im Kriegswinter 1943/44 kennenzulernen! Ich war auf der Quarantäne-Station im selben Zimmer mit drei Erwachsenen. Der Kontakt zur Außenwelt bestand darin, daß ich mit meinen Eltern (mein Vater war auf Weihnachtsurlaub) durch ein geschlossenes, vergittertes Fenster per Handzeichen kommunizieren durfte! Und ich hatte ihnen so vieles zu erzählen: Zum Beispiel, daß ich Hunger hatte und nicht genug zu essen bekam. Das nächste Mal brachte meine Mutter etwas mit. Ich aß nicht alles, hätte das aber gescheiter tun sollen. Das Übriggelassene hatte ich im Nachttischchen versteckt. Am nächsten Morgen war es nicht mehr da; dafür war der Nachttisch innen mit Mäusedreck übersät.
Als ich nach einigen Wochen endlich den schrecklichen Ort verlassen konnte, hatte ich nur noch ganz dünne Zöpfe. Ob das der Beginn meiner Haar-Obsession war? Es könnte sein, denn ich hatte als Kind sogenannte Schiller-Locken, die fast jeden Abend auf Holzwickler (!) aufgerollt wurden. Eigentlich könnte ich alle meine Webfehler damit entschuldigen: Man stelle sich mal vor, was das meinem Gehirn angetan haben muß ... Oder vielleicht war es ein Webfehler meiner Mutter, die eigentlich viel zu intelligent war, um so etwas zu tun. Jedenfalls haben wir beide viel Zeit damit zugebracht, meine Haare so hübsch wie möglich zu präsentieren. Sie selbst hatte sehr dünnes Haar; vielleicht hat sie deshalb den Haaren ihrer kleinen Tochter so viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Ach ja, die Haare! Sie waren mein ganzes Leben lang ein Thema. Es gibt Fotos von mir, die mich mit dichten Haaren, ja hie und da sogar mit einer sogenannten Löwenmähne zeigen. Aber ich war nie wirklich zufrieden mit dem, was ich hatte, denn selbst wenn es gut aussah, hatte es ziemlich viel Hilfe seitens der Chemie gebraucht, was wiederum bedeutete, daß Nebel, Nieselregen, aber auch große Hitze jede Frisur in größte Gefahr brachten und ich total abhängig von meinem jeweiligen Coiffeur war. Man sagt ja, daß jede Frau zuerst das bei einer anderen (kritisch) anschaut, was sie selbst nicht hat oder womit sie selbst nicht zufrieden ist. Ich kann das bestätigen: Mein Blick fällt bei einem weiblichen Gegenüber unweigerlich zuerst auf die Haare. In meiner Zeit in den USA hatte das eine geradezu masochistische Komponente: Amerikanerinnen haben meistens sehr gutes Haar und sehr viel davon, und so hatte ich also immer wieder Grund, mit meinem zu hadern. Kein Wunder auch, daß die amerikanische Filmschauspielerin Farah Fawcett mit ihrer unglaublichen Haarfülle eines meiner Idole wurde.
Als Fünfjährige fand ich die dünnen Zöpfchen auch nicht berauschend, aber sie waren ja kein Dauerzustand, und bald waren Krankheit, Mäuse und Haarausfall vergessen, besonders nachdem meine Mutter und ich wieder ein halbwegs normales Leben aufnehmen konnten. Dazu gehörte allerdings hie und da auch etwas Außergewöhnliches, wie zum Beispiel Kino. In Berlin hatte sie mich manchmal zu etwas Jugendfreiem mitgenommen. Das hatte mich damals wohl nicht so fasziniert, denn ich weiß noch, daß für mich das Wichtigste war, zu wissen, wo die Toilette war. Ich »mußte« einfach dauernd und hatte immer Angst, zu spät dorthin zu kommen.
In Kreuzingen hingegen gab es diese Gefahr nicht, denn es gab gar kein Kino! Manchmal aber schafften ein paar Filmrollen den weiten Weg bis fast an die Ostgrenze des damaligen Deutschlands, und dann gab es in einer großen leeren Scheune eine Filmvorführung! Allerdings nur für Erwachsene, was meine Mutter nicht daran hinderte, mich mitzunehmen. Wir warteten, bis das Licht ausging, und schlichen uns dann hinein. Bis dahin waren alle Sitzplätze besetzt, und wir mußten stehen. Wenn ich mich als fast einziges Kleidungsstück an den Pelzmantel meiner Mutter erinnerte, dann nur, weil sie ihn leicht öffnete während der Vorstellung, damit ich daraus hervorgucken konnte, und sie mich irgendwie darunter verbarg, wenn beim Wechseln der Filmrollen das Licht wieder anging. Jedenfalls sind wir nie geschnappt worden, obwohl sie sich mit solchen Eskapaden immer wieder in potentielle Konflikte mit offiziellen Organen brachte.
Ich kann mich nicht erinnern, einen Mangel an Spielzeug gehabt zu haben, sogar in der Evakuation. Wie viele Kinder träumte aber auch ich von einem Fahrrad, besonders angesichts der Tatsache, daß es in diesem Kaff keine andere Transportmöglichkeit gab als Radfahren, Laufen oder allenfalls von einem bäuerlichen Leiterwagen ein Stück mitgenommen zu werden. Und das Wunder geschah: Mein Vater bekam nochmals Urlaub, bevor er die Fleischtöpfe Frankreichs verlassen mußte und an die Ostfront verschoben wurde, und brachte ein nagelneues rotes Kinderfahrrad mit! Mein Gott, mitten im Krieg, nein, am Ende des vorletzten Kriegsjahres kommt ein Vater mit einem wunderschönen Fahrrad auf Urlaub! Wie ihm das gelungen ist, weiß ich nicht, aber ich konnte es kaum erwarten, bis das Wetter es zuließ, daß wir dieses Wunderding einweihen konnten.
Die meisten Erwachsenen können sich nicht so recht erinnern, wie sie radfahren gelernt haben. Sie konnten es eines Tages einfach. Ich nicht, und daher erinnere ich mich sehr gut – nicht zuletzt auch, weil es um diese Lernerfahrung herum die erste große Auseinandersetzung mit meinem Vater gab. Und das ging so: Vater geht mit Kind und Rad in ein Kornfeld, wo es breite Schneisen, aber keine Menschen gibt. Kind darf Rad selbst schieben. Vater zeigt, wie das aussieht, wenn man richtig radfährt – als nicht sehr Großgewachsener gelingt es ihm sogar, dem Kind das auf dem Rad selbst vorzumachen. Kind besteigt Rad – und fällt hin. Vater erklärt erneut – mit dem gleichen Resultat. Kind macht aber Fortschritte – es fährt einige Meter, bevor es wieder hinfällt. Vater wird zunehmend gereizt; es gibt die erste Ohrfeige. Kind weint jetzt, sieht noch weniger, wohin es fährt – und: Resultat wie gehabt. Zweite Ohrfeige von entnervtem Vater, was immer noch keinen Lernerfolg auslöst. Schließlich Drohung von Vater an Kind: »Herrgott, begreifst du denn gar nichts?! Wenn du noch einmal fällst, verkaufe ich das Fahrrad!« Den nächsten Versuch hätte sich das tränenüberströmte Kind eigentlich sparen können; es hat das Resultat nur um ein paar Minuten hinausgezögert. Natürlich bin ich wieder hingefallen – und, ja, das Rad habe ich nach diesem Nachmittag nie mehr gesehen. »Natürlich«, sollte ich auch hier noch hinzusetzen, obwohl ich das damals noch nicht gewußt habe. Mein Vater drohte nie einfach so. Er hielt seine Versprechen. Ich würde später lernen, seine Drohungen ernst zu nehmen.
Wenigstens haben wir von diesem Fahrrad ein paar gute Mahlzeiten gehabt. Im Frühsommer 1944 haben sich die Bauern noch um solche Raritäten gestritten und in Tauschgeschäften überboten, ein Jahr später hätten sie dafür nur noch ein müdes Lächeln aufgebracht, denn da lagen die Perserteppiche schon in ihren Kuhställen, weil sie so viele davon gegen ein Pfund Butter, ein paar Kilo Kartoffeln oder zehn Eier eingetauscht hatten. Sobald mein Vater sich als Fahrlehrer aus meinem Leben verabschiedet hat, habe ich selbstverständlich radfahren gelernt. Wie gut ich das später konnte, habe ich als Dreizehnjährige unter Beweis gestellt, als ich für einen Lesezirkel die wöchentliche Auslieferung in der Altstadt Duisburgs übernahm und ein Fahrrad mit einem großem Aufsatz auf dem Vorderrad über das holprige Pflaster balancieren mußte.
Meine Mutter hat nie ein Buch über Kindererziehung gelesen; als leidenschaftliche Mutter hat sie jedoch das meiste richtig gemacht. Mein Vater hätte nur gelacht, wenn man mit ihm die Existenz solcher Bücher diskutiert hätte – seine Erziehungsmethoden basierten auf Drohungen, auf der Hand, die ihm leicht ausrutschte, und auf dem Hohn, mit dem er mich überhäufte, wenn ich etwas auf Anhieb nicht verstand oder versuchte, ihn noch umzustimmen.
Aber noch sind wir nicht in Duisburg, sondern immer noch in Ostpreußen, wo es im Herbst 1944 zunehmend ungemütlich wird. Also beschließt der Staat, die bereits evakuierte Bevölkerung nochmals zu evakuieren. Diesmal ist es Thüringen, wo wir in einem Dorf namens Siersleben landen.
S-i-e-r-s-l-e-b-e-n! Wie wird man mit so etwas fertig? Wie überlebt vor allem eine elegante Städterin wie meine Mutter diese erneute Verpflanzung? Knapp, würde ich sagen. Zehn Kilometer weiter, und wir wären in Eisleben gelandet. Eisleben ist der Ort, wo Martin Luther geboren wurde – das können wenigstens einige Menschen nachvollziehen. Siersleben hingegen hätte es gar nie geben dürfen; dort sah sogar Kreuzingen in der Rückschau gut aus ...
Siersleben besteht in meiner Erinnerung aus einer Hauptstraße und einer Reihe von Bauernhöfen. Vielleicht hat es mehr als das gegeben, vielleicht war das schon alles. Wir jedenfalls waren im Parterre eines Privathauses an der Hauptstraße einquartiert, anfänglich in zwei Zimmern. Im zweiten Stock die Hausbesitzerin, im ersten ihr debiler alter Vater, der, wie sich dann herausstellte, so debil gar nicht war: Er war einer der ersten, der beim Einmarsch der amerikanischen Armee ein großes weißes Laken aus einem der Fenster hängte und die Befreier stürmisch begrüßte. Unnötig zu betonen, wie sehr sich diese beiden gefreut haben, daß da diese offensichtlich