Bisher hatte Fräulein von Rastatt voll innigster Liebe und Barmherzigkeit die Sterbende im Arm gehalten, ihr süsse Worte des Trostes gesagt und sie ihrer vollen Vergebung versichert — jetzt schrak sie empor, löste jählings ihre Hände aus denen der Kranken und trat mit flammenden Wangen abseits.
„Still, still, Otty, kein Wort davon!“ stiess sie mit beinahe heiserer Stimme hervor, „davon kann nie — nie wieder die Rede sein! Ich zürne Raoul nicht mehr — ich habe ihm um meines Herrn und Heilandes willen vergeben, — aber ihm wieder angehören — ihn lieben wie früher — — nie!“ —
„Nora!“ Wie angstvoll und flehend klang das von den farblosen Lippen.
Da trat Nora an die geöffnete Balkonthür, zu der die blühenden Rosen hereinnickten, strich mit der Hand über die duftenden Kelche und sagte ernst und ruhig: „Lass dies deine geringste Sorge sein, Otty. Ein Mann, der seine Braut so leicht und schnell, so ohne jeden Seelenkampf verlässt, ist nicht danach angethan, um an gebrochenem Herzen zu sterben. Ich glaube nicht mehr an Raouls Liebe, und einen Mann heiraten, dem man nicht vertrauen und glauben kann, ist kein Glück, sondern ein unaussprechliches Elend, viel grösser als die Vereinsamung und das ewige Scheiden und Meiden!“ —
„Du wirst deinen Glauben an ihn zurückgewinnen, Nora, wenn du siehst, wie sehr er gelitten und gebüsst, wie sehr er dich noch liebt und ohne dich seines guten Geistes beraubt ist!“
Nora schüttelte ernst den Kopf. „Tote Liebe erblüht nicht neu, ebensowenig wie jemals der Schnee blühende Rosen deckt! — Und so wenig wie sich dieses Wunder je ereignen kann — so wenig wie ich diese duftenden Kelche hier je von dem Leichentuch des Schnees bedeckt sehe, ohne dass er sie zu Tode friert — so wenig wird auch meine und seine Liebe wieder in alter Maienfrische erstehen!“ — Nora wandte sich wieder zurück, neigte sich über die Kranke und küsste sie liebevoll auf die Stirn. „Es giebt keine Wunder mehr, Otty, und ohne Wunder und Zeichen glauben unsere armen, toten Herzen nicht mehr. — Lass das Vergangene vergessen sein, mein Liebling —! Sieh, da kommt deine Wärterin, um dich für die Nacht zu betten. Ich sitze wieder bei dir und halte deine Hand, — und du schläfst so süss und ruhig ein, wie ehemals in der Pension, wenn draussen der Mond leuchtete und die Nachtigallen im Garten sangen!“
Otty antwortete nicht, ein neuer Hustenanfall erschütterte ihre schwache Brust, und die Wärterin und Herr Florenzius walteten voll Angst und Sorge ihres schweren Amtes.
Die Kranke umklammerte mit fieberheissen Händen die Rechte der Freundin, aber sie fand dennoch keine Ruhe, so zärtlich Nora auch für sie sorgte. —
„Es giebt keine Wunder mehr? — O lieber Herrgott, lass ein Wunder geschehen!“ murmelte sie wieder und immer wieder, leise, unverständlich, qualvoll — bis die Wärterin das beruhigende Pulver mischte und Nora mit flehender Geste aus dem Zimmer schob. —
Todmüde legte sich Fräulein von Rastatt zur Ruhe. Die Anstrengung der weiten Reise und die grosse seelische Erregung forderten ihr Recht. —
Ein lautes, starkes Klopfen an der Thür weckte sie.
Erschrocken richtete sie sich auf.
Der Tag leuchtete hell in das Zimmer, die Uhr zeigte schon eine vorgerückte Stunde.
„Gnädiges Fräulein! Ach bitte, kommen Sie so schnell wie möglich einmal zu Fräulein Otty in den Salon!“ klang die angstvolle Stimme der Wärterin vor der Thür.
„Sofort! Um Himmels willen, steht es schlechter mit ihr?!“
„Sehr, sehr schlecht! Bitte, eilen Sie sich, gnädiges Fräulein!“
Mit zitternden Händen, in fliegender Hast kleidete sich Nora an.
Dann eilte sie voll banger Sorge in den Salon.
Noch hatte sie sich keine Zeit genommen, die Gardinen aufzuziehen und einen Blick in den Garten hinauszuwerfen, um so überraschter war sie, als sie in das Zimmer trat.
Otty lag in ihrem Krankenstuhl, der dicht neben die grossen Spiegelscheiben der Balkonthür geschoben war.
Gestern standen diese weit offen, heute hatte man sie geschlossen.
Mit weitoffenem, starrem Blick, in welchem sich die tödliche Fieberglut spiegelte, schaute Otty der Freundin entgegen, eine grosse, lebhafte Spannung, eine beinahe überirdische Verklärung lag auf den hageren Zügen.
„Nora!“ flüsterte sie mit einem Versuch zu sprechen und streckte ihr beide Hände entgegen —: „Das Wunder, Nora ...“
Sie konnte nicht vollenden, ihre Stimme erstickte — mit verzweifelter Anstrengung richtete sie sich in den Kissen auf und deutete mit der abgezehrten Hand auf den Balkon hinaus. „Siehst du es?“ fragte ihr leuchtender Blick.
Fassungslos vor Staunen schaute Nora auf das Wunder, das sich ihren Augen bot. Wahrlich ein Wunder!
Da lag auf den frisch blühenden Rosen des Balkons der Schnee, — wirklicher, echter Schnee, über welchen die Sonnenstrahlen flimmerten, ihn voll zärtlicher Hast von den zarten Blüten fortzutrinken! Eine Schneewehe, die von den Alpen herabgestäubt war, deckte für kürzeste Frist das sonnige Thal!
Rosen unter dem Schnee!
Und sie sahen so frisch und herrlich aus, so gar nicht geknickt und zu Tode gefroren, sondern richteten sich nur blühender und kraftvoller empor, wenn der feine Lufthauch die starre Winterlast von ihrem Haupte schüttelte.
Rosen unter dem Schnee!
Nein, sie waren dem Eiseshauch nicht erlegen, sie lächelten so wundersam durch die Scheiben herein, als sprächen sie aus stummen Kelchen dennoch eine gar heilige, beredte Sprache —: Die Liebe und wir Rosen gleichen einander! Denn die wahre, echte, heilige Liebe glaubt alles — und duldet alles — und verzeiht alles — die Liebe höret nimmer auf!
„Nora!“ klang es wie ein leiser, flehender Hauch von den Lippen der Sterbenden.
Da rang sich ein lautes Aufschluchzen aus der Brust des schlanken, blonden Mädchens neben ihr, Fräulein von Rastatt sank wortlos neben der Freundin nieder und drückte die Lippen auf die bebende kleine Hand. —
„Nora, verzeihst du ihm und mir?“ —
„Ja, Otty — ich habe verziehen —! In diesem Augenblick weiss ich es mehr denn je, dass auch der Winterschnee herbsten Leides meine Liebe nicht zu Tode frieren konnte!“
Ein selig erstrahlender Blick aus brechenden Augen. Otty gab ein schwaches Zeichen mit der Hand — und ihr Vater öffnete mit thränenfeuchten Wangen die Thür eines Nebenzimmers.
Raoul stand auf der Schwelle und trat hastig näher. Sein Blick suchte voll banger Frage die verlassene Braut. —
Nora erbebte. — Alles Blut wich ihr zum Herzen, — aber ihr Auge ruhte liebevoll, voll ernsten Friedens auf dem Geliebten.
Da tastete Otty nach beider Hände und fügte sie mit flehendem Blick zusammen, — und als sie sah, dass sie sich gefunden in dem festen Druck eines ewigen Gelöbnisses, da ging es wie ein seliges Aufleuchten über ihr Antlitz, auf welchem schon die Schatten des Todes lagen, — noch einmal richtete sie sich empor und wollte sprechen ... umsonst, der leise Hauch erstarb auf den Lippen, ein Lächeln verklärte ihren Blick —
Nora öffnete vorsichtig die Balkonthür, pflückte die blühenden Rosen und legte sie in die Hand der Sterbenden. —
Da tauten die weissen Schneesternchen und rieselten wie Thränen über die gefalteten Finger — die rosigen Kelche aber schauten wie tröstende Hoffnung empor zu der Scheidenden, die wohl gefehlt, aber auch gesühnt hatte, und ihr Duft trug seliges Bekenntnis: „Die Liebe glaubt alles — duldet alles und erträgt alles, — die Liebe höret nimmer auf!“ —
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