Franz Rosenzweig

Zweistromland


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wenn sie in einer Fakultät eine sichtbar erhöhte geistige Vertretung besäße. An inneren Schwierigkeiten sollte der Plan am wenigsten scheitern. Die Zwiefachheit der religiösen „Richtungen“ wäre sicher zu überbrücken; man müßte nur von vornherein für jedes Fach eine Doppelbesetzung vorsehen, also um einmal die geringste Fächerspaltung zugrunde zu legen: je zwei Ordinariate für biblisches, rabbinisches, philosophisches Schrifttum; ganz von selbst werden sich die beiden Fachvertreter innerhalb der Fachgrenzen wieder verschiedenen Hauptgegenständen zuwenden, und während der „liberale Bibelforscher“ Pentateuchkritik treibt, wird sein „orthodoxer“ Kollege die Entwicklung der Exegese behandeln; während der „liberale“ Professor für Rabbinismus sich den Talmud selbst als sein Forschungsgebiet ausgewählt hat, wird der „orthodoxe“ sich auf die Kodifikatoren werfen; während der „liberale“ Philosoph systematische Religionswissenschaft vorträgt, wird der „orthodoxe“ über die mittelalterliche Blütezeit arbeiten. So wird sich eine Arbeitsteilung trotz der Doppelprofessuren irgendwie von selbst ergeben – einfach durch die Weitläufigkeit des Gebiets. Eine nicht zu geringe Zahl von Extraordinarien würde daneben zum mindesten die Behandlung der sozial- und sittengeschichtlichen Gebiete sowie der sprachlichen Hilfswissenschaften sichern; nicht bloß das talmudische Aramäisch würde hier trotz der philosophischen Fakultät seinen Platz finden, sondern auch gewisse Spezialitäten des Arabischen, etwa philosophische Terminologie. Wenn ferner der orthodox-liberale Gegensatz als der geistige Gegensatz, der er ist, Berücksichtigung und Ausgleich verlangt, wie er ja auch auf dem Gebiet der Gemeindeverwaltung solchen Ausgleich im wesentlichen gefunden hat, so ist der andere Gegensatz unserer Epoche, der jenen ersten schneidet, der zwischen Konfessions- und Nationaljudentum, als ein wesentlich politischer hier schlechthin zu ignorieren; die Frage nach der Partei muß verboten sein – das ist das innere Toleranzprinzip unserer theologischen Fakultät. Schwierigkeiten ferner, die sich aus dem Verhältnis zu den Rabbinerbildungsanstalten ergäben, würden sich bei gutem Willen wohl heben lassen. An all dem dürfte das unendlich wichtige Werk nicht scheitern. Die Mittel dafür unter uns zusammenzubringen würde nicht schwer sein. Zweifelhaft aber bleibt, trotz allerlei freundlicher Worte, die Zustimmung der Regierung. Darum sei hier die ganze Angelegenheit zurückgestellt; wir rechnen also mit den technisch ja genügenden bestehenden Vorbildungsanstalten für Rabbiner; ihnen möge auch die Bildung der Lehrer anvertraut werden; sie werden sich der neuen Aufgabe anpassen. Dann aber erhebt sich die große Frage: was weiter?

      Es ist nicht genug, daß das Rabbinerseminar uns fertig vorgebildete Lehrer entläßt. Es wurde schon auseinandergesetzt, daß wir nicht bloß Lehrer brauchen, sondern auch arbeitende Gelehrte, eine Gruppe von Hunderten, die, unbeschwert von den äußeren und vor allem den inneren Pflichten des geistlichen Amts, der jüdischen Wissenschaft die nötige Breite der Produktionsmöglichkeiten geben werden. Und beides, der Lehrer und der Gelehrte, müssen die gleiche Person sein. Auch seine materielle Existenz muß auf beiden Seiten seiner Arbeit beruhen. Und was wir hier fordern, ist rein auf dem Wege der Selbsthilfe zu verwirklichen, ohne ein Nachsuchen um staatliche Mitwirkung. Freilich sind die erforderlichen Mittel nicht gering, ein Vielfaches der Summe, aus der eine Fakultät erhalten werden könnte. Wir brauchen nicht mehr und nicht weniger als dies: eine Akademie für Wissenschaft des Judentums. Sie muß von vornherein in einem Maßstab angelegt sein, gegen den die Ansätze, die jetzt schon bestehen, winzig erscheinen; denn ihr Zweck ist eben nicht bloß die Organisation wissenschaftlicher Arbeit, bei der schließlich die zulässige untere Grenze des Umfangs ziemlich niedrig angesetzt werden darf, weil eine kleine Leistung eben auch eine Leistung ist. Sondern sie bezweckt zugleich die geistige und materielle Zusammenfassung der gesamten höheren Lehrerschaft, also einer Gruppe von, um einmal eine Zahl zu nennen, mindestens 150 wissenschaftlichen Arbeitern. Damit ist also ein Stammkapital für mindestens 150 Stipendien von, sagen wir, 2500 Mark notwendig, für die sich die Empfänger zur Mitarbeit an einer der Unternehmungen der Akademie verpflichten. Diese Unternehmungen werden geleitet von den Mitgliedern; im Falle des Vorhandenseins einer Fakultät wären die Mitglieder ohne weiteres der Stamm der Mitglieder der Akademie, die sich dann durch Selbstergänzung entsprechend den wachsenden Aufgaben vermehren würden; anderenfalls müßte dieser Akademikerstamm aus den Dozenten der Rabbinerseminare als gewählter Ausschuß hervorgehen, der dann ebenfalls durch Selbstergänzung wachsen würde. Die nötige Summe würde sich wohl mindestens auf 10 Millionen belaufen, also ungefähr ein Jahresetat der gesamten jüdischen Gemeinden Deutschlands oder auf die Kopfzahl umgerechnet eine Aufwendung, die dem deutschen Wehrbeitrag von 1913 entspricht. Man könnte tatsächlich versuchen, sie nach diesem Muster als „einmaligen Lehrbeitrag“, etwa auch mit dreijähriger Zahlungsbefristung, durch freiwilligen Zusammentritt der Gemeinden aufzubringen; es wäre nicht der schlechteste Nebenerfolg, wenn bei dieser Gelegenheit in Form eines Zweckverbandes der Zusammenschluß der deutschen Gemeinden so aus ihrem eigenen Antrieb sich herstellte. Der andere Weg wäre der bei uns übliche, der durch Sammlung; es wäre nicht unbillig, wenn Stiftungen des Einheitskapitals von 50 bzw. (bei 4 %) 60 000 Mark auf ewig ausgezeichnet blieben und die aus dieser Quelle gespeisten Veröffentlichungen auf dem Titelblatt den Zusatz erhielten, zu wessen Erinnerung die betreffende Stiftung gemacht worden.

      Die Inhaber nun dieser Stipendien müssen nicht, aber werden eine Anstellung als Lehrer im Gemeindedienst suchen. Die Gemeinde wird für die achtzehnstündige Lehrtätigkeit ein Gehalt zu bezahlen haben, das freilich immer noch den jetzigen Unterrichtsaufwendungen gegenüber sehr erheblich, andrerseits aber gegenüber dem, was Staat und Stadt dem höheren Lehrer zahlen, gering ist; angenommen, sie zahlt 2500 Mark, so sind damit für die Akademiestipendiaten Stellen von 5000 Mark geschaffen, in Anbetracht des Umstands, daß diese Stellen vor Mitte der 20er Jahre erreicht werden können, ein geradezu glänzendes Auskommen. Für die Gemeinde aber werden die ungewohnt hohen Ausgaben für einen Lehrer sich auch noch außerhalb der Schule lohnen; so wird sich auch die Übernahme des Gehalts eines nur für die höheren Schulen bestimmten Lehrers rechtfertigen, obwohl ohnehin schon bei unserer sozial vorbildlichen Steuerverteilung die Gemeindelasten wesentlich auf die Schultern derer fallen, die ihre Söhne auf die höhere Schule schicken. Auch abgesehen davon also werden sich diese Gemeindeaufwendungen rechtfertigen und lohnen. Suchen wir uns die Stellung des neuen Lehrers einmal vorstellig zu machen.

      Er wird neben dem Rabbiner selbständig, theologisch gleichwertig vorgebildet dastehen. Er wird aber anders als dieser, wenigstens anders als dieser in den meisten Fällen, durch seine Arbeit für die Akademie dauernd unter dem befruchtenden Einfluß eines bedeutenden wissenschaftlichen Betriebes stehn. Er wird, da seine Lehramtspflichten, verglichen mit denen eines Oberlehrers, ihn zeitlich wenig und überdies nur nachmittags in Anspruch nehmen, in ganz andrer Weise für wissenschaftliche Tätigkeit frei sein. Seine äußere Stellung wird weniger auf der örtlichen Lehrertätigkeit beruhen, als auf der Zugehörigkeit zu einer großen, das ganze Reich, ja vielleicht, je nach Entwicklung der europäischen Dinge im Friedensschluß, das ganze Mitteleuropa umschließenden gelehrten Körperschaft. Als Mitarbeiter dieser Akademie wird er das jüdische Vortragswesen innerhalb der Gemeinde teils selbstwirkend, teils organisierend in die Hand nehmen und in die Literaturvereine den frischen Luftzug eines großen wissenschaftlichen Lebens hineinwehen lassen; auch die Gemeinden der umliegenden Landstädte wird er durch gelegentliche Veranstaltungen mitberücksichtigen; im Laufe der Jahre wird sich aus seiner eigenen Schülerschaft ein lebendig interessiertes weiteres Publikum hervorbilden. Gemeindebibliotheken mit anheimelndem viel besuchtem Leseraum nach dem bisher unerreichten Vorbild Berlins werden sich überall entwickeln; um so leichter, da schon heute hier weniger die äußere Möglichkeit, als der Wille und Antrieb dazu fehlt; denn schon heute würde es an vielen Orten nur der mutigen Zusammenfassung der verstreut vorhandenen Büchervorräte und Anschaffungsfonds sowie der geschickten Einrichtung von Bibliotheksstunden mit teilweis ehrenamtlichem Aufsichts- und Ausleihdienst bedürfen, um, wenn auch zunächst in bescheidenerem Maßstab, das Berliner Muster nachbilden zu können. Der Lehrer wird ferner das geistige Leben der Gemeinde wirksamer, als bisher dem Rabbiner meist möglich war, nach außen repräsentieren; er wird in der durchschnittlichen universitätslosen mittleren Großstadt schon als „Orientkenner“ zu dem kleinen Kreise der wissenschaftlichen Lokalkoryphäen gehören; seine Stellung, eben gerade weil nicht auf der örtlichen Amtstätigkeit allein beruhend, wird insofern neben dem Galerie- oder Museumsdirektor, dem Vorsteher der Stadtbibliothek, etwa einem oder dem anderen Gymnasiallehrer oder wissenschaftlich interessierten Pfarrer, dem künstlerischen Leiter