unterbrach Vater Seppel das düstere Schweigen. Er zog seinen groben Kittel an und ging zum Hause hinaus.
Bald kehrte der alte Mann zurück und brachte ein ABC-Buch für seinen Kleinen mit. Den Kittel hatte er nicht mehr an. – Der Arme ging hemdärmelig, und schon fing es an zu schneien. Als er ins Zimmer trat, fragte Bengele:
»Dein Kittel, Vater?«
»Ich habe ihn verkauft.«
»Warum hast du ihn nicht behalten?«
»Er machte mir zu warm. – Hier hast du dein ABC-Buch.«
Der hölzerne Hampelmann fühlte in diesem Augenblick die große, unergründliche Liebe, die aus dem Vaterherzen sprach.
»Vater, lieber Vater!« konnte er nur sagen, hing sich dem guten Alten an den Hals, küßte ihn und schmiegte sich zärtlich an seine Wangen.
Neuntes Stück.
Bengele verkauft das ABC-Buch und geht ins Kasperletheater.
Am andern Morgen nahm Bengele das ABC-Buch unter den Arm und machte sich auf den Weg zur Schule. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, er baute prächtige Luftschlösser und redete vor sich hin:
»Jetzt gehe ich in die Schule und bis heute abend kann ich schon lesen; morgen lerne ich schreiben, übermorgen rechnen! Geschickt wie ich bin, verdiene ich bald viel Geld, und zu allererst kaufe ich meinem Vater einen schönen Kittel. – Von feinem Tuch muß er sein! – Was, Tuch? – Nein, von Gold und Silber und die Knöpfe Edelsteine! Der arme Mann verdient's! Hemdärmelig muß er einhergehen, damit ich mit meinem Buch zur Schule gehen kann. – Und diese Kälte! Wie gut ist mein Vater, wie sehr liebt er mich! Nie will ich es vergessen und fleißig lernen.«
Das Hampelchen war so in seinen guten Gedanken versunken, daß es eine Weile stehen blieb.
Da klingt aus der Ferne fröhliche Musik an sein Ohr. Deutlich waren die hellen Flöten zu unterscheiden: di-dideldi, di-dideldi – und der große Brummbaß: bum-bumbum, bum-bumbum.
Die Töne kamen vom andern Ende einer langen Straße, die hinaus ans Meer führte. Dort lag vor der Stadt ein großer, freier Platz.
»Was für Musik das ist? – Schade, daß ich heute zur Schule muß, sonst ...«
Schon schwankten die guten Vorsätze. – Bengele stand am Scheidewege: zur Schule oder zur Musik.
»Heute höre ich die Musik an – morgen gehe ich zur Schule. Für die Schule ist immer noch Zeit, sie läuft nicht davon.«
So entschied sich der Schlingel. – Alle guten Vorsätze waren vergessen; er schlug die Seitenstraße ein und lief zur Stadt hinaus. Immer deutlicher ward die Musik, immer mehr Menschen gingen denselben Weg. – Bengele kam auf den großen Platz und sah die Musikanten am Eingang einer buntbemalten Meßbude. Eine Menge Leute stand davor, und Bengele fragte einen Knaben:
»Was kann man hier sehen?«
»Lies den Zettel dort, so weißt du es.«
»Ich tät' es gern, aber leider kann ich gerade heute noch nicht lesen.«
»Du bist ein netter Esel! – Ich will es dir lesen. Höre:
›Gros-ses Kas-per-le-the-a-ter!‹ So steht dort mit feuerroten Buchstaben.«
»Hat das Stück schon lange angefangen?«
»Eben geht es an.«
»Was kostet's Eintritt?«
»Zwanzig Pfennig.«
Bengele brannte vor Neugier und schämte sich nicht, den Buben zu fragen:
»Willst du mir nicht bis morgen zwanzig Pfennig leihen?«
»Ich täte es gern«, spottete ihn dieser aus, »aber heute kann ich es gerade nicht.«
»Für zwanzig Pfennig gebe ich dir meinen Kittel«, sagte der Hampelmann.
»Was tue ich mit einem beblümten Papierkittel? Wenn es regnet, pappt er mir auf den Rücken!«
»Kauf mir meine Schuhe ab!«
»Mit denen könnte man allenfalls Feuer anmachen!«
»Was gibst du mir für meine Kappe?«
»Eine Kappe von weichem Brot! – Die Mäuse kommen und fressen sie mir vom Kopfe weg.«
Bengele trippelte von einem Fuß auf den andern. Der Mut ging ihm aus; er zögerte, er kämpfte mit sich selber, endlich sagte er:
»Gib mir zwanzig Pfennig für dies ABC-Buch!«
»Ich kaufe nichts von andern Kindern«, sagte der kluge Knabe.
»Komm her! – Für zwanzig Pfennig nehme ich das ABC-Buch«, rief ein Lumpenmann, der eben mit seinem Karren dazukam.
Sofort wurde der Handel abgeschlossen. –
Bengele, Bengele, hast du alles vergessen? Der arme Vater Seppel hat dir gestern das ABC-Buch gekauft, er hat dafür seinen einzigen Kittel drangegeben und geht jetzt hemdärmelig bei dem Schnee und der harten Kälte!
Zehntes Stück.
Bengele und seine hölzernen Brüder.
Als der Hampelmann ins Theater eintrat, gab es eine halbe Revolution.
Der Vorhang war schon aufgezogen und das Spiel fing eben an. Auf der Bühne standen Kasperle und Hansele. Sie schimpften einander aus, und der eine drohte dem andern nach jedem zweiten Wort mit Ohrfeigen und Stockschlägen.
Die Zuhörer lachten laut über die Holzmännlein; denn sie händelten, fuchtelten und sagten einander so derb die Wahrheit wie richtig zornige Menschen.
Plötzlich hält der Kasperle inne. Er bleibt gegen die Zuschauer gewendet stehen, macht ein erstauntes Gesicht und deutet mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die hintersten Sitze. Dann kommt die Begeisterung des Schauspielers über ihn, und er spricht:
»Ihr leuchtenden Sterne des Himmels! – Wach ich, oder ist's ein Traum? – Mein helles Auge sieht die Wirklichkeit; hier trügt kein Schein. In der Zuschauer letzten Reihe sitzt unser Bengele.«
»Der Bengele! – Er ist's! – Der Bengele!« ruft Hänsele jetzt ebenso freudig entzückt.
»Der Bengele! – leibhaftig der Bengele«, schreit auch Rosalinde und streckt die Nase zwischen den Kulissen heraus.
»Bengele! Bengele!« ertönt's darauf in den verschiedensten Stimmen, und die Holzfigürchen hüpfen auf die Bühne hinaus.
Kasperle übertönt alle mit seinem Rufe:
»Komm her zu mir! – Komm herauf! – Komm an mein Herz! – Komm, Bengele! – Komm zu deinen hölzernen Brüdern!«
Die Einladung war zu lieb. – Der Hampelmann konnte nicht widerstehen. Er tat einen Sprung von seinem letzten Platze auf die ersten Sitze, einen zweiten auf den Kopf des Dirigenten, mit dem dritten war er auf der Bühne.
Was gab es da ein Wiedersehen! – Wieviel Küsse! Hier sah man die echte Geschwisterliebe. – Bengele fühlte sich selig in diesem tollen Durcheinander.
Der Anblick war rührend, ohne Zweifel; aber die Leute im Zuschauerraume wurden ungeduldig und riefen:
»Weiter machen! – Vorwärts! – Wir wollen das angefangene Stück.«