Franz Rosenzweig

Zweistromland


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zugrunde, als ob hier, abgesehen von den äußeren organisatorischen Mißständen, hauptsächlich nur die Schwierigkeit bestünde, die für den christlichen Religionsunterricht allerdings die eigentliche ist: die Schwierigkeit, eine Entwicklung des Gemüts durch, man mag sich stellen wie man will, immer letzthin lehrhafte Mittel, kurz gesagt durch Beeinflussung des Verstandes zu erreichen. In Wahrheit ist aber das Problem des jüdischen Religionsunterrichts ein ganz anderes. Es geht nicht um die Schaffung eines gefühlsmäßigen Mittelpunkts für den Kreis der Weltdinge, in den die übrigen Lehrfächer den Schüler einführen, sondern um nichts Geringeres, als um die Einführung in eine eigene, der übrigen Bildungswelt gegenüber wesentlich selbständige „jüdische Sphäre“. Diese Sphäre ist für die hier in Frage kommenden Teile der deutschen Judenheit, die den bewußt jüdischen Charakter des Hauses allermeist schon in einer der letzten drei Generationen preisgegeben haben, einzig noch gegeben in der Synagoge. Die Aufgabe des Religionsunterrichts kann hier also nur die sein, zwischen den Institutionen des öffentlichen Gottesdienstes und dem Einzelnen die von selber, d. h. „von Haus aus“, überhaupt nicht mehr vorhandene Fühlung herzustellen.

      Die Aufgabe erscheint zunächst, dem hohen Begriff einer „religiösen Erziehung“ gegenüber, kleinlich und beschränkt. Wer aber eine Vorstellung davon hat, wie sehr unsere gottesdienstlichen Einrichtungen Filter und Sammelbecken zugleich bedeuten für alles, was sich in unserer dreitausendjährigen Geistesgeschichte im innersten jüdischen Sinn als fruchtbar und kräftig erwiesen hat, der wird wissen, daß in dem scheinbar eng gezogenen Kreis der Aufgabe alles Wünschbare beschlossen ist. Mag, um bei den literarischen Zeugnissen zu bleiben, mag das biblische Schrifttum des Altertums Quelle und Grund alles lebendigen Judentums sein, mögen wir im talmudischrabbinischen der späteren Zeit seine Enzyklopädie, in dem philosophischen seine feinste Sublimierung sehen, – Extrakt und Kompendium, Handbuch und Gedenktafel dieses ganzen geschichtlichen Judentums bleiben dennoch der Siddur und die Machsorim. Wem diese Bände kein versiegeltes Buch bedeuten, der hat das „Wesen des Judentums“ mehr als erfaßt, er besitzt es als ein Stück Leben in seinem Innern, er besitzt eine „jüdische Welt“.

      Dies Wort wird uns weiter führen. Er kann eine jüdische Welt besitzen, aber ihn umfängt in jedem Fall eine andere, eine unjüdische. Am zweiten, an der Tatsache, ist nichts zu ändern, soll wenigstens nach dem Willen unserer Mehrheit nichts geändert werden; das erste, die Möglichkeit, soll nach dem Willen dieser selben Mehrheit wirklich, aufs neue wirklich werden. Aber eine Welt „besitzen“ bedeutet nicht: sie innerhalb einer anderen, die den Besitzer selbst umschließt, besitzen; so ist es für den Deutschen möglich, eine fremde, antike oder moderne Kultur zu besitzen, eben weil und insofern sie der Gesamtwelt, die ihn umschließt, gleichfalls angehört; deswegen wird er sie, ohne aus seiner eigenen Welt herauszutreten, sich aneignen können, etwa auch ohne ihre Sprache zu verstehen; denn er wird sie, geistig verstanden, immer nur in einer Übersetzung aufnehmen, nämlich eben übersetzt in die „Sprache“ seiner Welt; und alte wie neue Erfahrung zeigt, daß es durchaus nicht gerade die Sprachkenner im Wortverstande sind, die fremde Kulturen in diesem Sinne „besitzen“. Anders, ganz anders bei unserer Frage. Zwar gehört die Welt, die hier anzueignen ist, in gewissem sehr bedeutendem Sinn auch zu den Grundkräften der umgebenden Welt, aber gerade in diesem Sinne soll sie hier nicht angeeignet werden. Nicht als Vorstufe, nicht als Element jener anderen umschließenden Welt dürfen wir unsere ureigene jüdische Welt erfahren. Ein jeder andere darf und soll das, wir nicht. Uns ist das Judentum mehr als eine Kraft der Vergangenheit, eine Merkwürdigkeit der Gegenwart, uns ist es das Ziel aller Zukunft. Weil aber Zukunft, darum eine eigene Welt; unbeschadet und ungeachtet der Welt, die uns umgibt. Und weil eine eigene Welt, darum auch in der Seele des Einzelnen verwurzelt mit einer eigenen Sprache. Der Deutsche, auch der Deutsche im Juden, kann und wird die Bibel deutsch – luthersch, herdersch, mendelsohnsch – lesen; der Jude kann sie einzig hebräisch verstehen. Und mag hier noch ein Nebeneinander von Möglichkeit gelten, eben weil hier der gemeinsame Besitz der beiden liegt, – für die Sprache des jüdischen Gebets gilt es ganz zweifellos und eindeutig: sie ist unübersetzbar. So wird es hier nie sein Bewenden haben können mit der Vermittlung des literarischen Stoffs; das Schulzimmer wird immer nur der Vorraum sein, aus dem der Weg zur Teilnahme am Kult der Gemeinde führt. Das lebendige tätige Verständnis des Gottesdienstes ist der Faden, an den kristallgleich sich ansetzen kann, was dem Judentum zu seiner Fortdauer allezeit nottut: eine jüdische Welt.

      Von solchen Voraussetzungen aus sei nun zunächst ein Bild entworfen, wie dieser Unterricht sich gestalten und gliedern möge. Nicht daß ich dächte, hier irgend Endgültiges zu geben; aber nur eine entschlossen einseitige, wenn auch bloß vorläufige, Wahl zwischen dem Mancherlei des Möglichen kann die Deutlichkeit gewährleisten, die zur Verständigung erforderlich ist. Das Bild gehe voran; alles was zu seiner Verwirklichung unter den heutigen Umständen gehört – und wir werden sehen, daß es nichts Geringes ist –, wird ihm folgen.

      Wir legen zunächst weiter nichts zugrunde als das, was bisher schon ziemlich allgemein besteht: zwei Wochen –, also 80 Jahresstunden und eine neunjährige Schulzeit vom neunten bis achtzehnten Lebensjahr. Eine erste sehr wichtige Neuforderung rein äußerlicher Art, die einzige, die wir unter allen Umständen dem bestehenden öffentlichen Schulwesen gegenüber durchsetzen müssen, wird gleich genannt werden. Da weiter das deutsche Schulwesen schwerlich so bald eine allgemeine innere Umgestaltung erfahren wird, so setzen wir die jetzt bestehende höhere Schule voraus, in der, was hier vor allem in Betracht kommt, gleich im ersten Jahr eine Fremdsprache gelehrt wird. Wir nehmen ferner an, daß der Sextaner von der Vorschule her höchstens eine gewisse Kenntnis der „biblischen Geschichte“ mitbringt, so daß also unser Unterricht ziemlich voraussetzungslos beginnen muß. Das Rückgrat des Unterrichts auf Sexta und in den folgenden Jahren wird dann jene Ordnung sein, in der sich die Selbständigkeit der jüdischen Welt heut am sinnfälligsten ausdrückt: der jüdische Kalender, das eigene „Kirchenjahr“. Indem das Kind in die jüdische Woche und das jüdische Festjahr eingeführt wird, kann ihm hier anschließend eine Reihe der wichtigsten kultischen Gebräuche erklärt werden und wieder im unmittelbaren Anschluß an diese eine Darstellung der biblischen Geschichte in ganz frei aus Schrift und Agada geschöpften Einzelbildern folgen. Was die Pesachhagada in der Zeit ihrer Entstehung geleistet haben muß, das oder etwas Ähnliches hat hier der Lehrer im Zusammenhang der Behandlung des Sabbats und der Festtage zu geben. Vollständigkeit verschlägt dabei wenig, auf die Lebendigkeit allein kommt es an. Es ist unnötig und auch kaum möglich, im einzelnen Vorschriften zu geben. Ganz sachte und allmählich, noch möglichst ohne grammatische Erklärungen, rein nach der alten schlecht und rechten Weise des Wort-um-Wort-Übersetzens sind diesem Unterricht von Anfang an kleine hebräische Stücke beizugeben; es genügt, wenn der Schüler im ersten Halbjahr Teile vom Sch’ma, die Eingangs- und Schlußgruppe der Sch’mone esre, einzelne Segenssprüche insbesondere aus der Feier des Freitagabends, einiges aus den Stücken beim Aus- und Einheben, und, je nachdem es ein Sommer- oder Winterhalbjahr ist, kleine Hauptstücke zu den betreffenden Festen, sei es ein Stück Moaus Zur, sei es das Mah nischtanno, die Zehn Worte, die Akeda, das Owinu malkenu in dieser primitivsten Weise „übersetzt“ hat. Daß nicht gleich mit dem weit rationelleren grammatischen Verfahren begonnen wird, hat einen doppelten Grund. Einmal empfiehlt es sich, die natürlichen Schwierigkeiten der ersten Fremdsprache möglichst schon im allgemeinen Unterricht überwunden sein zu lassen und nicht den Religionsunterricht damit zu belasten. Ferner aber hat jene überlieferte Weise trotz ihrer Umständlichkeit und der geringen Dauerhaftigkeit ihrer Ergebnisse den einen gar nicht zu unterschätzenden Vorzug, daß das Kind hier in die heilige Sprache nicht als in ein totes grammatisches Lehrgebäude, sondern gewissermaßen wie in eine lebendige Sprache, durch den Gebrauch, eingeführt wird und daß dem grammatischen Unterricht schon ein gewisser Vorrat von Belegen zur Verfügung steht. Eben dies ist ja der Unterschied vom grammatischen Betrieb der eigenen und der fremden Sprache, daß in dieser der Schüler von der Regel zur Anwendung, in jener hingegen von der Anwendung zur Regel fortschreitet. So ist es unser Wunsch, daß der Schüler etwa beim Erlernen der Konjugation sich an den schon, wenn auch grammatisch unverstanden, seinem Gedächtnis einverleibten Sprachschatz erinnern kann, also etwa, um im Rahmen der oben gegebenen Beispiele zu bleiben, der Reihe nach an: „der ich dich herausgeführt habe“, „und du sollst lieben“, „der uns gegeben hat“, „wir haben gesündigt“, „und dienet fremden Göttern“, „da gingen sie beide zusammen“.