benahm sich Mathilde Brahe äußerst gesprächig; sie fragte den Vater nach früheren Bekannten in ausländischen Städten, sie erinnerte sich entlegener Eindrücke, sie rührte sich selbst bis zu Tränen, indem sie verstorbener Freundinnen und eines gewissen jungen Mannes gedachte, von dem sie andeutete, daß er sie geliebt habe, ohne daß sie seine inständige und hoffnungslose Neigung hätte erwidern mögen. Mein Vater hörte höflich zu, neigte dann und wann zustimmend sein Haupt und antwortete nur das Nötigste. Der Graf, oben am Tische, lächelte beständig mit herabgezogenen Lippen, sein Gesicht erschien größer als sonst, es war, als trüge er eine Maske. Er ergriff übrigens selbst manchmal das Wort, wobei seine Stimme sich auf niemanden bezog, aber, obwohl sie sehr leise war, doch im ganzen Saale gehört werden konnte; sie hatte etwas von dem gleichmäßigen und unermüdlichen Ticken einer Uhr; solange sie klang, schien die Stille eine tiefere Resonanz zu haben: man hörte jede Silbe kommen und gehen. Graf Brahe hielt es für eine besondere Artigkeit meinem Vater gegenüber, von dessen verstorbener Gemahlin, meiner Mutter, zu sprechen; er nannte sie Gräfin Sibylle, und alle seine Sätze schlossen, als fragte er nach ihr. Ja, es kam mir, ich weiß nicht weshalb, vor, als rede er von einem ganz jungen, weißgekleideten Mädchen, das jeden Augenblick bei uns eintreten könne. In demselben Tone hörte ich ihn auch von ›unserer kleinen Anna Sophie‹ reden. Und als ich eines Tages nach diesem Fräulein fragte, das dem Großvater besonders lieb zu sein schien, erfuhr ich, daß er die Gräfin Anna Sophie Reventlow meinte, die dritte Gemahlin des Königs Friedrich des Vierten, die zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts lebte. Die Zeitfolgen spielten durchaus keine Rolle für ihn, der Tod war ein kleiner Zwischenfall, den er vollkommen ignorierte, Personen, die er einmal in seine Erinnerung aufgenommen hatte, existierten, und daran konnte ihr Absterben nicht das geringste ändern. Mehrere Jahre später, nach dem Tode des alten Herrn; erzählte man sich, wie er auch das Zukünftige mit demselben Eigensinn als gegenwärtig empfand. Er soll einmal einer gewissen jungen Frau von ihren Söhnen gesprochen haben, von den Reisen eines dieser Söhne insbesondere, während die junge Dame, eben im dritten Monate ihrer ersten Schwangerschaft, fast besinnungslos vor Entsetzen und Furcht neben dem unablässig redenden Alten saß.«
Hier entstand wieder eine Pause. Malte Laurids Brigge erhob sich, trat ans Fenster und sah hinaus. Der junge Mann aber war nachdenklich und verwirrt in seinem Sessel sitzen geblieben, bis es ihm einfiel, neue Scheiter in das Kaminfeuer zu legen, das zu dichter zuckender Glut zusammengesunken war. Bei dem Geräusch des Holzes wandte Brigge sich um: »Soll ich weitererzählen?« sagte er.
»Es ermüdet Sie –« antwortete der andere, am Kamine kniend. Brigge ging auf und ab. Als sein Bekannter sich wieder gesetzt hatte, blieb er stehn, ziemlich in der Tiefe des Zimmers und sagte hastig: »Es begann damit, daß ich lachte. Ja, ich lachte laut, und ich konnte mich nicht beruhigen. Eines Abends fehlte nämlich Mathilde Brahe. Der alte, fast ganz erblindete Bediente hielt, als er zu ihrem Platze kam, dennoch die Schüssel anbietend hin; eine Weile verharrte er so. Dann ging er befriedigt und würdig und als ob alles in Ordnung wäre weiter. Ich hatte diese Szene beobachtet, und sie kam mir, im Augenblick, da ich sie sah, durchaus nicht komisch vor. Aber eine Weile später, als ich eben einen Bissen in den Mund steckte, stieg mir das Gelächter mit solcher Schnelligkeit in den Kopf, daß ich mich verschluckte und großen Lärm verursachte; und trotzdem diese Situation mir selber lästig war, trotzdem ich mich auf alle mögliche Weise anstrengte, ernst zu sein, kam das Lachen stoßweise immer wieder und behielt völlig die Herrschaft über mich. Mein Vater, gleichsam um mein Benehmen zu verdecken, fragte mit seiner breiten gedämpften Stimme: ›Ist Mathilde krank?‹ Der Großvater lächelte in seiner Art und antwortete dann mit einem Satze, den ich durchaus nicht beachtete und der etwa lautete: Nein, sie wünscht nur nicht Christinen zu begegnen. Ich sah es also auch nicht als die Wirkung dieser Worte an, daß mein Nachbar, der braune Major, sich nach einer Weile erhob und mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung und einer Verbeugung gegen den Grafen hin den Saal verließ. Es fiel mir nur auf, daß er sich hinter dem Rücken des Hausherren in der Tür nochmals umdrehte und dem kleinen Erik und zu meinem größten Erstaunen plötzlich auch mir winkende und nickende Zeichen machte, als forderte er uns auf, ihm zu folgen. Ich war so überrascht, daß mein Lachen aufhörte, mich zu bedrängen. Im übrigen schenkte ich dem Major weiter keine Aufmerksamkeit; er war mir unangenehm, und ich bemerkte auch, daß der kleine Erik ihn nicht beachtete. Die Mahlzeit schleppte sich weiter wie immer, und man war gerade beim Nachtisch angelangt, als meine Blicke von einer Bewegung ergriffen und mitgenommen wurden, die im Hintergrunde des Saales, im Halbdunkel, vor sich ging. Dort war lautlos und langsam eine, wie ich meinte, stets verschlossene Türe, von welcher man mir gesagt hatte, daß sie in das Zwischengeschoß führe, aufgegangen, und jetzt, während ich mit einem mir ganz neuen Gefühl von Neugier und Bestürzung hinsah, erschien im, Dunkel der Türöffnung eine schlanke, hellgekleidete Dame und kam langsam auf uns zu. Ich weiß nicht, ob ich eine Bewegung machte oder einen Laut von mir gab, der Lärm eines umstürzenden Stuhles zwang mich, meine Blicke von der merkwürdigen Gestalt abzureißen, und ich sah meinen Vater, der aufgesprungen war und nun, totenbleich im Gesicht und mit herabhängenden geballten Händen, auf die Dame zuging. Diese bewegte sich indessen, von dieser Szene ganz unberührt, auf uns zu, Schritt für Schritt, und sie war schon nicht mehr weit von dem Platze des Grafen, als dieser sieh mit einem Ruck erhob, meinen Vater beim Arme faßte, ihn an den Tisch zurückzog und festhielt, während die fremde Dame, langsam und teilnahmslos, durch den nun frei gewordenen Raum vorüberging, Schritt für Schritt durch unbeschreibliche Stille, in der nur irgendwo ein Glas zitternd klirrte, und in einer Tür der gegenüberliegenden Wand des Saales verschwand. In diesem Augenblick bemerkte ich, daß es der kleine Erik war, der mit einer tiefen Verbeugung diese Tür hinter der Fremden schloß. Ich war der einzige, der am Tische sitzen geblieben war, von unsichtbaren Gewichten in meinen Sessel hineingedrückt. Eine Weile sah ich gar nichts. Dann fiel mir mein Vater ein, und ich gewahrte, daß der Alte ihn noch immer am Arme festhielt. Das Gesicht meines Vaters war jetzt zornig und rot, aber der Großvater, dessen Finger wie eine weiße Kralle meines Vaters Arm umklammerten, lächelte sein maskenhaftes Lächeln. Ich hörte dann, wie er etwas sagte, Silbe für Silbe, ohne daß ich den Sinn seiner Worte verstehen konnte. Dennoch fielen sie mir tief in die Erinnerung, denn vor etwa zwei Jahren fand ich sie eines Tages in mir, und ich weiß jetzt, wie sie lauteten. Er sagte: ›Du bist heftig, Kammerherr, und unhöflich. Was läßt du die Leute nicht an ihre Beschäftigungen gehn?‹ – ›Wer ist das?‹ schrie mein Vater dazwischen. ›Jemand, der wohl das Recht hat, hier zu sein. Keine Fremde; Christine Brahe.‹ Da entstand wieder jene merkwürdig angespannte Stille, und wieder fing das Glas an zu zittern. Dann aber riß sich mein Vater mit einer Bewegung los und stürzte aus dem Saale. Ich hörte ihn die ganze Nacht in seinem Zimmer auf und ab gehen; denn auch ich konnte nicht schlafen. Aber plötzlich gegen Morgen erwachte ich doch aus irgend etwas Schlafähnlichem und sah mit einem Entsetzen, das mich bis ins Herz hinein lähmte, etwas Weißes, das an meinem Bette saß. Meine Verzweiflung gab mir schließlich die Kraft, den Kopf unter die Decke zu stecken, und dort begann ich aus Angst und Hilflosigkeit zu weinen. Plötzlich wurde es kühl und hell über meinen weinenden Augen; ich drückte sie, um nichts sehen zu müssen, über den Tränen zu. Aber die Stimme, die nun von ganz nahe auf mich einsprach, klang weich und süßlich, und ich erkannte sie: Es war Fräulein Mathildes Stimme. Ich beruhigte mich sofort und ließ mich trotzdem, auch als ich schon ganz ruhig war, immer noch weiter trösten; ich fühlte zwar, daß diese Güte zu weichlich sei, aber ich genoß sie dennoch und glaubte sie irgendwie verdient zu haben. ›Tante‹, sagte ich schließlich und versuchte in ihrem zerflossenen Gesicht die Züge meiner Mutter zusammenzufassen, ›Tante, wer war die Dame?‹ – ›Ach‹, antwortete das Fräulein Brahe mit einem Seufzer, der mir komisch vorkam, ›eine Unglückliche, mein Kind, eine Unglückliche.‹ Am Morgen dieses Tages bemerkte ich in einem Zimmer einige Bediente, die mit Packen beschäftigt waren. Ich dachte, daß wir reisen würden, ich fand es ganz natürlich, daß wir nun reisten. Vielleicht war das auch meines Vaters Absicht. Ich habe nie erfahren, was ihn bewog, nach jenem Abende noch auf Urnekloster zu bleiben. Aber wir reisten nicht. Wir hielten uns noch acht Wochen oder neun in diesem Hause auf, wir ertrugen die Last seiner Seltsamkeiten, und wir sahen noch dreimal Christine Brahe. Ich wußte damals nichts von ihrer Geschichte. Ich wußte nicht, daß sie vor etwa hundertzwanzig Jahren in ihrem zweiten Kindbett gestorben war, einen Knaben gebärend, der zu einem bangen und grausamen Schicksal heranwuchs, – ich wußte nicht, daß sie eine Gestorbene