In einem Vortrag von 1938 erläuterte Magritte selbst das Bild folgendermaßen:

      Hier wird die Doktrin der »Außenwelt« mit ihrer sonderbaren Verdoppelung der Wirklichkeit zur Conditio Humana stilisiert. Die Fenster unserer Seelenmonaden sind geschlossen, und alles was wir von der jenseitigen Welt empfangen, sind Repräsentationen – bunte Bilder, die der Maler des Bewusstseins für uns geschaffen hat.

      Wie sich zeigt, passen die idealistische Innenwelt des Bewusstseins und die neurobiologische Innenwelt des Gehirns überraschend gut zueinander. Der Neurokonstruktivismus stellt nur noch die Verbindung beider Traditionslinien her (Roth 1994). Und so reichen sich der Materialismus und der subjektive Idealismus paradoxerweise die Hände – können sie doch die Gemeinsamkeit feststellen, dass für sie beide das Subjekt keinen Anteil an der Welt hat. Freilich kann der Materialismus letztlich triumphieren, denn mit der Reduktion des Erkenntnis- und Handlungsvermögens auf Hirnprozesse bleibt dem idealistischen Subjekt nicht einmal mehr die Macht über seinen eigenen Palast.

      Die Wahrnehmung der Welt als internes Konstrukt – diese erkenntnistheoretische Konzeption soll im Folgenden einer Kritik in drei Schritten unterzogen werden. Sie wird in ihrem Kern darin bestehen, das Bild eines körper- und weltlosen Subjekts zu widerlegen, das der idealistischen Wahrnehmungstheorie zugrunde liegt.

      1.2.1 Wahrnehmung und Selbstbewegung

      Kehren wir noch einmal zur vermeintlichen »Condition humaine« zurück. Hat Magritte Recht, und sehen wir in Wahrheit nur Bilder? Natürlich könnten wir im Zweifelsfall leicht feststellen, ob es sich jenseits des Fensters, in der sogenannten »Außenwelt«, tatsächlich um Wiesen und Bäume handelt oder um eine Filmstaffage: Wir würden einfach hinausgehen und es mit unseren Sinnen und Bewegungen überprüfen. Wir nehmen ja nie »von irgendwoher« wahr, sondern von unserem leiblichen Standort aus. Schon der Anblick des Fensters »dort drüben« schließt die Möglichkeit ein, sich auch dorthin zu bewegen. Die Wahrnehmung räumlicher Tiefe entsteht nur in Verbindung mit dem Vermögen, sie auch zu durchmessen und die Gegenstände abhängig von unserer Eigenbewegung unter verschiedenen Aspekten zu erfassen. Wahrnehmend sind wir in der gleichen Welt situiert wie die wahrgenommenen Dinge, d. h. wir können auch handelnd mit ihnen umgehen, interagieren.

      Vor einigen Jahrzehnten führten Held und Hein (1963) ein klassisches Experiment an neugeborenen Katzen