viel länger als die siebenundfünfzig fahre, die ihr beschieden waren. Mein Vater hingegen hätte nicht einmal den ersten Grobraster geschafft: Er wäre gar nicht zur Auswahl zugelassen worden. Fünfundzwanzig Jahre und vierzehn Tage hat es gebraucht, bis meine Mutter sich endlich von diesem Mann getrennt hat; mein Kommentar als damals Sechzehnjährige war: »Fünfundzwanzig Jahre zu spät!« Dann hätte es mich zwar nicht gegeben, aber ich bin sicher, die Welt hätte das verkraften können.
Nein, nein, sagen Sie jetzt bloß nicht, das wäre aber schade gewesen. Zum jetzigen Zeitpunkt in diesem Buch wäre das ohnehin nur eine von diesen Floskeln, die ich hasse. Und ob Sie es, nach ein paar hundert Seiten Lesen, wirklich gemeint hätten, wird sich noch weisen. Überhaupt ist jetzt noch nicht Zeit für Kommentare, sondern für Else Erna Charlotte Hulda (ein Schicksalsschlag, mit diesen Vornamen in die Welt geschickt zu werden) Ring, geborene Lange...
Meine Mutter war einunddreißig, als ich geboren wurde. Das war damals spät fürs erste Kind. Sie hatte geheiratet, als sie zweiundzwanzig Jahre alt war – den ersten Mann in ihrem Leben! Da stimmte nun rein gar nichts außer der Tatsache, daß die Ehe sie aus einem Elternhaus herausführte, in dem sie todunglücklich war. Sie war ohne Liebe, ohne Zärtlichkeit, ohne Gerechtigkeit aufgewachsen, erzogen von einer Mutter, die fünf weitere Kinder geboren hatte, von denen noch drei lebten, und die nach sechs Schwangerschaften entdecken mußte, daß ihr Mann lieber mit einem anderen Mann Zusammenleben wollte. Was er dann auch tat, nachdem sie sich von ihm hatte scheiden lassen.
Auch ihre Großmutter war geschieden, aus was-weiß-ich für Gründen, aber es müssen gute gewesen sein. Mein Urgroßvater war Glasermeister – vielleicht hat er getrunken, vielleicht hat er sich nicht um die Familie gekümmert: ich habe es mal gewußt, aber es ist nicht so entscheidend. Entscheidend war, daß diese Großmutter zur drastischen Maßnahme der Scheidung griff, und beeindruckend war, daß sie daraufhin das Handwerk erlernte und die Glaser-Werkstatt übernahm.
Ich nehme an, daß sie dabei nicht übermäßig viel Zeit auf die Erziehung ihrer Kinder verwendet hat. Jedenfalls ist wohl schon meine Großmutter ohne Liebe aufgewachsen, was sie dann später auf ihre Kinder übertragen hat. Sie ist mir als eine kühle, schlanke Dame in Erinnerung, die offenbar immer nur das gleiche trug: Blusen mit einem Jabot und lange, schmale Röcke. So jedenfalls habe ich sie gespeichert. Sie roch nach Pfefferminz und Lavendel; schon ihr fast antiseptischer Geruch verbreitete die klare Message: »Don’t touch me!« Hat sie mich je geküßt? Ich glaube nicht. Hat sie etwas mit mir unternommen? Das hätte ich sicher nicht vergessen. Hat sie sich überhaupt über mich gefreut? Weiß ich nicht, aber da sie meinen Vater nicht mochte (»haßte« wäre ein Wort, das mir im Zusammenhang mit meiner Großmutter mütterlicherseits nie in den Sinn kam – so viel Emotion lag bei ihr nicht drin), hat sie die Tatsache, daß ihre Tochter jetzt noch enger an diesen Mann gekettet war, sicher nicht gefreut. Ich habe sie nur die ersten vier Jahre meines Lebens oberflächlich gekannt; danach haben wir Berlin verlassen. Irgendwann ist sie einfach verschwunden. Sie soll – ich habe keine Ahnung, wie diese Nachricht zu uns gekommen ist – eine Geschwulst in einer Achselhöhle gehabt haben, in einem Krankenhaus gelandet und dort Opfer einer Euthanasie-Order im späten Stadium des Kriegs geworden sein. Ich kann mir das kaum vorstellen, vor allem nicht sie in dieser grauenhaft entwürdigenden Situation.
Kurios oder kein Wunder, daß meine Mutter mit diesem Hintergrund ein Mensch wurde, der Liebe verströmen und davon umhüllt sein wollte? Sie hatte ihre Jugend in höchst unangenehmer Erinnerung und wollte bei ihren eigenen Kindern alles anders machen. Bei mir ist ihr das weitgehend gelungen. In den ersten sechs Jahren meines Lebens habe ich in den grauenhaftesten Zeiten so viel Liebe bekommen, daß es die Absenz eines Vaters und seiner Liebe weitgehend wettgemacht hat.
Aber ich greife vor, denn bevor mein Vater die Bühne meines Lebens betritt, spielte er im Leben meiner Mutter die Hauptrolle. Wenn Sie je einen Fall von Fehlbesetzung gesehen haben, dann ist es der. Da ist also eine junge Frau, Anfang zwanzig, attraktiv, aber noch »unberührt«. Generell unglücklich und voller Sehnsucht; speziell auf der Suche nach Liebe, wenn auch nur latent. Daß mein Vater ein Charmeur gewesen sein muß, ist durch seine unzähligen Affären belegt. Anderseits war er Rheinländer, katholisch, fast zehn Jahre älter, geschieden, Vater eines jungen Sohnes und – arbeitslos. Eine umwerfende Kombination! Es ist die alte Geschichte, die viele Zeitgenossinnen meiner Mutter erlebt haben: Er war der erste Mann in ihrem Leben, und sie war der Meinung, daß, wenn man »das« mit einem Mann gemacht hatte, man bei ihm bleiben mußte. So einfach war das. Die standesamtliche Trauung hat an einem regnerischen Septembertag im Jahre 1930 stattgefunden; meine Mutter hatte diesen Regen in ihrer Erinnerung gespeichert, weil das Paar zu der Zeit so wenig Geld hatte, daß sie mit Löchern in den Sohlen ihrer Pumps zum Standesamt gegangen ist und nasse Füße hatte, als sie ihm das Ja-Wort gegeben hat.
Man sollte meinen, daß da genügend Warnzeichen vorhanden waren. Aber es genügt ja nicht, daß Warnzeichen vorhanden sind, man muß sie auch wahrnehmen und interpretieren können. Sie hat den Tiger wohl nicht hören wollen, denn das wäre einem Eingeständnis gleichgekommen, daß sie sich in eine Situation hineinmanövriert hatte, aus der es keinen Ausweg gab. Die Trauzeugen kamen von meines Vaters Seite, die Familie meiner Mutter hatte mit dieser Trauung nichts im Sinn.
Lange hielt die Armut jedoch nicht an. Mein Vater hatte etwas entdeckt, was ihn an die Fleischtöpfe Ägyptens heranführte, wo er für die nächsten anderthalb Jahrzehnte mehr als nur tägliche Nahrung fand. Ohne Umschweife: Mein Vater trug sein Parteiabzeichen bereits, als »man« es noch unter dem Revers trug und nur Eingeweihten zeigte. Mit untrüglichem Instinkt hatte er begriffen, daß das politische System, das sich da Deutschland aufzwang, Nieten wie ihm einen neuen Platz in der Gesellschaft sichern konnte. Und er war ganz früh zur Stelle. Die Belohnung für diese frühe Treue zu einer Partei, die sich erst definieren mußte, bestand u. a. darin, daß er es zu einer Position gebracht hatte, von der er vorher nicht einmal hätte träumen können.
Mein Vater war sehr intelligent, aber, soweit ich weiß, ohne eine echte Berufsausbildung, und er lief der Arbeit nicht gerade nach. Er hat sich meiner Mutter als Journalist vorgestellt, wurde bald schon Redakteur und dann wohl Chefredakteur. Jedenfalls war die Stelle, die er bekleidete, so viel wert, daß er zwei (!) Sekretärinnen hatte, ein großes Büro mit einem großen Schreibtisch, die seinem großen Ego den entsprechenden Rahmen boten. Schreiben konnte er, das muß sogar ich ihm lassen. Linientreu war er auch, und zwar egal, welche Linie: Mein Vater hätte, wären wir nach 1945 in der späteren DDR geblieben, ganz sicher auch einen ebenso statusbewußten kommunistischen Chefredakteur abgegeben.
Wie gerne hätte ich meine Mutter gefragt, wann sie zum ersten Mal von seiner Parteizugehörigkeit erfahren hat und wie sie damit zurecht gekommen ist. Sie war keine politische Aktivistin, aber die Nationalsozialisten waren ihr zutiefst zuwider. Hat sie die Auseinandersetzung gesucht? Hat sie sich eventuelle Konsequenzen überlegt? Hat sie sich meinem Vater wenigstens temporär verweigert? Oder war sie nur froh, daß endlich Geld da war, um die Miete für eine komfortable Vierzimmerwohnung in Berlin-Wilmersdorf zu zahlen? Bis ich mit ihr über diese Dinge sprechen konnte oder wollte, hatte sich mein Vater zusätzlich noch so viele Dinge zuschulden kommen lassen, daß seine frühe Parteizugehörigkeit nur ein Teil eines großen Sündenregisters war und wir andere, zeitgemäßere Prioritäten hatten.
Früh hatte sie erkennen müssen, daß wenigstens eine der beiden Sekretärinnen jeweils die Geliebte meines Vaters war, und daß die Parteifreunde, die sie in ihrer Wohnung antraf, nicht die Art Mensch war, mit der sie verkehren wollte. Sie sorgte dafür, daß mein Vater diese Kollegen oder Bekannten außerhalb der Wohnung traf; meine Eltern hatten keine befreundeten Ehepaare, mit denen sie gemeinsam etwas unternahmen. Soweit ich weiß, hatte mein Vater überhaupt nie einen Freund, und ich kann mich nur an zwei Frauen erinnern, mit denen meine Mutter befreundet war. Später waren unsere Wohnverhältnisse so undenkbar, daß sie sicher froh war, nicht dauernd erklären zu müssen, warum wir niemanden einladen konnten.
Wann mein Vater den Chefredakteurs-Sessel mit der Offiziersuniform vertauschte, weiß ich nicht, aber er hat keine Zeit vergeudet, als der Krieg ausbrach. Er hat es bis zum Hauptmann gebracht – auch hier ist er der Gefahr nicht nachgerannt – und war lange Zeit in Frankreich, wo er sich als Besatzer im Hinterland ein feudales Leben machte. Dann sollte er in Ostpreußen das