der Autochthonen das zeitliche zu Gebote: heute – früher. So schon im Titel: »Erinnerungen an Cafés oder das Alte Europa« (BT, 15.10.1931) oder »Bälle, Kleider, Masken und eine peinliche Erinnerung« (BT, 24.2.1930). Natürlich bedient sie sich auch anderer zeitgenössisch probater Muster: Enumeration, Querschnitt und Synchronie. In einzelnen Textpassagen oder gleich im Titel, »Querschnitt«.11 Das korrespondiert mit Texten zu Zeitgeist-Insignien: Hektik, Betrieb, Tempo. Pars pro toto das Telefon, das – ähnlich wie bei Tucholsky – immer wieder auftaucht – Instrument der Hektik, Statussymbol der Parvenüs, permanenter Störfaktor, Medium des Unverbindlichen – auch hier gern in Monologen vorgeführt. Zugleich ist es Accessoire in den Interieurs, die sie beobachtet, Wohnungsblicke, Haustürgespräche.
Aspekte des Wohnens spielen eine große Rolle. Die Wohnung als Refugium, fragil – »der Haushalt der Schauspielerin wird versteigert, wenig Leute sind gekommen. Verlassen, leer liegen die Repräsentationsräume, verlassen und leer die vier Ankleideräume, das Schlafzimmer, das Bad, weiss Schleiflack und rosenrot, so wie’s das Kino erträumen lässt.« (»Die Hintergründe«, BT, 9.4.1929) Eine lockere Reihe beschäftigt sich 1928 mit der Wohnungssuche in Berlin, mit Wohnungstausch – »Das Mysterium des weissen Scheins« (BT, 19.6.1928) – oder verbotenen Abstandszahlungen. Der Untertitel zitiert einen der bekanntesten Texte Fritz Reuters: »Kein Hüsung« (BT, 5.6.1928). Daneben stehen ihre Stadtlebensbeobachtungen – Hotel, Varieté, Café zumal. Sie nimmt dabei immer wieder auch Kunst und Kultur, deren Lage und Bedingungen in den Fokus. So etwa »Wie wird Kunst gekauft?« (BT, 12.1.1932) oder »Komiker und Komparsen« (BT, 13.10.1931). Ihr sympathisierender Blick gilt dem Alten, Antiquierten, unmodisch Gewordenen, wie sie der ironisierten Hektik gern Entschleunigung, Innehalten und Beiseitetreten entgegensetzt. Schnittstellen sind Ausstellungen, über die sie schreibt. Kunstausstellungen oder eine über das 19. Jahrhundert, »Von 1830 bis 1890« (BT, 11.10.1930), oder eine »Ernährungsausstellung« (BT, 17.7.1928), in der sie ironisierend Rohkostmode einem nach Deftigem lechzendes Publikum gegenüberstellt.
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Ihr eigentlicher Fokus liegt aber auf dem Leben der zeitgenössischen Frauen, zumal das der alleinlebenden: »Die Junggesellin scheint immer mehr das menschliche Ideal zu verkörpern. Sie verbindet die männliche sachliche Leistung mit der weiblichen. Sie gründet ein Heim, wo zwanglos, nicht gestört durch einen Gatten, dem nicht alle passen und der nicht allen passt, sich eine geistreiche Geselligkeit entfalten kann.« So in »Berufsfrau – Hausfrau« (BT, 23.10.1928). 1922 beobachtet sie in der »Vossischen Zeitung« das beginnende Ende der Nachkriegsfrivolität und Wiederkehr der Moral in »Batist, Kaschmirschals und Moral« (VZ, 13.5.1922), 1923 ironisiert sie im »Tage-Buch« romantische Illusionen. Das beginnt: »Es gibt erfolgreich und erfolglos Liebende. Letztere heiraten.« Und endet: »Also gilt es vom Leben nicht Zobelmäntel, Männer, die im Hauptberuf Liebhaber und im Nebenberuf Industriekapitäne, Yachten, Hummern und Verruchtheit zu verlangen, sondern den reinlichen Tisch und den Mann, der zwölf Stunden schuftet, damit die Frau es erträglich hat, höher zu werten. Es gilt: sich zur Margarine zu bekennen, statt der Butter nachzujammern.«12 Sie argumentiert stets von den materiellen Bedingungen her. So in »Kleine Diskussion« (BT, 17.8.1928), wo sie Alfred Polgar gegen Anwürfe von Helene Stöcker verteidigt: »Der ganze Komplex sozialer Ursachen verhindert die Eheschliessung. Die Eltern geben ihren Kindern nichts mehr mit. Im Gegenteil, die Jungen müssen für die Alten sorgen.« Und: »Hinzu kommt, dass in den meisten Fällen die unpersönliche Berufsarbeit die Ansprüche an Lebenswärme nicht zu befriedigen vermag.« Ihr Fazit: »Die Phrase von der Gleichberechtigung ist der barste Blödsinn. Die Frauen allein haben ihre Leiden, die Mühe Kinder zu tragen und aufzuziehen oder die grössere Qual, sie wegzubringen. Sie allein stellen ihre Gesundheit aufs Spiel und damit die ganze erkämpfte Freiheit und materielle Unabhängigkeit innerhalb und ausserhalb der Ehe.« Die Frau als das im Grunde stärkere Geschlecht ist auch der Tenor des Feuilletons »Von der Gerechtigkeit« (BT, 13.6.1929). Darin ironisiert sie die Zuschreibung der Geschlechtereigenschaften schwach und stark: »Die Männer sind eben mal die höher konstruierten. Sie haben die feinere Seele und das keuschere Herz. So leiden, wie ein Mann leidet, der schweigen muss und sich nicht aussprechen kann, kann gar keine Frau leiden, so’n Mädchen ist doch getröstet, wenn sie ein neues Frühlingskostüm bekommt.« Ein Bericht über einen Club berufstätiger Frauen, die »Sorores Optimae« (BT, 22.1.1930), feiert die Freundschaft unter Frauen als neue Errungenschaft: »Die Männer sind die gleichen geblieben, haben Konflikte, Gefahren und Ängste und Arbeit, sie legen Grundsteine, eröffnen Ausstellungen, machen Transaktionen, Pleite und gewaltige Erfindungen, geändert hat sich überall in allen Ländern der Menschheit anderer Teil, die Frau.«
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Auch in ihren Gerichtsreportagen schreibt sie oft über Frauen, aus deren Perspektive über Männer und Männlichkeit, Krieg, Gewalt, häusliche wie politische. Umgekehrt über Sehnsucht nach Geborgenheit, Abhängigkeit und Hörigkeit. Was sie 1929 unter dem Titel »Gerechtigkeit« (BT, 13.6.1929) notiert hat: »Aller Mord und Totschlag, die die Frauen begehen, ist Todesstrafe, die sie vollziehen für die Tötung ihres Liebeslebens!« – das wird sie immer wieder an den einschlägigen Gerichtsprozessen beschäftigen, wiewohl freilich diese gegen Ende der Weimarer Republik zunehmend von den Prozessen zu politisierten Gewalttätigkeiten unter Männern überlagert wurden.
Begonnen hatte sie mit Gerichtsberichten schon früh im »Berliner Börsen Courier«, hier allerdings waren ihre Beiträge, obwohl zahlreich, oft noch kleine Notizen, besonders signifikant, als sie Ende 1924 stets am Rand neben den umfänglichen Berichten vom Haarmann-Prozess in Hannover platziert wird. Sie bewegt sich wie selbstverständlich in dieser Domäne von Männern. So wird Gabriele Tergit bald Renommierreporterin von Mosses »Berliner Tageblatt«und damit erfolgreiche Konkurrentin etwa von Sling (d. i. Paul Schlesinger) und dessen Nachfolger Inquit (d. i. Moritz Goldstein), die für Ullsteins »Vossische Zeitung« berichteten. Freilich: 1928 musste sie beim spektakulären Prozess gegen den Gymnasiasten Paul Kranz, der später als Schriftsteller unter dem Namen Ernst Erich Noth Karriere machte, um den Mord an zwei Mitschülern, beim sogenannten Steglitzer Schülermordprozess, ihrem Kollegen Rudolf Olden den Vortritt lassen. 1927 hatte sie über das Kriminalgericht Moabit mit seinen 21 Gerichtssälen geschrieben, es sei »seit einigen Jahren Quelle für die Erkenntnis der Zeit. Nicht mehr um die individuelle Tat des einzelnen, die Sensation einer saturierten Gesellschaft, um zeitlos menschliche Triebe, (…) handelt es sich, sondern das typische Geschehen selber, die Epoche, Res gestae steht vor Gericht. Willkür fast, so scheint es, daß wirkliche Menschen auf der Anklagebank sitzen. Musterbeispiele gleichsam.«13 So fokussiert sie »Erkenntnis der Zeit«, emphatisch pointierter Anspruch der neusachlichen Faktografie, auf die Gerichtsberichterstattung.
Zwar scheinen das zunächst Standardthemen, Betrug und Raub, Mord und Totschlag, Affekte zwischen Eifersucht und Neid, Sexuelles von Prostitution bis Hörigkeit, die berüchtigten Paragrafen 175 und 218, Frühreife oder Gewalttätigkeit der Jugend, Justizspezifisches wie Meineidprozesse und Todesstrafe, zunehmend und schließlich überwiegend die verschärften Auseinandersetzungen politischer Extremisten sowie das wachsende einseitige Verhältnis der Justiz dazu – woraus sich für die Gerichtsreporterin das Bild der Gesellschaft in ihrer Epoche konturierte.
Für Gabriele Tergit standen vor allem zwei Aspekte der ihr gegenwärtigen Gesellschaft im Zentrum: Der zunehmende politische Terror und das Verhältnis der Geschlechter. Hier entfaltet sie über die Jahre ein ganzes Panorama menschlicher Abgründe und flauer Verhältnisse. Die Geschichte einer 35-jährigen Lehrerin etwa, die ein Liebesverhältnis mit einem 14-jährigen Friseurlehrling beginnt, ein Fall, in dem – wie nicht selten – Magnus Hirschfeld gutachtet. Es geht um alle Schattierungen von Prostitution, Zuhälterei, Transvestismus bis Homosexualität, Ausbeutung und Abhängigkeit, Gewalt und Hörigkeit. Darin scheint durch ihren Blick immer wieder ein Amalgam auf aus aussichtsloser Arbeitslosigkeit, sozialer Verwahrlosung und Trostlosigkeit, Doppelmoral, sexueller Unterdrückung und Unaufgeklärtheit.
Hin und wieder zieht