Nataly von Eschstruth

Aus vollem Leben


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wo Gott nicht das Haus baut, da arbeiten umsonst, die daran bauen. —

      Otty und Raoul werden sich heiraten, und es wird eine unglückliche Ehe mehr auf der Welt geben.

      Hat der junge Maler aus Egoismus gewählt? Hat ihn das Gold der reichen Erbin geblendet? O nein! — Nora wies diesen Gedanken weit von sich.

      Raoul konnte wohl in leidenschaftlicher Aufwallung eine Kette zerbrechen, die fürerst nur lose und leicht aus Rosen geschlungen war, aber niedrig und gemein konnte er nicht handeln, das wusste Nora, und trotz allen Herzeleids hielt sie die Erinnerung an jene beiden Menschen in ihrem Herzen wert und treu, immer noch entschuldigend und begütigend, wenn ihr Gerechtigkeitsgefühl sie anklagen wollte. —

      Und je mehr sie sich klar wurde, dass man jene armen, fried- und ruhelosen Seelen mehr beklagen, als ihnen zürnen müsste, um so friedlicher und stiller ward es in ihrem Innern; sie gedachte der Verlorenen, wie man an Verstorbene denkt, — die man liebt und denen man die gelobte Treue hält, gleichviel, ob das Grab seinen dunklen Abgrund zwischen uns und ihnen aufgerichtet.

      Ist die Liebe wirklich eine Krankheit, ein Wahnsinn? —

      O gewiss nicht. Noras grosses, edles Herz wusste es besser. Ihre Liebe glich derjenigen, welche zum leuchtenden Vorbild jedweder Liebe geworden, — sie trägt alles, sie glaubt und duldet alles — die Liebe hört nimmer auf!“

      Oft flogen ihre Gedanken wie weisse Tauben über Berg und Thal.

      Ach, dass sie einmal — nur einmal noch Nachricht von Otty bekäme!

      Haben sie schon geheiratet? Wo leben sie? Ist ihr Rausch schon verflogen, oder sind sie dennoch, trotz allem und allem, glücklich geworden, so wie Noras Gebet es ihnen in letzter Zeit so oft erflehte? —

      Keine Antwort auf alle diese brennenden Fragen. Der Herbst zieht in das Land, der Winter kommt und breitet sein weisses Bahrtuch über die Erde.

      „Nun sollst du tanzen und dich amüsieren, Nora!“ hat ihr Vater fröhlich ausgerufen. „Zuvor machen wir eine Reise nach Berlin! Ich habe fleissig gespart und denke, es sollen herrliche Tage dort werden. Du musst einmal heraus und die grosse Welt kennen lernen, Kind! Hier in der kleinen Stadt versauerst du mir, das sehe ich alle Tage an deinen blassen Wangen und den müden, traurigen Augen!“

      Diese traurigen Augen leuchteten hell auf. „Nach Berlin!“ — wie lange war dies schon ihr sehnlichster Wunsch gewesen! Eine gute Oper — erlesene Konzerte hören, — wahrlich, diese genussreiche Abwechslung wird Balsam für ihr krankes Herz sein!

      Voll Entzücken lebte sich Nora in diesen lockenden Gedanken ein, bereitete alles für die schöne Zeit vor und sehnte den Tag der Abreise herbei, — endlich sollte ihr armes, verkümmertes Leben einmal bunte, heitere Blüten tragen.

      Da kam ein Brief.

      Nora starrte mit bebenden Lippen auf die zittrige, matte Schrift hernieder. Von Otty! Ein Brief von Otty! Aus Montreux in der Schweiz geschrieben!

      Mit bebenden Fingern, kaum fähig sich zu beherrschen, erbricht sie ihn.

      Die Zeilen sind kurz mit Bleistift geschrieben.

      „Meine Nora! Ich weiss, ich habe kein Recht mehr, an dich zu schreiben, geschweige deine Barmherzigkeit und deine alte Liebe zu mir anzurufen; dennoch thue ich es. Was ich auch gegen dich gefehlt — der Tod ist ein grosser Versöhner — und ich bin eine Sterbende. Ja, eine Sterbende, die doch nicht sterben kann, ehe sie noch einmal deine Hand gehalten, ehe sie deine Vergebung erfleht hat. Nora, sei noch einmal der gute Engel, der du mir stets gewesen, — ach, komm noch einmal zu mir! Komm, ehe es zu spät wird! Ich möchte schlafen, Nora, so wie ehemals, wenn ich zu aufgeregt war und keine Ruhe fand, bis du an meinem Bette sassest! Bring mir Ruhe und Frieden, Nora — lass mich noch einmal in deinem Arm entschlummern, zum letztenmal!“ —

      Thränen stürzten aus den Augen der Lesenden, sie war nicht mehr im stande, die Worte zu lesen, die Ottys Vater den Zeilen beigefügt, sie bedeckte das Antlitz mit den Händen und schluchzte voll tiefsten Wehs.

      Otty eine Sterbende! —

      Da war alles vergessen, was zwischen dem Jetzt und Ehemals lag, all das Falsch, die Untreue, die bittere Kränkung, — Noras edles, grosses Herz hatte es nie verlernt zu lieben und die Treue zu halten, und so entsetzt ihre Eltern auch waren, dass sie die ganze lockende Lust und Freude der Berliner Reise aufgeben und an ein Totenlager eilen wollte, — Nora flehte so inständig, bis sie die Erlaubnis erwirkt hatte.

      Eine Depesche verständigte Herrn Florenzius von ihrem Kommen, und einige Tage später trat Fräulein von Rastatt in das Hotelzimmer, in welchem ihre unglückliche, junge Freundin bleich und sterbensmatt auf einer Chaiselongue lag. Voll zitternden Schrecks neigte sich Nora über die Kranke. Wie sah das ehedem so reizende, lebhafte und kecke Mädchen aus! Wahrlich, ein geisterhafter Schatten aus dem Reiche der Proserpina.

      Die grossen, dunklen Augen glänzten noch wie ehemals voll fieberischer Glut aus dem fleischlosen Gesichtchen, das so weiss und durchsichtig wie das spitzenbesetzte Morgenkleid in den stützenden Kissen ruhte.

      „Nora! Nora!“ flüsterte sie mit verklärtem Blick, eine dunkle Blutwelle ergoss sich über die Wangen, und die abgezehrten kleinen Hände umklammerten die Hand der Freundin. „Gott segne dich, dass du kommst!“

      Die Balkonthür stand weit geöffnet, — drunten blitzte und flimmerte der Genfer See im Sonnengold, und die weissbeschneiten Alpen grüssten voll stummer Majestät herüber.

      Da sass Nora neben der Sterbenden und scheuchte voll zärtlicher Liebe alle Todesschatten noch einmal zurück, — Otty aber flüsterte, ohne sich das anstrengende Sprechen verbieten zu lassen: „Nun lass mich beichten, Herzliebe, — meine Zeit ist knapp. Sieh, Nora, als ich dir einst in der Pension — in der letzten Mondnacht am Fenster — Treue gelobte, da sagte ich: ‚Gott soll mich strafen, wenn ich sie breche!‘ Ich habe sie gebrochen, und Gott strafte mich, wie ich es verdiene! Unterbrich mich nicht — sage kein Wort der Anklage gegen Raoul, — wehe mir, wollte ich meine Schuld auf ihn wälzen! Ich bin die Verräterin — ich habe ihn mit allen erdenklichen Koketterien und Verführungskünsten an mich gezogen! O wie tapfer hat er sich dagegen gewehrt, aber er war ein Mann — ein Künstler — er wurde schliesslich doch schwach — — ach Nora — nicht diesen düstern Blick, du ahnst nicht, wie sehr ich ihn bethörte! Und das kam nicht plötzlich — o nein, ich liebte ihn seit dem Augenblick, wo ich sein Bild sah, wo ich es dir noch in derselben Nacht aus der Tasche stahl — da schon ward ich zur Verräterin an dir und schwor mir zu, dass ich Raoul zu eigen gewinnen wolle um jeden Preis! — Nora — schauderst du nicht? Weichst du nicht voll Abscheu zurück von mir? — Du lässt mir deine Hand und lächelst mir unter Thränen zu! — O du Engel voll himmlischer Güte! Gott segne dich dafür. — Hör weiter, Nora! Ich bethörte Raoul, und in einem jähen Rausch, einer flüchtig aufwallenden Empfindung für mich, verliess er dich und verlobte sich mit mir. — Nun glaubte ich die Höhe alles Erdenglücks erreicht zu haben. Ich irrte mich. — Ach schon bald, sehr bald verflog der schöne Wahn. Ich liebte Raoul zu namenlos, um es nicht voll Entsetzen zu empfinden, dass er mich nicht liebte, dass die Erinnerung an dich ihn nicht verliess, dass wahnsinnige Reue und Sehnsucht ihn quälten. Ich litt bei dieser Erkenntnis Folterqualen der Eifersucht — ich bot alles auf, seine erkaltende Leidenschaft für mich neu zu entflammen, umsonst, er blieb kühl, gleichgültig — wir entfremdeten uns von Tag zu Tag mehr. Bei meinen verzweifelten Bemühungen, ihn an mich zu fesseln, mutete ich mir Anstrengungen zu, denen ich nicht gewachsen war. Bei einem Gartenfest erkältete ich mich auf den Tod. — Diese schwere Erkrankung war wohl der Grund, welcher Raoul hinderte, seine Verlobung mit mir wieder aufzulösen; nur sein Mitleid mit der Sterbenden lässt ihn noch zarte Rücksichten üben! Da sieh — jene Blumen kamen von ihm — so weiss und duftlos wie seine Liebe zu mir, — nur Scheidegrüsse, keine Flamme der Liebe mehr! — Ja, Raoul ist unglücklich, so namenlos unglücklich, wie du es bist, Nora, — ihr beide so elend durch meine Schuld! — Welch ein schweres, schweres Sterben ist das! Die Last der Anklage erdrückt mich, sie lässt mich nicht zum Himmel empor! O Nora — ich kann keine Ruhe finden, ehe ich nicht gesühnt habe, was ich an euch verbrochen!“