überdeutlich »mimetische Abbildung und prospektiver Entwurf«36 mischen. Die Romane von Frauen unterscheiden sich, so Erhard Schütz, grundsätzlich von denen der männlichen Autoren der Zeit, indem sie »eine viel tiefergehende Erfahrung von Unglück, von der Unmöglichkeit der Liebe haben, und ihr Schicksal nüchterner, weniger sentimental und pathetisch, weitaus gefaßter hinnehmen. (…) Stereotype von Männern über Frauen in Literatur (greifen) nicht mehr.«37 Dies veranschaulicht Tergit anhand der Figuren Fräulein Dr. Kohler und Käte Herzfeld, mit denen sie in ihrem Roman exemplarisch zwei ›Neue Frauen‹ der Weimarer Republik entwirft, die sich dem Dilemma zwischen Tradition und Moderne stellen und sich in dem Zwischenraum behaupten müssen, der auf der einen Seite von der Müttergeneration und deren moralischen Vorstellungen und auf der anderen Seite vom Typus der »Girlgeneration« mit ihren zahlreichen Implikationen geprägt ist. Anhand des »weiblichen Flaneurs«38 Charlotte Kohler, die auf ihren Streifzügen durch Berlin die heterogenen Lebensverhältnisse wahrnimmt, versucht Tergit ein Zeitschicksal abzubilden.39 Frances Mossop bemerkt in diesem Zusammenhang: »What perhaps surprises about Tergit’s literary explorations of the Weimar capital is the way in which they do not thematize the 1920s topic of the ›New Woman‹ and her new freedom of mobility.«40 Und tatsächlich legt Tergit keinen Fokus auf die Verbindung von Topografie und Genderfragen, sondern auf Aspekte der Wahrnehmung von Großstadt.41 In der Figur Charlotte Kohler zeigen sich die Veränderung des sozialen und politischen Klimas am Ende der Weimarer Republik und die Auswirkungen auf den »Subjektstatus des Individuums«.42
Als Kontrast zu der unglücklich verliebten Akademikerin Charlotte zeichnet Tergit mit der Gymnastiklehrerin Käte den »ganz neuen Typ«,43 nämlich eine selbständige, emanzipierte, sportliche und anpassungsfähige Frau. Im Rückblick war die Autorin mit der Konzeption dieser Figur, die sich im Romanverlauf als geschicktes kaufmännisches »Verkaufstalent«44 erweist, nicht zufrieden und schlug für die Neuauflage des Romans in den 1970er Jahren eine Änderung des Namens vor.45 Die Lektorin befand die Figur jedoch als durchaus zeittypisch: »Es ist eine sehr schillernde und für die Zwanziger Jahre typische Gestalt, wie sie fast nur von einer Berliner Jüdin verkörpert werden kann. Wir fanden gerade die Beschreibung dieser Frau sehr reizvoll und in keiner Weise diskriminierend, geschweige denn antisemitisch.«46
In Tergits Texten zeigt sich das Soziale als zentrales Thema der Moderne. Und ihre Frauenfiguren verdeutlichen die Widersprüchlichkeit der ›Neuen Frauen‹ in der Weimarer Republik, die im privaten und öffentlichen Sektor zwischen Selbstverantwortung und Abhängigkeit sowie der konservativ-(groß)bürgerlichen Müttergeneration und dem Ideal der emanzipiert-gleichberechtigten Frau oszillieren. In Bezug auf Oberflächenphänomene – äußere Erscheinung, Habitus, Mode und Attribute – zeigen sich ihre Frauen emanzipiert, während der innere Entwicklungsprozess mit Verzögerung folgt; prägende traditionelle Verhaltensmuster können, vor allem im Umgang zwischen den Geschlechtern, nicht mit gleicher Konsequenz und vergleichbarem Tempo abgelegt werden.
Und so umweht Tergits Blick auf die Idee der Neuen Frau und der Gleichberechtigung zuletzt ein Hauch von Melancholie: »Wir wurden Ärztinnen und Juristinnen und Journalistinnen und Ministerialbeamtinnen. Wir gingen in den Lebenskampf und bewährten uns, soweit man sich, geduldet halb und halb gehaßt, bewähren kann. Wo wir aber auftauchten, kurzröckig, kurzhaarig und schlankbeinig, fuhren die Männer der älteren Generation zusammen und fragten: ›Was sind das für Geschöpfe?‹ Wir antworteten: ›Die neue Frau‹. Das war alles gestern.«47
3 Soziale Herrschaftsverhältnisse und Narrative der Ungerechtigkeit
Geschlechterrelevante Themen der Weimarer Republik prägen bis heute den öffentlichen Diskurs. Nicht nur Abweichungskonzepte von einem normierend-normativen Mainstream und der Fokus auf Diversität haben inzwischen – man denke an Begriffe wie »queer« oder »polyamorös« – ganz selbstverständlich ihren Platz im Wortschatz der Gegenwart gefunden. Ein Blick auf den aktuellen Stand von Ungleichheit zwischen den Geschlechtern deckt jedoch auf, dass trotz #MeToo-Bewegung und Quoten-Debatte der »große gemeinsame Aufstand gegen die Verhältnisse nicht statt(findet). Man kann das als ein Rollback betrachten, aber zugleich kann man sich fragen, ob es denn je anders war. Jenseits der Demonstrationen und Proteste gegen den § 218 war es in Deutschland immer schwierig, sich zu einigen, was denn das gemeinsame Interesse der Frauen sein soll«; und »ein richtiges Leben im falschen bedeutet für die meisten Frauen eben«, so Elke Schmitter, »dass es den einen Feminismus nicht gibt«.48
Gabriele Tergits Texte sind aktuell, da sie einerseits die Auratisierung des Neuen samt äußerer Etikettierungen infrage und deren Ambiguität herausstellen und andererseits Basales fokussieren, dass nämlich das Politische privat ist und es Veränderungen im Kleinen bedarf, um das große Ganze zu bewegen. Vor allem Tergits Reportagen, die das Attribut ›neu‹ und die ihm innewohnende forcierte Idee der Moderne immer auch auf gesellschaftliche Ungleichheiten beziehen, lassen sich als kompakte Miniaturen der Ungerechtigkeit lesen. Denn dass eine Gleichstellung zwischen den Geschlechtern noch lange nicht erreicht sei, hatte die Autorin früh erkannt und prominent am Ende ihrer »Kleinen Diskussion« platziert: »Die Phrase von der Gleichberechtigung ist der barste Blödsinn. (…) Es gibt also noch so einiges zu tun.«49
1 Ursula Ziebarth: »Brauchen Sie eine Heizsonne? Zeitgenossin der Zwanziger: Gabriele Tergits Berlin-Feuilletons«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 9.1.2003. — 2 Gabriele Tergit: »Käsebier erobert den Kurfürstendamm«, Berlin 1997. — 3 Vgl. Thorsten Eitz / Isabelle Engelhardt: »Diskursgeschichte der Weimarer Republik«, Bd. 1, Hildesheim, Zürich, New York 2015, S. 418 u. 420. Vgl. auch Irmgard Roebling: »Haarschnitt ist noch nicht Freiheit. Das Ringen um Bilder der Neuen Frau in Texten von Autorinnen und Autoren der Weimarer Republik«, in: »Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik«, St. Ingberg 2000, S. 13–76. — 4 Eitz / Engelhardt: »Diskursgeschichte«, a. a. O., S. 418. — 5 Kerstin Barndt: »Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik«, Köln 2003, S. 9. — 6 Vgl. Barbara Drescher: »Die ›Neue Frau‹«, in: »Autorinnen der Weimarer Republik«, hg. von Walter Fähnders und Helga Karrenbrock, Bielefeld 2003, S. 163–186, hier S. 168. — 7 Jens Brüning: »Nachwort«, in: Gabriele Tergit: »Frauen und andere Ereignisse. Publizistik und Erzählungen von 1915 bis 1970«, hg. und mit einem Nachwort von Jens Brüning, Berlin 2001, S. 214. — 8 Ingeborg Franke: »Gilgi. Film, Roman und Wirklichkeit«, in: »Der Weg der Frau«, Sondernummer »Angestellte«, Berlin 3 (1933), S. 4. — 9 Vgl. Liane Schüller: »Vom Ernst der Zerstreuung. Schreibende Frauen am Ende der Weimarer Republik: Marieluise Fleißer,