Dietrich Schulze-Marmeling

Neuer


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schnell und forsch nach vorne. Das DFB-Team ist irritiert. Alles, wofür die Deutschen bis dahin gelobt wurden, ist dahin: Die passsicherste Elf des Turniers produziert eine Unmenge von Fehlpässen und damit unnötige Ballverluste. In der Viererkette können die „Pseudo-Außenverteidiger“ Mustafi und Höwedes nicht zum Spielaufbau beitragen. Beide schaffen es nicht, bei Ballbesitz die Räume auf den Außenbahnen zu nutzen. Die Deutschen spielen mit einer „stehenden“ Kette, die aber häufig nicht richtig steht. Die (ungewollte) Folge ist ein „Spielsystem“, in dem der Torwart zum Libero wird.

       Am Rand zum Abgrund

      Die Algerier nutzen die Langsamkeit Mertesackers und die hohe Positionierung Mustafis: Nach einem deutschen Ballverlust schlagen sie den Ball hinter die unflexible deutsche Kette, wo ihm ihre schnellen Angreifer hinterherjagen. Oder sie zielen den Ball flach zwischen die weit auseinanderstehenden einzelnen Glieder der deutschen Viererkette. In diesen Situationen zeigt sich die deutsche Abwehr fast permanent indisponiert. Normalerweise ziehen Trainer in einer solchen Situation einen der beiden Innenverteidiger tiefer, damit er seinen Kollegen absichert. Bei den Deutschen übernimmt nun diese Aufgabe der Torwart, der überragend antizipiert, sich wie ein Libero hinter die Viererkette schiebt, Stellungsfehler seiner Vorderleute ausbügelt und die in die Tiefe gespielten Bälle der Algerier abläuft. So ganz nebenbei verleiht Neuers Auftritt dem deutschen Spiel auch noch einen Hauch von Abenteuer. Cathrin Gilbert schreibt später in der „Zeit“: „Während Fußball-Deutschland noch diskutiert, welcher Abwehrspieler die größten Schwächen hat, kommt Manuel Neuer von hinten und deckt das Fehlverhalten der deutschen Defensive einfach zu.“

      So auch in der 9. Minute. Eine von Mustafi flach in den algerischen Strafraum geschlagene Flanke wird abgefangen. Blitzschnell wird der Ball hinter die weit aufgerückte deutsche Elf gespielt. Dort eilt auf der linken Angriffsseite Islam Slimani dem Ball hinterher, aber plötzlich taucht Neuer auf – weit außerhalb seines Strafraumes –, liefert sich mit dem algerischen Angreifer entlang der Außenbahn (!) ein Laufduell und grätscht den Ball schließlich zur Ecke – „die beste Aktion eines DFB-Defensiven in der ersten halben Stunde“ („Spiegel online“).

      In der 28. Minute wird der Keeper ein weiteres Mal fern seines Kastens aktiv. Neuer klärt nach einem zu kurz geratenen Rückpass von Mertesacker geistesgegenwärtig mit einer Grätsche. Eine waghalsige Aktion. Wäre Neuer auch nur eine Zehntelsekunde zu spät gekommen, hätte dies für ihn mit einer Roten Karte geendet. Mit Folgen, die weit über das Turnier hinausgegangen wären. Neuer wäre zum Sündenbock für ein deutsches Ausscheiden avanciert. Das Bild der gescheiterten Aktion hätte sich in die Hirne von Millionen deutscher Fußfallfans und Tausender deutscher Jugendtrainer eingebrannt. Nach der WM hätten viele Jugendtrainer ihre Keeper angewiesen, bitteschön in ihrem Kasten zu verharren – und sie daran erinnert, wie Deutschlands Nr. 1 bei der WM vom Platz geflogen sei und dadurch sein Land um den ersehnten Titel gebracht hätte. Viele Fans im Stadion und vor dem Fernseher halten erschrocken die Luft an, wenn Neuer aus seinem Tor stürmt und weit ins Spielfeld gerückt im Stil eines Abwehrspielers Zweikämpfe führt.

      Mehr als einmal bewegt sich Neuer am Rand zum Abgrund. In Porto Alegre liegen zwischen Triumph und Scheitern nur Bruchteile von Sekunden. Aber die Wahrheit ist auch: Hätte er dieses Spiel nicht in dieser Weise gespielt, wäre Deutschland nicht Weltmeister geworden, sondern vorzeitig nach Hause gefahren. Bei allem Respekt vor den beiden anderen deutschen WM-Keepern Ron-Robert Zieler und Roman Weidenfeller: Keiner der beiden hätte an diesem Tag das DFB-Team retten können. Mit einem anders spielenden Torwart hätten die Deutschen das Achtelfinale verloren – ohne dass man dem Keeper anschließend dafür die Schuld gegeben hätte. Zu Neuers Spiel gehört auch, dass sich dessen Vorteile nicht für jeden auf den ersten Blick erschließen. Wären Zieler oder Weidenfeller in den Situationen, in denen Neuer aufs Feld stürmte, in ihrem Strafraum geblieben, hätte sie kaum jemand dafür kritisiert. Die Sündenböcke wären andere gewesen. Neuer selbst kommentiert sein riskantes Spiel nach dem Schlusspfiff mit stoischer Ruhe, als habe ihn sein Auftritt nicht im Geringsten emotional angefasst. „Ich hatte das immer unter Kontrolle. Da habe ich immer aufgepasst.“

       „Berufsrisiko“

      Als Neuer einige Monate nach der WM von der Zeitung „Die Welt“ noch einmal auf seinen denkwürdigen Auftritt angesprochen wird, reagiert er erneut völlig gelassen, ja fast schon abweisend:

      „Die Welt“: „Seit der WM gelten Sie als Prototyp des neuen Libero-Torwarts.“

      Neuer: „Dabei habe ich mein Spiel gar nicht verändert in Brasilien. Ich habe schon immer so gespielt. Aber bei einer WM findet alles natürlich auf einer ganz anderen Plattform statt, mit einer ganz anderen Aufmerksamkeit. Deshalb hieß es plötzlich, dass ich das Torwartspiel neu erfunden hätte. Aber dem war nicht so.“

      „Die Welt“: „Im Achtelfinale gegen Algerien waren Sie gefühlt öfter außerhalb Ihres Strafraumes als innerhalb. Haben Sie eigentlich mal drüber nachgedacht, wenn einer Ihrer vielen Grätschen ins Leere gegangen wäre.“

      Neuer: „Das ist Berufsrisiko, dessen ich mir bewusst bin.“

      „Die Welt“: „Aber ein Fehler und vielleicht sogar eine Rote Karte hätte Deutschland aus dem Turnier befördern können.“

      Neuer: „Ich gehe das Risiko ja nicht für mich ein, damit mich alle so toll finden, sondern für die Mannschaft. Eines weiß ich: Hätte ich gegen Algerien diese Ausflüge nicht gemacht, wären wir ausgeschieden.“

      Diese Ruhe, die manchmal schon stumpf wirkt und die einst von einigen seiner Jugendtrainer zunächst verständlicherweise als Hindernis für eine Profikarriere interpretiert wurde, ist eine der großen Stärken Neuers in einem beschleunigten und für den Torwart komplizierter gewordenen Spiel. Seine Nervenstärke ist – neben einer gehörigen Portion Mut und der Fähigkeit, ein Spiel zu lesen – eine der Voraussetzungen dafür, Fußball auch mal am Rand zum Abgrund zu spielen. Und falls Neuer dann doch mal abrutscht, so lässt er sich hiervon kaum beeindrucken, sondern ist schnell zurück im Spiel, als sei nichts geschehen. The game must go on. Neuer ist kein Keeper, den ein Fehler nachhaltig nervös macht und der sich von ihm das gesamte Spiel versauen lässt.

       Weiter dank Neuer

      Zurück zum Spiel in Porto Alegre, wo Neuer nicht nur im Stile eines Liberos retten muss, sondern auch immer wieder durch Rückpässe ins Spiel eingebunden wird. Dem deutschen Offensivspiel fehlt es an Kreativität. Gegen die gut organisierte Abwehr der Nordafrikaner kommt man nur zu Weitschüssen. Häufig bleibt nichts anderes übrig, als die Anspielstation Neuer zu suchen, um von dort aus das Spiel neu aufzubauen oder zu verlagern. Erst kurz vor dem Halbzeitpfiff ergibt sich die erste echte Möglichkeit für die Deutschen: Algeriens Keeper M’Bholi kann Toni Kroos‘ Distanzschuss nicht festhalten, pariert aber den Nachschuss von Mario Götze prächtig. Zu diesem Zeitpunkt hätte Algerien schon längst führen können, ja müssen. Einzig Manuel Neuer hält sein Team im Spiel. Er ist Deutschlands Bester, obwohl es für ihn im klassischen Sinne kaum etwas zu halten gibt.

      In der Pause reagiert Jogi Löw und schickt für den blassen Mario Götze zum zweiten Durchgang André Schürrle, der das deutsche Angriffsspiel mit mehr Tempo und einer neuen Tiefe bereichert. In der 50. Minute führt Algerien einen Eckstoß aus. Neuer fängt den Ball ab, hat dabei aber etwas Probleme. Trotzdem spielt er umgehend einen langen Ball in den Lauf von Schürrle, der noch knapp vom Ball getrennt wird – mit dem Ergebnis einer Ecke für Deutschland. Zwischen den beiden Eckstößen liegen nur wenige Sekunden.

      In der 70. Minute muss Mustafi verletzt vom Platz. Für ihn kommt Khedira, der Lahms Position im defensiven Mittelfeld übernimmt, während der Kapitän auf die rechte Abwehrseite wechselt. Mit Lahms Versetzung werden die deutschen Angriffe flüssiger und temporeicher. Und mit Khedira, der nun erstmals bei diesem Turnier mit Schweinsteiger gemeinsam auf dem Feld steht, kommt mehr Struktur und Stabilität ins deutsche Spiel. Das DFB-Team dominiert nun und erspielt sich einige Chancen. Vor allem aber bekommt man die Konter der Algerier besser in den Griff.