es unmöglich ist, das Ganze anders zu erschwingen, als indem man bescheiden beim Nächsten ansetzt, so gilt es doch nun auch umgekehrt, daß es dem Menschen unmöglich ist, das Ganze, das ihm bestimmte Ganze, nicht zu erreichen, wenn er nur wirklich die Kraft zu jenem schlichten, bescheidensten Anfang gefunden hat. Wer einmal sich frei gemacht hat von all jenen albernen Ansprüchen, die ihm das Juden- „tum“ als einen Kanon von bestimmten, abgrenzbaren „jüdischen Pflichten“ – Vulgärorthodoxie –, oder „jüdischen Aufgaben“ – Vulgärzionismus –, oder gar (Gott behüte!) „jüdischen Ideen“ – Vulgärliberalismus – aufdrängen wollen, wer sich ganz einfach bereit gemacht hat, alles was ihm begegnet, von außen und von innen begegnet, seinen Beruf, sein Deutschtum, seine Ehe, und meinetwegen auch, wenn es denn sein muß, sein Juden- „tum“, sich jüdisch begegnen zu lassen, der darf die Gewißheit haben, daß er mit der einfachen Aufsichnahme dieser grenzenlosen „Bürgschaft“ auch wirklich „ganz Jude“ werden wird. Ja, es ist kein andrer Weg, es ganz zu werden. Auf keinem andern Weg entsteht der jüdische Mensch. Alle Rezepte, das orthodoxe wie das zionistische wie das liberale, erzeugen, je rezeptmäßiger sie befolgt werden, um so lächerlichere Karikaturen von Menschen. Und eine Karikatur von Mensch ist auch eine Karikatur des jüdischen Menschen; man kann als Jude das eine nicht vom andern lösen. Es gibt nur das eine Rezept, das den Menschen zum jüdischen und damit, da er Jude ist und also zum jüdischen Leben bestimmt, zum wahren Menschen macht: das Rezept der Rezeptlosigkeit, so wie ichs eben mit – ich fühls! – schwachen Worten zu stammeln versuchte. Unsre Alten haben ein schönes Wort dafür gehabt, worin alles steckt: Vertrauen.
Vertrauen ist das Wort der Bereitschaft, der Bereitschaft, die nicht nach Rezepten fragt, nicht ein „Was soll ich denn nun dann“ und „Wie mache ichs denn“ zwischen den Zähnen hat. Vertrauen erschrickt nicht vor dem Übermorgen. Es lebt im Heute, es geht mit sorglosem Fuße über die Schwelle, die aus dem Heute ins Morgen führt. Vertrauen weiß nur vom Nächsten. Und gerade deshalb gehört ihm das Ganze. Vertrauen geht nur geradeaus. Aber ihm rundet sich unvermerkt die dem Ängstlichen ins Unendliche sich verlierende Straße zum ganz durchmeßbaren und doch unendlichen Kreis.
So brauchts zum jüdischen Menschen nichts als Bereitsein. Wer ihm helfen will, kann ihm nichts geben als die leeren Formen des Bereitseins, leere Formen, die sich von selber und nur von selber füllen dürfen. Wer ihm mehr gibt, gibt ihm weniger. Nur die leeren Formen, in denen etwas geschehen kann, lassen sich bereithalten, nur – „Raum und Zeit“. Wirklich nichts andres als dies: ein Sprechraum, eine Sprechzeit. Das ist das einzige, was sich vorweg „organisieren“ läßt. Also sehr wenig. Sozusagen gar nichts. Unsre neuen jüdischen Zeitschriften, die in den letzten Jahren mehr und mehr einen sprechsaalhaften Charakter annahmen, haben dies Bedürfnis fein herausgefühlt. Sie sind so, insbesondere die beste, der Bubersche Jude, wirklich Mächte in unserem Leben geworden, vielleicht die lebendigsten überhaupt. Die jüdische „Volkshochschulbewegung“ – ein schlechtes Wort, weil es eine unzutreffende Vergleichung mit der deutschen Volkshochschulbewegung heraufbeschwört, die doch ganz andersartige Ziele verfolgen muß – diese neueste und vielleicht wichtigste Bewegung im heutigen deutschen Judentum, muß sich klar werden, was sie will. Sie kann den Weg gehen, den die Berliner Gründung nicht ohne äußern Erfolg beschritten hat: sie kann unter Ausnutzung des schrankenlosen Vortragshungers des Großstadtpublikums versuchen, die ungeheure Lücke im jüdischen Bildungswesen zu stopfen, nachzuholen, was der „Religions“-Unterricht versäumte, was die Universität nicht bietet. Dann wird sie nach Möglichkeit ein komplettes System von Kursen anbieten müssen, einen Lehrplan möglichst enzyklopädischen Charakters, kurzum – Bildung. Und sie wird dann letzten Endes, wie heute die Dinge liegen, beim besten Willen, den sie – im Gegensatz zu dem verkümmerten Unterricht – sicher hat, eben nur Ersatz werden für etwas, was normaler Weise an andrer Stätte gegeben werden sollte und was dort nicht gegeben werden kann, weil die lebendige Kraft fehlt, an der die endlose Bücherwelt der Bildung ihr Ende erfahren müßte und aus der sie daher allein ihren lebendigen bücherlosen Anfang nehmen könnte: der Mittel- und Keimpunkt für das jüdische Leben des jüdischen Menschen.
Oder sie versucht, dieser Punkt zu werden. Sie versucht, die Form, gewiß nur die leere, erste, – nächste Form für ein solches Leben zu sein. Sie versucht, Anfang zu sein. Statt ein planvoll inhaltlich durchgeführtes Ganzes hinzustellen, dem sich die Wißbegierigen nähern, um es schrittweise zu durchmessen – gleichwie auf Universitäten ein im ganzen fertiges, im einzelnen werdendes Gebäude einer Wissenschaft dem Schüler gegenübersteht, etwas was nicht er selber ist, sondern etwas worin er sich heimisch machen will und soll – statt ein solches Ganzes hinzustellen, macht sie sich bescheiden zum bloßen Anfang, zur bloßen Gelegenheit anzufangen. Und sie fängt an mit ihrem eigenen bloßen Anfang: mit Sprechraum und Sprechzeit.
Wie denn? Weiter nichts? Ja, weiter nichts. Man habe einmal „Vertrauen“. Man verzichte einmal auf alle Pläne. Man warte einmal ab. Es werden Menschen kommen, Menschen, die eben dadurch, daß sie ins Sprechzimmer der jüdischen Volkshochschule – wer gibt ein besseres Wort?! – kommen, schon bezeugen, daß in ihnen der jüdische Mensch lebendig ist. Denn sonst kämen sie nicht. Man biete einmal zunächst – garnichts. Man höre. Und aus dem Hören werden Worte wachsen. Und die Worte werden zusammenwachsen und werden zu Wünschen. Und Wünsche sind die Boten des Vertrauens. Wünsche, die sich zusammenfinden: Menschen, die sich zusammenfinden: jüdische Menschen – und man versucht, ihnen zu schaffen, was sie verlangen. Ganz bescheiden auch dies. Denn wer weiß, ob solche Wünsche – gewachsene, wirkliche Wünsche, nicht nach irgend einem Schema von Bildung künstlich gezüchtete – ihre Erfüllung finden können. Aber wer es versteht, die Stimme solcher wirklichen Wünsche zu hören, der wird vielleicht dann auch verstehen, ihnen den Weg zu weisen, auf den sie verlangen. Das wird das Schwerste sein. Denn der Lehrer, der solchen gewachsenen Wünschen entgegenkommen kann, darf ja so gar nicht Lehrer nach irgend einem Schema sein; er muß viel mehr sein und viel weniger: ein Meister zugleich und zugleich ein Schüler. Es genügt garnicht, daß er selber „weiß“, noch daß er selber „lehren kann“. Er muß etwas ganz andres „können“: selber – wünschen. Lehrer muß hier sein, wer „wünschen kann“. Im gleichen Sprechzimmer und in der gleichen Sprechstunde, wo sich die Schüler finden, werden auch die Lehrer entdeckt werden. Und es wird vielleicht der Gleiche in der gleichen Sprechstunde als Meister und als Schüler erkannt. Ja eben erst wenn dies geschieht, ist es ganz gewiß, daß er zum Lehrer taugt.
Voraussetzung ist, daß der Sprechraum ein einziger Raum ist, ohne ein – Wartezimmer. Die Sprechstunde muß „öffentlich“ sein. Wer kommt, wartet im Sprechraum selbst. Er wartet, bis für ihn der Augenblick kommt, wo er mitspricht. Die Sprechstunde wird zum Gespräch. Wer sich da findet und will sein Gespräch allein mit dem andern fortsetzen, der kann sich verab-reden. Die Sprechstunde führt jeden mit jedem zusammen. Denn sie vereinigt jeden mit jedem in dem, was jeder mit jedem gemein hat: das noch so keimhafte, noch so verborgene Bewußtsein, jüdischer Mensch zu sein. Daß er sich daraufhin mit andern zusammenfinden kann, daß er – gemeinsam wünschen kann, das wird ihm zum Erlebnis werden, auch wenn es geschieht, daß der Wunsch ohne Erfüllung bleibt. Denn damit ist zu rechnen. Genau wie beim umgekehrten, beim „Berliner“ System es sein kann, daß Vorlesungen aus Mangel an Beteiligung nicht zustandekommen, so muß es hier geschehen können, daß Wünsche aus Mangel eines Lehrers unbefriedigt bleiben. Das schadet nichts. Denn so tot eine Vorlesung bleibt, die bloß als Vorlesungsanzeige im Programm stand – denn sie bleibt in der Absicht eines Einzelnen stecken –, so lebendig ist ein gemeinsamer Wunsch, der unerfüllt bleibt, denn er verbindet viele. Und darauf, eigentlich nur darauf, kommt es an: auf die Lebendigkeit.
Eben die „Öffentlichkeit“ der Sprechstunde verbürgt sie uns. Denn diese Öffentlichkeit ist eine mörderische Atmosphäre für die Macht des Todes, die unsrer deutschen Judenheit und – ehrlich gesprochen – insbesondere der nichtzionistischen im Nacken sitzt: das Bonzentum. Alle jene Verbonzten und alle, die es werden wollen, jene jungen und alten Greise, sie werden sich einfach nicht hinwagen. Denn hier wird gefragt. Und sie wollen Kundgebungen. Hier wird gezweifelt. Und sie wollen Programme. Hier wird gewünscht. Und sie wollen Forderungen. Der Bonze wird sich genau so wenig unter die Schüler verirren – es sei denn, er „kehre um“ und tue sein Mandarinenkleid von sich – wie der Vortragslöwe unter die Lehrer. Es ist genug gebrüllt. Das Vortragskatheder ist